Kapitel 3: Eine Stadt und die Diktatur des Schönen
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Ganz auf der Linie der Schönheit: die Stadthalle in Reutlingen |
1993: »Der neue Architekt empfindet Persönlichkeitszuschübe als Bedrohung seines Entwurfs, dessen formale Reinheit durch keine Sonnenschirme oder Begonien am falschen Ort verletzt werden soll.«
Wolf Jobst Siedler (1926-2013),
deutscher Verleger und Schriftsteller
Kein Widerspruch: die neue
Architektur Reutlingens deckt sich mit dem Anspruch auf Marke, den unsere
Oberbürgermeisterin nun erhebt. Eine Marke, einmal geprägt, ist ebenso
unveränderbar wie die Gestalt der neuen Bauten, mit denen unsere Stadt ja
eigentlich bereits die Markenzeichen zu setzen sucht. Die Folge: Die Stadt wird durch den Starrsinn
der Architekten und der Markenstrategen ihre Individualität verlieren. Mehr &
Mehr. Und das ist es, was so viele Menschen eigentlich meinen, wenn sie die
neue Gestaltung der Stadt monieren. Wolf Jobst Siedler, mit dessen Zitat wir dieses Kapitel eröffnen, meinte: "Es kann nämlich kein Zweifel sein, dass gerade der Zuwachs an Schönheits-Absicht zur Individualitätslosigkeit der neuen Bebauung führt." Schlimmer noch: Architekten kopieren ihr gerade vorherrschendes Schönheits-Ideal voneinander (wie die Designer auch) - mit fatalen Folgen: "Stets erreicht ja das Neue die Öffentlichkeit, wenn es das Gestrige ist", sagte Siedler vor 25 Jahren.
Die Zickzack-Skyline von Danzig - Irgendwie doch auch großstädtisch, hanseatisch... Nach dem Krieg, der alles zerstörte wieder so aufgebaut, wie es war. |
Malerisches Echazufer in Reutlingen - zentrumsnah, wunderschön. |
Kurzum: die Moderne redet
permanent über die Vergangenheit. Ja, sie liebt die Vergangenheit, weil sie -
im Unterschied zur Geschichte - unveränderbar ist. Das ist das Ideal der
Moderne: die Unveränderliche.
Je schöner Reutlingen wird, desto lebloser wird sie.
Nein, nein. Samstags ist die Stadt voll. Auch sonst füllt
sich die Wilhelmstraße - bis zum Ladenschluss. Dann ist Schluss in Reutlingen.
Die Wilhelmstraße - das Malerische konnte man ihr trotz Verkettung noch nicht austreiben. |
Auch pittoresque - die Lindenstraße in Reutlingen. Aber wer kommt schon mal dahin? |
Rechts die Linien der Macht, das Rathaus, links die Häuser aus früheren, unordentlicheren Zeiten |
Fast schon hellseherisch die Analyse des Schriftstellers und
Verlegers Wolf Jobst Siedler, wenn er der Diktatur des Schönen prophezeit:
"Es versteht sich, dass dergleichen mit einer Welt korrespondiert, die das
Säuberungsideal vom Staatlichen und Städtischen auch auf die Gesellschaft und
den einzelnen überträgt. Erst wird der Bürger durchleuchtet, dann die
Stadt."
Der Diktatur des Schönen folgt die Diktatur der Digitalisierung.
Und wehe, Du widersetzt Dich dieser Diktatur! Denn das wäre
- in aller Boshaftigkeit formuliert - ein Verstoß gegen die Marke, vor der alle
und jeder gleich ist. Übrigens geschieht dies in vollkommener Übereinstimmung
mit all den Markenproduzenten, die mit ihren coolen Läden unsere Stadt längst
der Diktatur des Schönen unterworfen haben.
Klassisch: Tübingen |
Kathedrale vergangener, europäischer Macht: der Dom zu Aachen - ein Sammelsurium der Stile. |
Wird das Neue die Romantik des Alten ersetzen können? Wir sind sehr gespannt. Das Kali scheint die alte Zeit schon jetzt zu vermissen - und das bei einem eher jungen Publikum. |
SERIE: STADT IM WIDERSPRUCH
TEIL III: Eine Stadt und die Diktatur des Schönen (2/2018)
TEIL II: Stadt ohne Bürger (2/2018
TEIL I: Stadt der Solitäre (1/2018)
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?
Das Beispiel Altenburg - Die Degradierung der "Stadtbezirke"
Wittumhalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Herrn Reumann
Stadthalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Frau Bosch
Die Stadthalle -Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem Jahrhundertprojekt
TEIL II: Stadt ohne Bürger (2/2018
TEIL I: Stadt der Solitäre (1/2018)
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?
Das Beispiel Altenburg - Die Degradierung der "Stadtbezirke"
Wittumhalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Herrn Reumann
Stadthalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Frau Bosch
Die Stadthalle -Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem Jahrhundertprojekt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen