Dienstag, 2. Januar 2018


Die Tübinger Straße im Wandel der Zeit

 

So mancher wird sich bei diesem Bild fragen: Das soll die Tübinger Straße in Reutlingen sein? Ja, das war das zentrale Mittelstück zwischen dem unteren Teil der Tübinger Straße und dem oberen Abschnitt, die heutige Konrad-Adenauer-Straße. Prägend war der stark befahrene Bahnübergang. (Man beachte die Automarken auf diesem Foto. Und an alle jungen Jägermeister-Fans: Den hatten wir damals auch schon -:). 

 Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner

Achse zwischen Reutlingen und Tübingen

Man muss zu den älteren Semestern gehören, um sich erinnern zu können, dass die Tübinger Straße einst das Bindeglied zwischen Tübinger Tor, Tübinger Vorstadt bis hin zum Bösmannäcker/Gminder war. Und wie ihr Name schon erahnen lässt, war sie bis weit ins das 19. Jahrhundert hinein die Hauptachse zwischen der Universitätsstadt Tübingen und Reutlingen - damals noch durchgehend einspurig, mit Pflastersteinen gebaut und umrahmt von alten Häuserzeilen. Durchschnitten wurde sie bis Anfang der 1970ziger Jahre von der Bahnlinie Tübingen-Plochingen-Stuttgart, abgesichert durch einen Bahnübergang mit Schrankenwärterhäuschen.

Der Bahnübergang vom Schrankenwärterhäuschen aus fotografiert. Heute befinden sich an dieser Stelle die Bahnsteige des Haltepunkts Reutlingen West. Wer noch Orientierungsprobleme hat: Das Eckhaus oben rechts steht heute noch. Beeindruckend ist, dass damals noch ein Abbiegen nach links (in damalige Hohenzollerstraße) ohne Ampelregelung möglich war.

 Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner


Genau über diesen Verkehrsabschnitt möchte ich heute ein paar Zeilen schreiben. Zum einen, weil kaum ein anderes Verkehrsprojekt in Reutlingen zu solch spür- und sichtbaren Veränderungen geführt hat: Von der Bahnlinie bis hin zum Tübinger Tor inklusive „Klein-Venedig“ gibt es kaum noch Spuren dieses ehemaligen Reutlinger Stadtviertels. Zum anderen ist es ein wesentlicher Teil meiner Kindheit, an die ich mich im Zusammenhang an die Tübinger Straße samt Bahnübergang so gerne erinnere. Seid somit eingeladen zu einem kurzen aber sicher lückenhaften Rückblick auf die einschneidenden Baumaßnahmen in diesem für viele unspektakulären Teil Reutlingens. (Wie wertvoll wäre eine Digitalkamera gewesen, die es freilich noch nicht gab. Somit kann ich nur auf wenige Aufnahmen und Zeitungartikel zurückgreifen, immer in der Hoffnung, dass irgendwann noch mehr Fotos darüber auftauchen). 


Das Schrankenwärterhäuschen im Jahr 1969 in der Tübinger Straße, dass bis 1975 in Betrieb war. Wie auch das Eckhaus mit dem Türmchen sowie die kleine Allee entlang der Blossstraße (heute Konrad-Adenauer-Straße) fielen dem Ausbau der B28 (Stadtautobahn) zum Opfer.

 Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner

Das Bahnwärterhäuschen aus einer anderen Perspektive. Und etwas Persönliches: Dank einer kurzen Freundschaft zum Bahnbeamten Adolf Wittel auf Jettenburg/Kusterdingen konnte ich in meinen ersten Kindheitsjahren viele Stunden und Tage im Schrankenwärterhäuschen verbringen. Gemeinsam mit ihm durfte ich die Schranken öffnen und schließen, die letzten Dampflokomotiven genießen und Fahrpläne studieren - es wird eine meiner schönsten Erinnerungen bleiben.

Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner

 

Zu den Anfängen

Doch zurück zu den Anfängen: Einst zogen die Menschen mit Handwägen und Pferdekutschen die Tübinger Straße stadtaus- und stadteinwärts, bis dann Anfang des 20. Jahrhunderts erste Automobile die Trasse nutzten. Nicht zu vergessen die Reutlinger Straßenbahn-Linie 1 von Betzingen nach Eningen, die von 1912 bis 1968 einen Teil der Tübinger Straße nutzte, um stadteinwärts kurz vor dem Bahnübergang in die Hohenzollernstraße, die viele von uns nur als Teil der heutigen Tübinger Straße kennen, abzubiegen.


Bis heute prägt das rechte Gebäude im Bild die Tübinger Straße gegenüber von der Haltestation Reutlingen West. Von hier aus ist der Verlauf in Richtung Betzingen nahezu derselbe wie heute und unverkennbar. Einige weitere Häuser haben die Jahrzehnte bis heute überlebt. Über Feinstaub haben sich die Menschen ganz sicher noch keine Gedanken gemacht. Die Gefahr in einen der unzähligen Pferdeäpfel zu treten war ungleich größer.

