Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Karlsplatz vor 110 Jahren: Wird er eines Tages wieder so leer sein wie damals? Ein Sand-Platz für Kinder?
Früher, als ich noch glaubte, dass der Fortschritt ein
Fortschritt sei, dachte ich, dass alles, was mich heute umgibt, in zehn oder
zwanzig Jahren ein Museum sein werde. Und du, der du mitten im Leben standest,
solltest deshalb jeden Augenblick genießen. Denn das könnte alles bald vorbei
sein. Es wäre nur noch eine Erinnerung, irgendwie festgehalten in der unnatürlichsten
aller Umgebungen - in einem Museum oder auf einem Bild, einem Foto. Beides kann
niemals das Original sein, noch nicht einmal eine Nachahmung, sondern immer nur
ein für alle Zeiten konservierter Ausschnitt.
Heute weiß ich, dass es genau anders herum ist. Ich bin es,
mit dem es in zehn oder zwanzig Jahren vorbei ist. Ich bin der Ausschnitt, mich
kann das Schicksal jederzeit herauslösen. Wohin, das weiß ich nicht. Ich wäre
allerdings überrascht, wenn es kein Leben nach dem Tode gäbe.
So wird es auch mit dieser Stadt gehen, die ich am 5.
Oktober 1970 zum ersten Mal sah, nicht weil ich da geboren wurde, sondern weil
ich sie zum ersten Mal besuchte. Es war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal
mit dem schönsten Museumsstück dieser Stadt fuhr - mit der Straßenbahn. Noch
bevor ich dann im Juli 1975 ins Schwabenland zog, war Schluss mit der
Elektrischen. In Reutlingen sollte nie wieder die Straßenbahn auftauchen - noch
nicht einmal als Museumsstück. Das hatten sich die Pfullinger gesichert.
Ausgerechnet die Pfullinger, die damals ihre Innenstadt komplett sanierten,
hatten an die Zukunft der Vergangenheit gedacht - und sich einen Zugwagen nebst
Anhänger gesichert. Der sanierte sich in einem ehemaligen Farrenstall still vor
sich hin.
Damals ahnte ich nicht, dass ich es sein durfte - und darauf
bin ich bis in die letzten Spitzen meiner nicht gerade geringen Eitelkeit stolz
-, der 2012 die Straßenbahn zurück in die Innenstadt Reutlingens bringen
durfte. Alles hatte ich organisiert. Das Geld. Das war vor allem die Volksbank.
Den Wagen: der Brauchtumsverein Pfullingen. Den Transport: Kranverleih Vogel. Die
Bewirtung: das Café Sommer. Es kam sogar zu einem Treffen zwei Bürgermeister.
Der Hess auf Pfullingen und der Hahn aus Reutlingen.
Die Straßenbahn ist da: 7. Juli 2012 - Bildertanz-Quelle: CBV |
Und wie immer, wenn die
Öffentlichkeit sich selbst herstellt, wenn aus einer guten Tat nichts anderes
als PR wird, feierten sich die anderen, aber den, der die Idee hatte und
durchsetzte, natürlich nicht. Man könnte ja auf falsche Gedanken kommen! Seitdem
weiß ich, eitel dürfen immer nur die anderen sein. Für jemanden, der Eitelkeit
als Motiv hat, eine bittere Lektion.
Ganz allmählich - und es hat wirklich lange gedauert, was
eigentlich an mir selbst unüblich ist - dämmerte mir, dass ich all das, was ich
tue, wo ich bin oder nur sehe, mir so vorstellen muss, als gäbe ich mich
überhaupt nicht. Es sei also eine Welt ohne mich. Und je älter man wird, desto
realistischer wird das. Denn du weißt einfach nicht, wie lange du noch lebst, geschweige
denn, dass du den Tag kennst, an dem du stirbst. Aber - um einen
Lieblingsspruch der Comic-Figur Snoopy zu benutzen - möchte ich sagen:
"Eines Tages werden wir alle sterben, aber an allen anderen Tagen
nicht."
