Dienstag, 17. Oktober 2017

ELEKTRO-AUTOS: WANN LADEN WIR ENDLICH ZUKUNFT?



REUTLINGEN oder die Stadt der Zukunft (Teil 5)
IM WECHSEL-STROM DER ZEIT
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Sieben öffentliche Ladestationen kennt Reutlingen, Metzingen hat drei, Münsingen hat fünf. Ulm aber, in Größe und Bedeutung vergleichbar mit Reutlingen, hat bereits 94 Ladestationen, Stuttgart 375, Berlin ist mit 536 Staionen Spitzenreiter. Wenn die Zahlen nicht stimmen, dann liegt das daran, dass die Informationen, die das Internet bietet, einfach nur verwirrend sind. Aber so ist die ganze Situation "Elektromobilität". Wer nicht verwirrt ist, hat hier überhaupt nichts verstanden. Und aus dem, was sich in meiner Verwirrung angesammelt hat, versuche ich zu schreiben. 
Bildtext. Die Zukunft einer Stadt entscheidet sich an den Stellen, die keiner sieht: in der Infrastruktur - gesehen 2014 bei der Erneuerung der Wilhelmstraße. Liegt im Untergrund unsere Zukunft begraben? 

Es fängt damit an, dass alles, was kein "E" hat, eh nichts taugt. Solange sich die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) so nennt, wie sie ist und 1949 übrigens als Motormesse ihren Anfang in Reutlingen nahm und nicht in Frankfurt, solange ist das wohl eine "Old-School-Messe", wie sie von Kurt Sigl, Präsident des Bundesverbandes eMobilität genannt wurde. Die Automobilhersteller sollten aufhören, nur Showmodelle der Elektromobile zu zeigen, meint er. Die seien einfach nicht mehr "das Gelbe vom Ei". Wo aber ist dann das neue Zentrum der E-Mobilität?
Wahrscheinlich zuhause. In der Garage. An der Laterne. Überall. 100.000 Autos, die vom Stoff leben, der aus der Steckdose kommt, gibt es nach Aussage von Elke Temme, Senior Vice President für eMobility bei Innogy, in Deutschland. Hatte ich das richtig verstanden? Faktencheck: 34000 Elektroautos seien es zu Beginn des Jahres gewesen, liest man etwa im "Kölner Stadt Anzeiger". Da fehlt ja nicht mehr viel bis zu der Zahl von einer Million, die sich unser Land für 2010 vorgenommen hat, möchtest Du mit beißender Ironie feststellen - wohlwissend, dass Du selbst auch nichts zum Erreichen dieses Ziels beigetragen hast.
Gesehen 2014 in Aachen
An den fehlenden Möglichkeiten, Dein Auto aufzuladen, liegt es nicht. Denn Du könntest zuhause die Voraussetzungen schaffen. 80 Prozent der Ladevorgänge finden hier oder beim Arbeitgeber statt, weiß die Innogy-Vizepräsidentin Temme zu berichten. Da brauchst Du noch nicht einmal einen Schnelllader. Der Handel hat natürlich auch erkannt, dass er mit dem Laden der Batterien etwas für die Kundenbindung tun kann - und sogar davon profitiert. Bei IKEA hat niemand etwas dagegen, wenn der Kunde zwei Stunden warten muss, bis er weiterfahren kann. Ähnlich ging es den Discountern. "Jede Minute beim Laden bringt einen Euro im Laden", meint Innogys Temme. "Das ist statistisch berechnet." Es muss also nicht immer der Schnelllader sein aus Sicht von Aldi...
Aber manchmal doch. So berichtet der Präsident des Bundesverbandes eMobilität, Kurt Sigl, dass ein Skandinavier auf einer Reise von Oslo nach Stuttgart vier Tage gebraucht hat, um durch Deutschland zu kommen. Er hatte ein Gefährt, dessen Batterien nur eine Reichweite von 120 Kilometer zulässt. Keine Probleme mit dem Aufladen hatte er bei seiner Fahrt durch die nordischen Länder. Doch ab Hamburg wurde es schwierig - vor allem stellte der E-Freund sehr bald fest, dass man 40 Ladekarten braucht, um überhaupt an den Stationen zahlungsfähig zu sein.