Bildertanz-Quelle: Werner Früh


Knapp 70 Jahre liegen zwischen diesem und dem letzten Bild. Im Laufe der Jahre wurden die Wartezeiten am Bahnübergang immer länger. Nicht selten stauten sich die Autoschlangen bis hin zum Bösmannsäcker und zum Tübinger Tor bzw. weit hinein in die Gustav-Werner-Straße und in die Lerchenstraße. 
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner


Das Eingangsfoto aus einer anderen Perspektive. Schön zu erkennen die alte E-Lokomotive, vermutlich Baureihe E 44, die gerade die Tübinger-Straße überquert.
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner 
 

Das Ende der alten Tübinger Straße naht ...

Doch das Verkehrsaufkommen durch Automobile wuchs und wuchs. Schon in den 1950er und 1960er Jahren kam es am Bahnübergang immer häufiger zu längeren für viele ärgerlichen Staus und Wartezeiten. Längst waren die Planungen für eine Entlastung dieses Knotenpunktes im Gang: Mit dem Bau einer Stadtautobahn zwischen Tübingen und Reutlingen sowie einer völligen Neuorganisation des Verkehrs an dieser Stelle und im angrenzenden Gebiet sollte das Problem gelöst werden. Das Ende sowohl des Bahnübergangs als auch der Tübinger Straße in ihrer ursprünglichen Form war besiegelt.


Die Sperrung des Gehwegs deutet darauf hin: Im Zuge der ersten Baumaßnahmen musste auch dieses Gebäude weichen. Heute steht hier die Esso-Tankstelle kurz vor der Abbiegung auf die Stadtautobahn Richtung Tübingen. Man kann es kaum glauben ...

Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner

 

Hier verläuft heute die Konrad-Adenauer-Straße Richtung Tübingen, vierspurig und mit hohem Verkehrsaufkommen. Einige der Häuser stehen noch.

Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner


Ab 1967 Jahre wurde mit dem Bau der Stadtautobahn begonnen: Abschnitt für Abschnitt wurde fertiggestellt; das letzte Teilstück, das (bis heute) entlang der Konrad-Adenauer-Straße zwischen Hohbuch bis hin zur Bahn-Haltestation „Reutingen West“, wurde Ende 1971 fertiggestellt.


Großer Bahnhof mit viel Prominenz bei der Eröffnung der Stadtautobahn im Oktober 1971. Lediglich der letzte Abschnitt zwischen Hohbuch und Tübinger Straße dauerte noch zwei Monate länger.

Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv

 

Trennung der Tübinger Straße

Ab dem 23. Dezember 1971 blieben die „großen Schranken“ für den Autoverkehr geschlossen, wurden aber bewusst noch nicht abgebaut. Nach über 110 Jahren war der Bahnübergang Geschichte, und die Tübinger Straße wurde getrennt. Ihr Name blieb noch für einige Zeit erhalten. Später wurde aus dem oberen Teil der Tübinger Straße zwischen der Haltestelle „Reutlingen West“ und dem Tübinger Tor sowie aus der Bloosstraße die Konrad-Adenauer-Straße. Der untere Teil der Tübinger Straße bis hin zum Bösmannsäcker behielt ihren Namen. Im Gegenzug wurde die Hohenzollernstraße, die einst von der Tübinger Straße unterhalb des Bahnübergangs abzweigte, als „neues“ Teilstück in Tübinger Straße umbenannt. Somit verschwanden zwei alte Straßen – die Bloos- und die Hohenzollernstraße – zumindest namentlich von der Reutlinger Stadtkarte.


Der letzte Abschnitt der Stadtautobahn ist freigegeben. Die großen Schranken für den Kraftverkehr sind (fast) für immer geschlossen ... Noch einige Jahre in Betrieb waren die kleinen Schranken für die Fussgänger, bis dann 1975 die Unterführungen fertiggestellt wurden.

Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv


1973 wurde mit dem Bau der Fussgängerunterführungen und der Verbreiterung der B 28 begonnen. Die Stadtautobahn wurde Richtung Tübingen  gesperrt und die Bahnschranken für einige Zeit stadtauswärts wieder geöffnet. Um die Bahnsteige, wie wir sie heute kennen, anzulegen, musste der Schienenverlauf leicht geändert werden. Diese liegen auf diesem Foto schon bereit.

Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv

Dasselbe Motiv aus einer anderen Perspektive. Noch einspurig floss der Verkehr in Richtung Stadtmitte Reutlingen. Man beachte die Käferparade.

Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner

Was die Presse damals schrieb


GEA am 23.12.71


Außen vor blieben für einige Jahre die Fußgänger, denn die Unterführungen, die heute die Konrad-Adenauer-Straße mit der Tübinger Straße bzw. Tübinger Vorstadt verbinden, gab es 1971 noch nicht. Es fehlte schlichtweg das Geld für dieses Erweiterungsprojekt. Wer zu Fuß des Weges war, war darauf angewiesen, die vielbefahrene Bahnlinie irgendwie zu überqueren, weshalb die „kleinen Schranken“ des Bahnübergangs in Betrieb blieben. Allerdings blieb den Passanten wegen der Eröffnung der Stadtautobahn nur noch eine Seite zum Überqueren zur Verfügung. Mit provisorischen Ampeln wurden die Fußgänger auf die (von der Stadt kommend) rechte Seite der Tübinger Straße geleitet. Doch aufgrund des unvermindert steigenden Verkehrsaufkommens konnten Ampeln keine dauerhafte Lösung sein, und so wurde bereits 1972 der Beschluss gefasst, die Tunnelröhre mit mehreren Zugängen zu bauen.


GEA 10.05.72


Der Bau der Fußgängerunterführungen begann im Oktober 1973 und zwang die Planer zu sinnvollen Umleitungen und ungewöhnlichen Maßnahmen. So wurde der Bahnübergang für den Kraftverkehr während der Baumaßnahmen noch einmal für einige Monate stadtauswärts geöffnet. Von der Stadtmitte kommend mussten die Autofahrer wieder die Tübinger Straße nutzen, um dann am Bösmannäcker links Richtung neuer Stadtautobahn abzubiegen.


GEA 03.10.73

Knapp 18 Monate sollten aber noch vergehen, bis beide Fußgängerunterführungen samt Rampen und Gleisaufgängen fertiggestellt wurden. Anfang 1975 wurden dann auch die „kleinen Schranken“ mit Eröffnung der ersten Unterführung für immer geschlossen.


GEA 12.11.74


Durch den Abriss des Schrankenwärterhäuschens konnte ein weiteres Verkehrsnadelöhr aufgelöst werden und der Weg war frei für die Vollendung des vierspurigen Ausbaus des oberen Teils der Tübinger Straße. Denn parallel zu den beschriebenen Bauarbeiten wurde bis Ende 1974 das Teilstück zwischen Ledergraben/GWG und der Gustav-Werner-Straße (heute steht dort eine ESSO-Tankstelle) auf vier Fahrspuren ausgebaut. Bei dieser Baumaßnahme fielen sehr viele Altbauten, darunter unter anderem das Gasthaus Schiff, dem Bagger zum Opfer. Zwar blieben das Rennwiesengässle samt Eisdiele Soravia noch einige wenige Monate stehen, doch auch deren Abriss stand längst in den Auftragsbüchern und wurde bis Herbst 1975 vollendet.


GEA 091174
Für alle, die es bisher geschafft haben: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, verbunden mit einer kleinen Bitte: Sollten Sie/ihr  irgendjemanden kennen, der noch Bildmaterial hat von diesem Gebiet hat oder Ergänzungen und Korrekturen, würde ich mich im Namen des Bildertanzes sehr freuen. Ingo Wissendaner.



5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Toll, was Sie da aus Ihrem Archiv und Ihren Erinnerungen für die Leser des Bildertanzes zusammen gestellt haben. Da kochen auch bei mir viele Erinnerungen "hoch". Wie gewaltig die Veränderung war, zeigt die Situation der Blosstraße vor und nach dem Bau der Stadtautobahn. Man kann sich das kaum noch vorstellen, welche Änderung das "Nebensträsslein" beim Vergleich gestern und heute unterworfen war.

Thomas Zepf hat gesagt…

Dees send wonderscheene Bilder vom Weschdbahof.Mei Vadder isch en de Eisabahnerhäuser uff dr Bloos aufgwachsa,dr Opa isch scho Eisabahner gweah, ond isch midd dr Eisabah em Krieg z´Italien Gfalla. Mei Vadder isch vom Gloisbauer zom Hauptsekretär aufgschdiega.Mei Großmuader hodd en dr Gmenderschdrohhs gwohnd, da ben i als knirps vo Pfullenga aus midd em Farrädle na. I han gern am Ibergang gwarded, bis dr Zug vorbei gwäa isch. Dui Oderfiehrong hau i gar edd meega. Mei Bruader hod en de siebzger Johr en dr Kurrerstraß gwohnd. Damals midd em Fahrrad koi broblem fir an zehnjähriga. Heid dääd i mei Kend nemme fortschigga.Fortsetzung Folgt (Vielleicht)

Ingo Wissendaner hat gesagt…

Vielen Dank... das motiviert für weitere Blogbeiträge.

Ingo Wissendaner hat gesagt…

Vielen Dank... das motiviert für weitere Blogbeiträge.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Ingo, ich hatte mich aus dem Bildertanz abgemeldet, weil ich ein Projekt zu Ende bringen musste. Jetzt schaue ich endlich wieder rein - und dann sehe ich diesen grandiosen Eintrag. DANKE.
Dein Raimund