Wie ist das nun mit Reutlingen? Können auch Städte eines
Tages sterben - und an allen anderen Tagen nicht?
Eine gute Frage, eine blöde Frage! Ohne Frage, kein
Politiker käme auf die Idee, sie zu stellen, außer aus dem Wunsch, seine eigene
Großtaten und Absichten vor dem Hintergrund eines möglichen Untergangs umso
deutlicher herauszustellen.
Horrorvisionen sind nun mal die beste Kulisse für jede Form
der Manipulation. Sie sind das stärkste Machtinstrument. Aber man muss sie auch
gut in Szene setzen können. Weil das nur die wenigsten Politiker können oder
sich trauen, gibt es noch einen Plan B. B wie Bürokratie. Und die hat bisher
noch jede Situation zu Ende gedacht. Ja, das ist ihr genialer Trick, ihre
Daseinsberechtigung: Alles, was sie tut, alles, was sie plant, betrachtet sie
vom Ende aus - nur nicht ihr eigenes. Natürlich nicht. Denn die wichtigste
Aufgabe jeglicher Bürokratie ist es, sich selbst zu erhalten.
Staufrei, aber nicht staubfrei: der Ledergraben vor 110 Jahren |
Nun stehst du da als Bürger dieser Stadt, einer von 120.000
Menschen in dieser Stadt, und denkst dich selbst zu Ende - nicht als
Selbstmordgedanke, sondern als eine durchaus realistische Möglichkeit. Wie
sieht diese Stadt aus - in zehn, zwanzig oder 30 Jahren, wenn es dich nicht
mehr gibt. Das könnte doch ein spannendes Gedankenexperiment sein.
Schwuppdiwupp - stecke ich schon mitten in der Zukunft. Aber
sie kommt als Vergangenheit daher, aus einer Zeit, in der es mich auch nicht
gab. Noch nicht. Und Euch, liebe Leser, die ihr schon bis zu diesem Lesepunkt
auf mich reingefallen seid, Euch gab es auch nicht. Noch nicht.
Ich sehe ein Bild for mir, dass Ihr alle kennt: den leeren
"Karlsplatz", den es unter diesem Namen noch nie gab und wohl nie
geben wird. Ich sehe den leeren Ledergraben. Ich sehe ein Welt ohne Autos. Sie
sind verschwunden. Viele Menschen sind auch nicht unterwegs. Man spürt die Öde
einer Stadt, die - egal, wie mondän und elegant die Häuser sein mögen, wie
sehr die Schornsteine andererseits herumnoxen - stinklangweilig ist. Nichts ist
da von der Urbanität einer mobilen, agilen Stadt, wie sie auf diesen Bildern ja
erst noch werden soll.
Doch nun, nachdem Reutlingen zum erlauchten Kreis der
verrauchtesten Städte Deutschlands gehört, soll der Verkehr solange verlangsamt
werden, bis alles steht und dann - für manche der höchste Triumph - schließlich alles verschwunden ist. In zehn,
zwanzig oder dreißig Jahren. Siehst du, denkst du, der Fortschritt ist doch ein
Rückschritt - jedenfalls dann, wenn es eine Stadt ohne dich ist, so wie vor 120
Jahren, als es dich noch nicht gab.
Und damit deine Eitelkeit einen deutlichen Dämpfer bekommt,
fällt dir ein, dass die Zeit, in der Reutlingen am lebendigsten war, in dem
Augenblick zu Ende ging, als du erstmals hierher kamst und schließlich hierher
zogst. Zwischen 1970 und 1975. Da fegte der Strukturwandel die gesamte Textilindustrie hinweg, Reutlingen fraß sich an den Eingemeindungen satt, die Straßenbahn verschwand, die Schmuddelecken wurden zu Tode saniert. Kurzum: Es wurde alles schöner und öder.
Vielleicht geht es Reutlingen am besten ohne dich. Du bist an allem schuld.
PS. So hatte
ich mir das aber nicht gedacht. Ich habe das wohl nicht zu Ende gedacht. Am besten fängst du noch mal neu an mit dem Zuendedenken!
SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen
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