Eigentlich eine Schande für ein Land, in dem das Auto erfunden wurde.
Der Hybridbus: Gesehen in Stuttgart
Da erinnerte Professor Martin Wietschel, der beim Fraunhofer-Institut das Geschäftsfeld Energiewirtschaft leitet, an die legendäre Fahrt der Berta Benz, die 1888 in aller Herrgottsfrühe von Mannheim aus aufbrach, um gemeinsam mit ihren Söhnen Eugen und Richard nach Pforzheim, ihrer Geburtsstadt, zu fahren. Mit dem "pferdelosen", Patent-Motorwagen ihres Mannes Carl Benz. Damit war der Beweis erbracht. Das Auto war mehr als eine Spielerei. Und das Spritproblem, wie haben sie das gelöst? "Benzin gab's in der Apotheke", berichtet Wietschel. So wurde die Stadtapotheke in Wiesloch die erste Tankstelle der Welt. Sie steht also in Baden-Württemberg, das übrigens mit 1500 Ladestationen nach Nordrhein-Westfalen in absoluten Zahlen an zweiter Stelle liegt. Das erste  richtige Tankhäuschen wurde erst 34 Jahre Später, 1922, errichtet. Es stand in Hannover. Wietschel wollte an diesem Beispiel deutlich machen, dass auch bei der Ausbreitung des Autos die Infrastruktur ihre Zeit braucht. 
Carsharing und Elektroauto: Gesehen in Berlin
Dass Infrastrukturen & Akzeptanz nicht über Nacht. gedeihen, dafür gibt es auch aktuelle Beispiele. Das Internet, in den 50er Jahren angedacht, 1969 erstmals gestartet, brauchte dann noch 25 Jahre, bis es als neues, allgegenwärtiges  Medium anerkannt wurde. Ähnlich war es beim Mobilfunk, von Motorola in den vierziger Jahren als Walkie-Talkie initiiert, dauerte es noch länger, bis das Handy in den 90er Jahren seinen Siegeslauf antreten konnte. Und die Idee des Smartphones, so wie wir es heute kennen, wurde vor 50 Jahren in einem Science-Fiction Roman geboren. 
Carsharing im Geschäft: Gesehen auf der "Start-up"-Messe in Stuttgart
So hatte Wietschel seinen Spaß daran, Optimisten und Pessimisten zugleich zu foppen. "Elektromobilität steigt in Deutschland jährlich um 45 Prozent, weltweit sogar um 60 Prozent", meinte er, um dann nachzusetzen: "Der Diesel wächst aber nur noch um neun Prozent." Und weil er schon beim Zahlenspiel war, berichtete er, dass 75 Prozent aller Autos in Gemeinden gemeldet sind, die weniger als 100.000 Einwohner zählen. Wahrscheinlich wollte er damit sagen, dass mit der Höhe der Verstädterung sich der Anteil der Autos vermindert. Übrigens ist in Baden-Württemberg der Verstädterungsgrad im Vergleich zu den anderen Flächenstaaten unter dem Durchschnitt. So ein Bericht der "Süddeutschen Zeitung" von 2010. Auch hier landen Versuche, besseres Zahlenmaterial zu bekommen, in der Verwirrung (und das ist jetzt vornehm ausgedrückt.)
Laut Wietschel fährt der Durchschnittsbürger 38 Kilometer pro Tag. Zehnmal im Jahr nimmt er Strecken, die ihn weiter als 100 Kilometer führen - all das sind Argumente, die für E-Mobilität sprechen, zumindest als Zweitwagen. Das Problem ist nur, so der Gelehrte, dass wir weitaus mehr Kilometer fahren müssten, um in Sachen Wirtschaftlichkeit an ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor heranzukommen. Ein Problem, das sich aber mit steigender Akzeptanz nivelliert, wie das Wirtschaftsmagazin The Economist am 17. Februar 2017 feststellte. Das weltweit hoch angesehene Blatt meint, dass zu Beginn der 20er Jahre der Aufwand bei Besitz und Betrieb eines Elektrofahrzeugs mit dem eines Verbrenners gleichziehen werde - und zwar ohne Subventionen. "Bei Kurierdiensten, die 80 Kilometer pro Tag und Fahrzeug leisten, rechnet sich das E-Auto", meint Wietschel. Privat seien aber noch die Anaschaffungskosten "eine Barriere".
Dennoch bahnen sich erdrutschartige Veränderungen ab. Zumindest weltweit, ob im Autoland Deutschland und in seiner Spezialform als Land Baden-Württemberg oder gar als Stadt Reutlingen ist schon eher die Frage. Dabei sieht Sigl besonders die Automobilfirmen in der Pflicht, die für ihn momentan "Lachnummern" abgeben. "Wir tun so, als müssten wir all das, was ansteht, noch erfinden." Das sei nicht so, sondern die Automobilindustrie habe die Entwicklung "total verpennt", um dann nachzusetzen: "Die Bürgermeister aber auch". 
Berliner U-Bahn-Station: So kann man auch mit seiner elektrischen Vergangenheit umgehen
Mehr und mehr beschleicht mich bei der Analyse meiner Mitschriften das Gefühl, dass gar nicht die Technologie das Problem darstellt, sondern - nennen wir es einmal - das publizistiche Obereigentum über die neuen Verhältnisse, die sich da entwickeln. Wenn es in Deutschland 40 Kartensysteme für die Bezahlung der Stromentnahme gibt, dann ist das fast schon ein Skandal - ein Kleingeist, der jeder Beschreibung spottet. "Ich kann in jedem Parkhaus mit Kredit- oder Bankkarte bezahlen, nur nicht beim Stromtanken." So etwa äußerte sich Sigl, der meint, dass es Deutschland hier seit sieben Jahren versäumt hat, auch gesetzlich initiativ zu werden. Selbst das Handy als moderne Kreditkarte werde da zum Hindernis, wenn der Benutzer sich zuerst eine App im Netz herunterladen muss und inklusive Registrierung und Initialisierung fünf bis sechs Minuten benötigt. 
Der ganz normale Stau: Gesehen in Berlin an einem Sommersamstag. Wer hat eigentlich das Eigentum an diesem Stau?
Zum Glück gibt's ja die Heimtankstelle, bei der eine "Wallbox" (Preis ab etwa 500 Euro) die Ladezeiten stark verkürzen kann. Dazu braucht man aber eine Garage oder ein Carport. Sicherlich könnte man dann diese Stationen mit anderen teilen, also mit Menschen aus Miet- und Eigentumswohnungen, die keinen Garagenplatz besitzen. Eine rechtliche Frage, die bis in das "Eichrecht" hineingeht, meint Temme, um untereinander abzurechnen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Deutsche Telekom, die gerade überprüft, ob sie ihre 300.000 multifunktionalen Verteilerkästen nicht auch als Ladestation nutzen kann. 
Wo nehmen die bloß all die Steckdosen her? Häuserzeile in Grenoble
Eigentlich könnte sich in diesem Zusammenhang jede Menge tun - auch in Reutlingen. Mit der Firma Bosch in der Mitte. Aber keiner der Teilnehmer kam von dieser Firma. Seltsam. Und von dem offiziellen Reutlingen war nur einer da. Dabei war die Zukunft noch nie so nah.
 Ich schreibe nach bestem Wissen und Gewissen. Für jede Korrektur bin ich dankbar. 

SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen? 
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (Text & Fotos)/Plakat: Sammlung Hermann Rieker / Titelbild "The Economist", Sammlung RV

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