Dienstag, 13. März 2018

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 1): Eine Stadt ohne dich



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Karlsplatz vor 110 Jahren: Wird er eines Tages wieder so leer sein wie damals? Ein Sand-Platz für Kinder?


Früher, als ich noch glaubte, dass der Fortschritt ein Fortschritt sei, dachte ich, dass alles, was mich heute umgibt, in zehn oder zwanzig Jahren ein Museum sein werde. Und du, der du mitten im Leben standest, solltest deshalb jeden Augenblick genießen. Denn das könnte alles bald vorbei sein. Es wäre nur noch eine Erinnerung, irgendwie festgehalten in der unnatürlichsten aller Umgebungen - in einem Museum oder auf einem Bild, einem Foto. Beides kann niemals das Original sein, noch nicht einmal eine Nachahmung, sondern immer nur ein für alle Zeiten konservierter Ausschnitt.

Heute weiß ich, dass es genau anders herum ist. Ich bin es, mit dem es in zehn oder zwanzig Jahren vorbei ist. Ich bin der Ausschnitt, mich kann das Schicksal jederzeit herauslösen. Wohin, das weiß ich nicht. Ich wäre allerdings überrascht, wenn es kein Leben nach dem Tode gäbe.

So wird es auch mit dieser Stadt gehen, die ich am 5. Oktober 1970 zum ersten Mal sah, nicht weil ich da geboren wurde, sondern weil ich sie zum ersten Mal besuchte. Es war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal mit dem schönsten Museumsstück dieser Stadt fuhr - mit der Straßenbahn. Noch bevor ich dann im Juli 1975 ins Schwabenland zog, war Schluss mit der Elektrischen. In Reutlingen sollte nie wieder die Straßenbahn auftauchen - noch nicht einmal als Museumsstück. Das hatten sich die Pfullinger gesichert. Ausgerechnet die Pfullinger, die damals ihre Innenstadt komplett sanierten, hatten an die Zukunft der Vergangenheit gedacht - und sich einen Zugwagen nebst Anhänger gesichert. Der sanierte sich in einem ehemaligen Farrenstall still vor sich hin.

Damals ahnte ich nicht, dass ich es sein durfte - und darauf bin ich bis in die letzten Spitzen meiner nicht gerade geringen Eitelkeit stolz -, der 2012 die Straßenbahn zurück in die Innenstadt Reutlingens bringen durfte. Alles hatte ich organisiert. Das Geld. Das war vor allem die Volksbank. Den Wagen: der Brauchtumsverein Pfullingen. Den Transport: Kranverleih Vogel. Die Bewirtung: das Café Sommer. Es kam sogar zu einem Treffen zwei Bürgermeister. Der Hess auf Pfullingen und der Hahn aus Reutlingen. 
Die Straßenbahn ist da: 7. Juli 2012 - Bildertanz-Quelle: CBV

Und wie immer, wenn die Öffentlichkeit sich selbst herstellt, wenn aus einer guten Tat nichts anderes als PR wird, feierten sich die anderen, aber den, der die Idee hatte und durchsetzte, natürlich nicht. Man könnte ja auf falsche Gedanken kommen! Seitdem weiß ich, eitel dürfen immer nur die anderen sein. Für jemanden, der Eitelkeit als Motiv hat, eine bittere Lektion.

Ganz allmählich - und es hat wirklich lange gedauert, was eigentlich an mir selbst unüblich ist - dämmerte mir, dass ich all das, was ich tue, wo ich bin oder nur sehe, mir so vorstellen muss, als gäbe ich mich überhaupt nicht. Es sei also eine Welt ohne mich. Und je älter man wird, desto realistischer wird das. Denn du weißt einfach nicht, wie lange du noch lebst, geschweige denn, dass du den Tag kennst, an dem du stirbst. Aber - um einen Lieblingsspruch der Comic-Figur Snoopy zu benutzen - möchte ich sagen: "Eines Tages werden wir alle sterben, aber an allen anderen Tagen nicht."

