Montag, 7. Mai 2018

Umstritten: Eine neue Altstadt



Wer setzt dem "Unsinn, der heute
Architektur genannt wird", ein Ende?
Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Sie hat 200 Millionen Euro gekostet, die neue Altstadt, so viel wie vier bis fünf Stadthallen in Reutlingen. Am Mittwoch wird sie eröffnet, nicht in Reutlingen, sondern in dem nach dem Krieg zu 70 Prozent zerstörten Frankfurt, einer Stadt, in der mit 736.000 Einwohnern knapp sechsmal mehr Menschen leben als bei uns, von Hochhäusern dominiert, von der Finanzwelt beherrscht, vom größten Flughafen gezeichnet und von besten Autobahnen umwoben - eine Stadt, die beinahe nach dem Krieg bundesdeutsche Hauptstadt geworden wäre, die so etwas wie die geographische Mitte der alten Bundesrepublik darstellte. Kurzum: kein Vergleich mit Reutlingen.
Außer vielleicht, dass sie in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren beseelt war davon, so modern zu sein, dass der Wiederaufbau "zum verbissenen Bildersturm gegen alle baulichen Zeugnisse der Vergangenheit wurde", schrieb bereits 1951 der Architekturkritiker Dieter Bartetzko.[1]
Vor 25 Jahren stand die Stadt vor dem finanziellen Kollaps. In der Kasse fehlten 640 Millionen Mark, 1000 Stellen im öffentlichen Dienst sollten gekürzt werden, Einstellungsstopp. Schon fragte man sich, ob Schwimmbäder geschlossen werden müssten, zwischen 90 und 200 Millionen Mark wollte man nur durch Kürzung der Sachausgaben sparen. Sogar an die Schließung des Schauspiels wurde gedacht.[2] Und heute? Die Stadt strotzt vor Kraft - und protzt nun mit ihrem neuen Altstadtquartier zwischen Dom und Römer, das das absolute Gegenstück zu den mächtigen Wolkenkratzern des Bankenviertels ist. Verspielt, nicht verspiegelt. Vergiebelt, nicht verflachdacht. Verwinkelt, nicht verrastert. Zum Entsetzen vieler Architekten, die vor nichts so sehr Angst haben wie vor "Historismus". Sie wollen das "Zeitgenössische", ohne zu sagen, was das ist - außer dem, was gerade überall nach ihren tausendfach kopierten Plänen entsteht. Das Stadtbild ist nicht mehr verankert in einem historischen Kontext, sondern eingezwängt - sagen wir es direkt - in den erstarrten Augenblicken des Bauhauses.
So machten in Frankfurt die Zwangszeitgenossen die Rechnung ohne die Bürger - und das rächte sich. Und das in einer Stadt, in der die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat, mit dem historischen Kontext kaum verbunden zu sein scheinen.
Begonnen hatte alles 2005, als die Stadt beschloss, ein Nachkriegsmonstrum abzureißen, das Technische Rathaus. Nun hofften die Bürger, dass an dessen Stelle ein schnuckeliges Altstadtviertel wiederauferstehen würde, auf stolzer Tradition gegründet, das, was die Feuersbrünste des Krieges verschont hatten, bewahrend, etwas, mit dem man sich als Bürger voll und ganz identifizieren konnte. Doch so einfach ist das mit dem Wünschen in einer Stadt nicht, wenn sie beherrscht wird von Architekten, die unbedingt modern sein wollen. Und so entschied die Jury sich für einen Entwurf, "der die Historie ignoriert. Flachdächer und ein neuer 'Krönungsweg', der (schnurgerade und geschichtswidrig) auf den Domturm zuläuft, schienen den Juroren zeitgemäßer zu sein", schrieb damals der Architekturkritiker Dankwart Gurtzsach in der Tageszeitung "Die Welt".[3] Doch die Bürger protestierten heftig - und setzten sich durch.
Was jetzt in Frankfurt eröffnet wird, scheint nämlich genau das zu sein, was sie sich gewünscht haben: Häuser zum Leben, Häuser des Lebens. Doch die Kritiker sehen darin etwas ganz anderes, eine Assoziation zum Nationalsozialismus, was in den Frankfurter Medien einen heftigen Meinungsstreit auslöste.
"Auf die Erfahrung unseres Metiers können wir uns nicht mehr berufen - wir haben sie verspielt und mit Füßen getreten", meinte 2011 selbstkritisch Hans Kollhoff, Architekturprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.[4] "Nach einem Jahrhundert erfolglosem Erfindungszwangs wäre es angebracht, sich auf das überkommene architektonische Instrumentarium zu besinnen", schrieb er zu Beginn dieses Jahrzehnts. Er forderte eine zeitgenössische Architektur, die eben nicht - wie die Postmoderne - rückwärtsgewandt ist und sich mit dem Historischen dekoriert, sondern "tektonisch", wie er es ein wenig nebulös und nach Begrifflichkeiten tastend formuliert. Letzten Endes meint er den emotionalen Bezug, der eine Architekturleistung über das Solitär erhebt. Zu oft misslingen diese Solitäre zu "überdimensionierten Gestellen, in denen ich alles aufbewahren kann, Büros, Wohnungen, Autos und Leitzordner". Sie bieten Unterschlupf, aber kein Dach, keine Tektonik. Sie werden eben zu dem "Unsinn, der heute Architektur genannt wird" (Kollhoff).
Und dann formuliert Kollhoff, als hätte er das Reutlingen von heute besucht: "Solange die vermeintlich zeitgenössische Architektur in einer Baulücke sich als das ganz andere gerieren darf, als Kunstobjekt, das die überlieferte Stadt missbraucht, um sich in Szene zu setzen, aus Vermarktungsgründen oder bloßem Architekturehrgeiz, mag es noch gutgehen. Sobald aber mehrere solcher Objekte eine Straße bilden, breitet sich Chaos oder Trostlosigkeit aus". Das ist es, was in Reutlingen nach der "Baulücke Stadthalle" nun in dessen Nonsemble an hochbeinigen Gestellen aufpoppt.
Eine Stadt vermarktet sich. Darauf ist in Reutlingen alles ausgerichtet. Es kann sein, dass dies eine Rechnung ohne uns ist. Und das rächt sich, wie uns Frankfurt lehren könnte.



[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2015, Rainer Schulze: "Eine Himmelsleiter führt zu den Dichtern", danach zitiert
[2] Stuttgarter Zeitung, 7.April 1993, Heinrich Halbig: "Finanzielle Rosskur für Frankfurt"
[3] Die Welt, 1. Oktober 2005, Zeitgemäßer Stadtumbau"
[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2011, Hans Kollhoff: "Gib mir Simse: Was ist zeitgemäßes Bauen?"
Bildertanz-Quelle:

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