Samstag, 24. Februar 2018

Reutlingen - eine Stadt im Widerspruch (3)



Kapitel 3: Eine Stadt und die Diktatur des Schönen

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Ganz auf der Linie der Schönheit: die Stadthalle in Reutlingen
1993: »Der neue Architekt empfindet Persönlichkeitszuschübe als Bedrohung seines Entwurfs, dessen formale Reinheit durch keine Sonnenschirme oder Begonien am falschen Ort verletzt werden soll.«

Wolf Jobst Siedler (1926-2013), deutscher Verleger und Schriftsteller
Wetten, dass Reutlingen längst ein ähnliches Hochhaus hätte, wenn ein "Wolkenkratzer" mit 30 Stockwerken ein Kriterium wäre, um sich Großstadt nennen zu dürfen? Das Park-Inn am Alexanderplatz in Berlin - ein Relikt aus DDR-Zeiten.
Kein Widerspruch: die neue Architektur Reutlingens deckt sich mit dem Anspruch auf Marke, den unsere Oberbürgermeisterin nun erhebt. Eine Marke, einmal geprägt, ist ebenso unveränderbar wie die Gestalt der neuen Bauten, mit denen unsere Stadt ja eigentlich bereits die Markenzeichen zu setzen sucht. Die Folge: Die Stadt wird durch den Starrsinn der Architekten und der Markenstrategen ihre Individualität verlieren. Mehr & Mehr. Und das ist es, was so viele Menschen eigentlich meinen, wenn sie die neue Gestaltung der Stadt monieren.
Die malerische Altstadt von Lyon - vor dem Abriss in den fünfziger Jahren gerettet - von niemand anderem als dem Schriftsteller und Kulturminister André Malraux, der 1954 den Abriss per Gesetz verbieten ließ. 
Wolf Jobst Siedler, mit dessen Zitat wir dieses Kapitel eröffnen, meinte: "Es kann nämlich kein Zweifel sein, dass gerade der Zuwachs an Schönheits-Absicht zur Individualitätslosigkeit der neuen Bebauung führt." Schlimmer noch: Architekten kopieren ihr gerade vorherrschendes Schönheits-Ideal voneinander (wie die Designer auch) - mit fatalen Folgen: "Stets erreicht ja das Neue die Öffentlichkeit, wenn es das Gestrige ist", sagte Siedler vor 25 Jahren.
Die Zickzack-Skyline von Danzig - Irgendwie doch auch großstädtisch, hanseatisch... Nach dem Krieg, der alles zerstörte wieder so aufgebaut, wie es war.
Also ist dies eigentlich auch eine Erkenntnis von gestern. Sie lässt sich übrigens auch auf andere Bewegungen der Moderne übertragen. So ist die Digitalisierung, die jetzt allein in Baden-Württemberg eine Milliarde Euro an Steuergeldern abschöpft, eine uralte Geschichte. Sie begann mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der das binäre Zahlensystem erfand - mit der Eins als dem Göttlichen und der Null als dem Fehlen desselben. Sie nahm in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren mächtigen Ansatz mit Visionen, die umzusetzen heute das Bestreben einer Industrie ist, die jährlich weltweit 3,5 Billionen Dollar umsetzt - mehr als die Automobilbranche.
Malerisches Echazufer in Reutlingen - zentrumsnah, wunderschön.
Kurzum: die Moderne redet permanent über die Vergangenheit. Ja, sie liebt die Vergangenheit, weil sie - im Unterschied zur Geschichte - unveränderbar ist. Das ist das Ideal der Moderne: die Unveränderliche.

Je schöner Reutlingen wird, desto lebloser wird sie.

Nein, nein. Samstags ist die Stadt voll. Auch sonst füllt sich die Wilhelmstraße - bis zum Ladenschluss. Dann ist Schluss in Reutlingen. 

Die Wilhelmstraße - das Malerische konnte man ihr trotz Verkettung noch nicht austreiben.
Auch pittoresque - die Lindenstraße in Reutlingen. Aber wer kommt schon mal dahin?
Wenn Roland Sedelmaier von seinen Fotoshootings durch die Stadt zurückkommt, dann bringt er uns sehr oft Bilder mit, die das Malerische Reutlingens zum Ausdruck bringen. Und wir clicken sie an, teilen sie mit, liken sie durch, weil wir insgeheim überrascht sind darüber, dass es diese Flecken gibt. Das Malerische ist aber nicht das, was mit Schönheit gleichzusetzen ist. Schönheit - das ist Ästhetik nach genau fixierten Regeln. Schönheit ist Klarheit der Linien, der Kontraste, der Fassaden und des Blickes auf alles, was uns umgeben soll. So wurde die Stadthalle gebaut, so der Bürgerpark gestaltet, so "Die Tonne" verquadert und die GWG-Fassade gerastert. Es sind durchaus schöne Bauten, aber malerisch sind sie nicht. Die Schönheitsplaner zielen auf den Verstand, nicht auf das Herz. Sie wollen dem absoluten Anspruch auf intellektuelle Schönheit zum Triumph über unsere Gefühle verhelfen. Es ist fast schon eine Diktatur des Schönen. Kritik daran ist unschön - und wird deshalb auch sofort geahndet.
Rechts die Linien der Macht, das Rathaus, links die Häuser aus früheren, unordentlicheren Zeiten
Fast schon hellseherisch die Analyse des Schriftstellers und Verlegers Wolf Jobst Siedler, wenn er der Diktatur des Schönen prophezeit: "Es versteht sich, dass dergleichen mit einer Welt korrespondiert, die das Säuberungsideal vom Staatlichen und Städtischen auch auf die Gesellschaft und den einzelnen überträgt. Erst wird der Bürger durchleuchtet, dann die Stadt."

Der Diktatur des Schönen folgt die Diktatur der Digitalisierung.

Und wehe, Du widersetzt Dich dieser Diktatur! Denn das wäre - in aller Boshaftigkeit formuliert - ein Verstoß gegen die Marke, vor der alle und jeder gleich ist. Übrigens geschieht dies in vollkommener Übereinstimmung mit all den Markenproduzenten, die mit ihren coolen Läden unsere Stadt längst der Diktatur des Schönen unterworfen haben.
Klassisch: Tübingen

Kathedrale vergangener, europäischer Macht: der Dom zu Aachen - ein Sammelsurium der Stile.


Wird das Neue die Romantik des Alten ersetzen können? Wir sind sehr gespannt. Das Kali scheint die alte Zeit schon jetzt zu vermissen - und das bei einem eher jungen Publikum. 



SERIE: STADT IM WIDERSPRUCH

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