Die Tübinger Straße im Wandel der Zeit
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Achse zwischen Reutlingen und Tübingen
Man muss zu den älteren Semestern gehören, um sich erinnern
zu können, dass die Tübinger Straße einst das Bindeglied zwischen Tübinger Tor,
Tübinger Vorstadt bis hin zum Bösmannäcker/Gminder war. Und wie ihr Name schon
erahnen lässt, war sie bis weit ins das 19. Jahrhundert hinein die Hauptachse
zwischen der Universitätsstadt Tübingen und Reutlingen - damals noch
durchgehend einspurig, mit Pflastersteinen gebaut und umrahmt von alten Häuserzeilen.
Durchschnitten wurde sie bis Anfang der 1970ziger Jahre von der Bahnlinie
Tübingen-Plochingen-Stuttgart, abgesichert durch einen Bahnübergang mit Schrankenwärterhäuschen.
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Genau über diesen Verkehrsabschnitt möchte ich heute ein paar Zeilen schreiben. Zum
einen, weil kaum ein anderes Verkehrsprojekt in Reutlingen zu solch spür- und
sichtbaren Veränderungen geführt hat: Von der Bahnlinie bis hin zum Tübinger
Tor inklusive „Klein-Venedig“ gibt es kaum noch Spuren dieses ehemaligen
Reutlinger Stadtviertels. Zum anderen
ist es ein wesentlicher Teil meiner Kindheit, an die ich mich im Zusammenhang
an die Tübinger Straße samt Bahnübergang so gerne erinnere. Seid somit
eingeladen zu einem kurzen aber sicher lückenhaften Rückblick auf die
einschneidenden Baumaßnahmen in diesem für viele unspektakulären Teil
Reutlingens. (Wie wertvoll wäre eine Digitalkamera gewesen, die es freilich
noch nicht gab. Somit kann ich nur auf wenige Aufnahmen und Zeitungartikel
zurückgreifen, immer in der Hoffnung, dass irgendwann noch mehr Fotos darüber
auftauchen).
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Zu den Anfängen
Doch zurück zu den Anfängen: Einst zogen die Menschen mit
Handwägen und Pferdekutschen die Tübinger Straße stadtaus- und stadteinwärts, bis dann Anfang des 20. Jahrhunderts erste
Automobile die Trasse nutzten. Nicht zu vergessen die Reutlinger
Straßenbahn-Linie 1 von Betzingen nach Eningen, die von 1912 bis 1968 einen
Teil der Tübinger Straße nutzte, um stadteinwärts kurz vor dem Bahnübergang in
die Hohenzollernstraße, die viele von uns nur als Teil der heutigen Tübinger
Straße kennen, abzubiegen.
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Das Eingangsfoto aus einer anderen Perspektive. Schön zu erkennen die alte E-Lokomotive, vermutlich Baureihe E 44, die gerade die Tübinger-Straße überquert. |
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Das Ende der alten Tübinger Straße naht ...
Doch das Verkehrsaufkommen durch Automobile wuchs und wuchs. Schon in den 1950er und 1960er Jahren kam es am Bahnübergang immer häufiger zu längeren für viele ärgerlichen Staus und Wartezeiten. Längst waren die Planungen für eine Entlastung dieses Knotenpunktes im Gang: Mit dem Bau einer Stadtautobahn zwischen Tübingen und Reutlingen sowie einer völligen Neuorganisation des Verkehrs an dieser Stelle und im angrenzenden Gebiet sollte das Problem gelöst werden. Das Ende sowohl des Bahnübergangs als auch der Tübinger Straße in ihrer ursprünglichen Form war besiegelt.Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Hier verläuft heute die Konrad-Adenauer-Straße Richtung Tübingen, vierspurig und mit hohem Verkehrsaufkommen. Einige der Häuser stehen noch. |
Ab 1967 Jahre wurde mit dem Bau der Stadtautobahn begonnen: Abschnitt für Abschnitt wurde fertiggestellt; das letzte Teilstück, das (bis heute) entlang der Konrad-Adenauer-Straße zwischen Hohbuch bis hin zur Bahn-Haltestation „Reutingen West“, wurde Ende 1971 fertiggestellt.
Großer Bahnhof mit viel Prominenz bei der Eröffnung der Stadtautobahn im Oktober 1971. Lediglich der letzte Abschnitt zwischen Hohbuch und Tübinger Straße dauerte noch zwei Monate länger. |
Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv
Trennung der Tübinger Straße
Ab dem 23. Dezember 1971 blieben die „großen Schranken“ für den
Autoverkehr geschlossen, wurden aber bewusst noch nicht abgebaut. Nach über 110
Jahren war der Bahnübergang Geschichte, und die Tübinger Straße wurde getrennt.
Ihr Name blieb noch für einige Zeit erhalten. Später wurde aus dem oberen Teil der Tübinger
Straße zwischen der Haltestelle „Reutlingen West“ und dem Tübinger Tor sowie
aus der Bloosstraße die Konrad-Adenauer-Straße. Der untere Teil der Tübinger Straße bis hin zum
Bösmannsäcker behielt ihren Namen. Im Gegenzug wurde die Hohenzollernstraße,
die einst von der Tübinger Straße unterhalb des Bahnübergangs abzweigte, als
„neues“ Teilstück in Tübinger Straße umbenannt. Somit verschwanden zwei alte
Straßen – die Bloos- und die Hohenzollernstraße – zumindest namentlich von der
Reutlinger Stadtkarte.
Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv
Bildertanz-Quelle: GEA-Archiv
Dasselbe Motiv aus einer anderen Perspektive. Noch einspurig floss der Verkehr in Richtung Stadtmitte Reutlingen. Man beachte die Käferparade. |
Bildertanz-Quelle: Ingo Wissendaner
Was die Presse damals schrieb
GEA am 23.12.71 |
Außen vor blieben für einige Jahre die Fußgänger, denn die Unterführungen, die heute die Konrad-Adenauer-Straße mit der Tübinger Straße bzw. Tübinger Vorstadt verbinden, gab es 1971 noch nicht. Es fehlte schlichtweg das Geld für dieses Erweiterungsprojekt. Wer zu Fuß des Weges war, war darauf angewiesen, die vielbefahrene Bahnlinie irgendwie zu überqueren, weshalb die „kleinen Schranken“ des Bahnübergangs in Betrieb blieben. Allerdings blieb den Passanten wegen der Eröffnung der Stadtautobahn nur noch eine Seite zum Überqueren zur Verfügung. Mit provisorischen Ampeln wurden die Fußgänger auf die (von der Stadt kommend) rechte Seite der Tübinger Straße geleitet. Doch aufgrund des unvermindert steigenden Verkehrsaufkommens konnten Ampeln keine dauerhafte Lösung sein, und so wurde bereits 1972 der Beschluss gefasst, die Tunnelröhre mit mehreren Zugängen zu bauen.
Der Bau der Fußgängerunterführungen begann im Oktober 1973
und zwang die Planer zu sinnvollen Umleitungen und ungewöhnlichen Maßnahmen. So
wurde der Bahnübergang für den Kraftverkehr während der Baumaßnahmen noch
einmal für einige Monate stadtauswärts
geöffnet. Von der Stadtmitte kommend mussten die Autofahrer wieder die Tübinger
Straße nutzen, um dann am Bösmannäcker links Richtung neuer Stadtautobahn abzubiegen.
Knapp 18 Monate sollten aber noch vergehen, bis beide
Fußgängerunterführungen samt Rampen und Gleisaufgängen fertiggestellt wurden.
Anfang 1975 wurden dann auch die „kleinen Schranken“ mit Eröffnung der ersten
Unterführung für immer geschlossen.
Durch den Abriss des Schrankenwärterhäuschens konnte ein
weiteres Verkehrsnadelöhr aufgelöst werden und der Weg war frei für die
Vollendung des vierspurigen Ausbaus des oberen Teils der Tübinger Straße. Denn parallel
zu den beschriebenen Bauarbeiten wurde bis Ende 1974 das Teilstück zwischen
Ledergraben/GWG und der Gustav-Werner-Straße (heute steht dort eine
ESSO-Tankstelle) auf vier Fahrspuren ausgebaut. Bei dieser Baumaßnahme fielen sehr
viele Altbauten, darunter unter anderem das Gasthaus Schiff, dem Bagger zum Opfer. Zwar
blieben das Rennwiesengässle samt Eisdiele Soravia noch einige wenige Monate
stehen, doch auch deren Abriss stand längst in den Auftragsbüchern und wurde
bis Herbst 1975 vollendet.
GEA 091174 |
Für alle, die es bisher geschafft haben: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, verbunden mit einer kleinen Bitte: Sollten Sie/ihr irgendjemanden kennen, der noch Bildmaterial hat von diesem Gebiet hat oder Ergänzungen und Korrekturen, würde ich mich im Namen des Bildertanzes sehr freuen. Ingo Wissendaner.
5 Kommentare:
Toll, was Sie da aus Ihrem Archiv und Ihren Erinnerungen für die Leser des Bildertanzes zusammen gestellt haben. Da kochen auch bei mir viele Erinnerungen "hoch". Wie gewaltig die Veränderung war, zeigt die Situation der Blosstraße vor und nach dem Bau der Stadtautobahn. Man kann sich das kaum noch vorstellen, welche Änderung das "Nebensträsslein" beim Vergleich gestern und heute unterworfen war.
Dees send wonderscheene Bilder vom Weschdbahof.Mei Vadder isch en de Eisabahnerhäuser uff dr Bloos aufgwachsa,dr Opa isch scho Eisabahner gweah, ond isch midd dr Eisabah em Krieg z´Italien Gfalla. Mei Vadder isch vom Gloisbauer zom Hauptsekretär aufgschdiega.Mei Großmuader hodd en dr Gmenderschdrohhs gwohnd, da ben i als knirps vo Pfullenga aus midd em Farrädle na. I han gern am Ibergang gwarded, bis dr Zug vorbei gwäa isch. Dui Oderfiehrong hau i gar edd meega. Mei Bruader hod en de siebzger Johr en dr Kurrerstraß gwohnd. Damals midd em Fahrrad koi broblem fir an zehnjähriga. Heid dääd i mei Kend nemme fortschigga.Fortsetzung Folgt (Vielleicht)
Vielen Dank... das motiviert für weitere Blogbeiträge.
Vielen Dank... das motiviert für weitere Blogbeiträge.
Lieber Ingo, ich hatte mich aus dem Bildertanz abgemeldet, weil ich ein Projekt zu Ende bringen musste. Jetzt schaue ich endlich wieder rein - und dann sehe ich diesen grandiosen Eintrag. DANKE.
Dein Raimund
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