Wie ist das nun mit Reutlingen? Können auch Städte eines Tages sterben - und an allen anderen Tagen nicht?

Eine gute Frage, eine blöde Frage! Ohne Frage, kein Politiker käme auf die Idee, sie zu stellen, außer aus dem Wunsch, seine eigene Großtaten und Absichten vor dem Hintergrund eines möglichen Untergangs umso deutlicher herauszustellen. 
Horrorvisionen sind nun mal die beste Kulisse für jede Form der Manipulation. Sie sind das stärkste Machtinstrument. Aber man muss sie auch gut in Szene setzen können. Weil das nur die wenigsten Politiker können oder sich trauen, gibt es noch einen Plan B. B wie Bürokratie. Und die hat bisher noch jede Situation zu Ende gedacht. Ja, das ist ihr genialer Trick, ihre Daseinsberechtigung: Alles, was sie tut, alles, was sie plant, betrachtet sie vom Ende aus - nur nicht ihr eigenes. Natürlich nicht. Denn die wichtigste Aufgabe jeglicher Bürokratie ist es, sich selbst zu erhalten. 
Staufrei, aber nicht staubfrei: der Ledergraben vor 110 Jahren

Nun stehst du da als Bürger dieser Stadt, einer von 120.000 Menschen in dieser Stadt, und denkst dich selbst zu Ende - nicht als Selbstmordgedanke, sondern als eine durchaus realistische Möglichkeit. Wie sieht diese Stadt aus - in zehn, zwanzig oder 30 Jahren, wenn es dich nicht mehr gibt. Das könnte doch ein spannendes Gedankenexperiment sein.

Schwuppdiwupp - stecke ich schon mitten in der Zukunft. Aber sie kommt als Vergangenheit daher, aus einer Zeit, in der es mich auch nicht gab. Noch nicht. Und Euch, liebe Leser, die ihr schon bis zu diesem Lesepunkt auf mich reingefallen seid, Euch gab es auch nicht. Noch nicht.

Ich sehe ein Bild for mir, dass Ihr alle kennt: den leeren "Karlsplatz", den es unter diesem Namen noch nie gab und wohl nie geben wird. Ich sehe den leeren Ledergraben. Ich sehe ein Welt ohne Autos. Sie sind verschwunden. Viele Menschen sind auch nicht unterwegs. Man spürt die Öde einer Stadt, die - egal, wie mondän und elegant die Häuser sein mögen, wie sehr die Schornsteine andererseits herumnoxen - stinklangweilig ist. Nichts ist da von der Urbanität einer mobilen, agilen Stadt, wie sie auf diesen Bildern ja erst noch werden soll.

Doch nun, nachdem Reutlingen zum erlauchten Kreis der verrauchtesten Städte Deutschlands gehört, soll der Verkehr solange verlangsamt werden, bis alles steht und dann - für manche der höchste Triumph - schließlich alles verschwunden ist. In zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Siehst du, denkst du, der Fortschritt ist doch ein Rückschritt - jedenfalls dann, wenn es eine Stadt ohne dich ist, so wie vor 120 Jahren, als es dich noch nicht gab.

Und damit deine Eitelkeit einen deutlichen Dämpfer bekommt, fällt dir ein, dass die Zeit, in der Reutlingen am lebendigsten war, in dem Augenblick zu Ende ging, als du erstmals hierher kamst und schließlich hierher zogst. Zwischen 1970 und 1975. Da fegte der Strukturwandel die gesamte Textilindustrie hinweg, Reutlingen fraß sich an den Eingemeindungen satt, die Straßenbahn verschwand, die Schmuddelecken wurden zu Tode saniert. Kurzum: Es wurde alles schöner und öder.

Vielleicht geht es Reutlingen am besten ohne dich. Du bist an allem schuld.
PS. So hatte ich mir das aber nicht gedacht. Ich habe das wohl nicht zu Ende gedacht. Am besten fängst du noch mal neu an mit dem Zuendedenken!

Bildertanz-Quelle:Fritz Haux (historisch)

SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk 
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen

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