Wer setzt dem "Unsinn, der heute
Architektur genannt wird", ein Ende?
Architektur genannt wird", ein Ende?
Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Sie hat 200 Millionen Euro gekostet, die neue Altstadt, so
viel wie vier bis fünf Stadthallen in Reutlingen. Am Mittwoch wird sie
eröffnet, nicht in Reutlingen, sondern in dem nach dem Krieg zu 70 Prozent
zerstörten Frankfurt, einer Stadt, in der mit 736.000 Einwohnern knapp sechsmal
mehr Menschen leben als bei uns, von Hochhäusern dominiert, von der Finanzwelt
beherrscht, vom größten Flughafen gezeichnet und von besten Autobahnen umwoben
- eine Stadt, die beinahe nach dem Krieg bundesdeutsche Hauptstadt geworden
wäre, die so etwas wie die geographische Mitte der alten Bundesrepublik
darstellte. Kurzum: kein Vergleich mit Reutlingen.
Außer vielleicht, dass sie in den fünfziger, sechziger,
siebziger Jahren beseelt war davon, so modern zu sein, dass der Wiederaufbau
"zum verbissenen Bildersturm gegen alle baulichen Zeugnisse der Vergangenheit
wurde", schrieb bereits 1951 der Architekturkritiker Dieter Bartetzko.[1]
Vor 25 Jahren stand die Stadt vor dem finanziellen Kollaps.
In der Kasse fehlten 640 Millionen Mark, 1000 Stellen im öffentlichen Dienst
sollten gekürzt werden, Einstellungsstopp. Schon fragte man sich, ob
Schwimmbäder geschlossen werden müssten, zwischen 90 und 200 Millionen Mark
wollte man nur durch Kürzung der Sachausgaben sparen. Sogar an die Schließung
des Schauspiels wurde gedacht.[2] Und heute?
Die Stadt strotzt vor Kraft - und protzt nun mit ihrem neuen Altstadtquartier
zwischen Dom und Römer, das das absolute Gegenstück zu den mächtigen Wolkenkratzern
des Bankenviertels ist. Verspielt, nicht verspiegelt. Vergiebelt, nicht
verflachdacht. Verwinkelt, nicht verrastert. Zum Entsetzen vieler Architekten,
die vor nichts so sehr Angst haben wie vor "Historismus". Sie wollen
das "Zeitgenössische", ohne zu sagen, was das ist - außer dem, was
gerade überall nach ihren tausendfach kopierten Plänen entsteht. Das Stadtbild
ist nicht mehr verankert in einem historischen Kontext, sondern eingezwängt -
sagen wir es direkt - in den erstarrten Augenblicken des Bauhauses.
So machten in Frankfurt die Zwangszeitgenossen die Rechnung
ohne die Bürger - und das rächte sich. Und das in einer Stadt, in der die
Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat, mit dem historischen
Kontext kaum verbunden zu sein scheinen.
Begonnen hatte alles 2005, als die Stadt beschloss, ein
Nachkriegsmonstrum abzureißen, das Technische Rathaus. Nun hofften die Bürger,
dass an dessen Stelle ein schnuckeliges Altstadtviertel wiederauferstehen würde,
auf stolzer Tradition gegründet, das, was die Feuersbrünste des Krieges verschont
hatten, bewahrend, etwas, mit dem man sich als Bürger voll und ganz identifizieren
konnte. Doch so einfach ist das mit dem Wünschen in einer Stadt nicht, wenn sie
beherrscht wird von Architekten, die unbedingt modern sein wollen. Und so
entschied die Jury sich für einen Entwurf, "der die Historie ignoriert.
Flachdächer und ein neuer 'Krönungsweg', der (schnurgerade und geschichtswidrig)
auf den Domturm zuläuft, schienen den Juroren zeitgemäßer zu sein",
schrieb damals der Architekturkritiker Dankwart Gurtzsach in der Tageszeitung
"Die Welt".[3] Doch die
Bürger protestierten heftig - und setzten sich durch.
Was jetzt in Frankfurt eröffnet wird, scheint nämlich genau
das zu sein, was sie sich gewünscht haben: Häuser zum Leben, Häuser des Lebens.
Doch die Kritiker sehen darin etwas ganz anderes, eine Assoziation zum
Nationalsozialismus, was in den Frankfurter Medien einen heftigen Meinungsstreit
auslöste.
"Auf die Erfahrung unseres Metiers können wir uns nicht
mehr berufen - wir haben sie verspielt und mit Füßen getreten", meinte
2011 selbstkritisch Hans Kollhoff, Architekturprofessor an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule in Zürich.[4] "Nach
einem Jahrhundert erfolglosem Erfindungszwangs wäre es angebracht, sich auf das
überkommene architektonische Instrumentarium zu besinnen", schrieb er zu
Beginn dieses Jahrzehnts. Er forderte eine zeitgenössische Architektur, die
eben nicht - wie die Postmoderne - rückwärtsgewandt ist und sich mit dem Historischen
dekoriert, sondern "tektonisch", wie er es ein wenig nebulös und nach
Begrifflichkeiten tastend formuliert. Letzten Endes meint er den emotionalen
Bezug, der eine Architekturleistung über das Solitär erhebt. Zu oft misslingen
diese Solitäre zu "überdimensionierten Gestellen, in denen ich alles
aufbewahren kann, Büros, Wohnungen, Autos und Leitzordner". Sie bieten
Unterschlupf, aber kein Dach, keine Tektonik. Sie werden eben zu dem
"Unsinn, der heute Architektur genannt wird" (Kollhoff).
Und dann formuliert Kollhoff, als hätte er das Reutlingen von
heute besucht: "Solange die vermeintlich zeitgenössische Architektur in
einer Baulücke sich als das ganz andere gerieren darf, als Kunstobjekt, das die
überlieferte Stadt missbraucht, um sich in Szene zu setzen, aus Vermarktungsgründen
oder bloßem Architekturehrgeiz, mag es noch gutgehen. Sobald aber mehrere
solcher Objekte eine Straße bilden, breitet sich Chaos oder Trostlosigkeit
aus". Das ist es, was in Reutlingen nach der "Baulücke
Stadthalle" nun in dessen Nonsemble an hochbeinigen Gestellen aufpoppt.
Eine Stadt vermarktet sich. Darauf ist in Reutlingen alles ausgerichtet.
Es kann sein, dass dies eine Rechnung ohne uns ist. Und das rächt sich, wie uns
Frankfurt lehren könnte.
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