Dienstag, 21. August 2018

Der Freibrief


Wie uns vor zwölf Jahren das neue Parkhotel untergejubelt wurde

Eine unzeitgemäße Nachbetrachtung von Raimund Vollmer


Vor zehn Jahren gewann Max Dudler den Realisierungswettbewerb für die Stadthalle Reutlingen. Seit fünf Jahren ist die "Halle für alle" in Betrieb. Nun soll sie um ein Hochhaus-Hotel ergänzt werden. Der Architekt ist wiederum Max Dudler. Dessen erster Vorschlag war ein moderater, siebenstöckiger Bau, der sogar niedriger war als die Stadthalle. Aber keiner der Investoren biss so richtig an. Doch dann - im Mai 2018 - sah die Welt plötzlich ganz anders aus. 15 Stockwerke und 50 Meter Höhe - das war es, was das Herz eines Hoteliers höher schlagen ließ.

Nun wird gebaut - ohne die mehr oder minder direkte Beteiligung der Bürger, die eigentlich ein Recht darauf gehabt hätten, durch einen Bürgerentscheid ihr Votum abzugeben. 


Das war früher mal anders. Oder doch nicht?

"Sind Sie dafür, dass in diesem Rahmen die Planungen für eine neue Stadthalle begonnen werden?" So hatte es am 26. März 2006 klipp und klar geheißen, als Reutlingen zu einem Bürgerentscheid aufrief. Ja oder Nein. Mehr brauchte es nicht. "Entscheiden Sie mit!" forderte uns damals die Stadt Reutlingen auf. Es ging also noch nicht einmal ums "Entscheiden", sondern nur ums "Mitentscheiden". Die Rechte des Stadtrats waren also davon unbenommen. Es war wie beim Brexit, dessen Votum könnte das britische Parlament auch jederzeit aufheben.


 Nun - wir sind in Reutlingen. Und der letzte Bürgerentscheid in eigener Sache ist zwölf Jahre her. Dass also die Bürger dieser Stadt viel zu entscheiden hätten und direkte Demokratie zum Alltag gehört, kann man nicht unbedingt daraus folgern. Damals ging es um die Planung einer Stadthalle als Ersatz für die als marode erklärte Listhalle. 
Der Stadtrat und die Verwaltung, allen voran die Oberbürgermeisterin Barbara Bosch, hatten mit dem Bürgerentscheid ein klares Votum für die Planung einer Stadthalle zum Ziel. Und das bekamen sie auch. 
 Noch 2002 hatten 25.236 Bürger gegen den Bau eines damals auf 90 Millionen Euro veranschlagten Bau eines Kultur- und Kongresszentrums gestimmt. Eine Bürgerinitiative, aus der die heutige Wir-Fraktion hervorging, hatte diesen Bürgerentscheid vor 16 Jahren durchgesetzt. Es war also nicht der unbedingte Wunsch des Stadtparlaments, den Bürger einzubeziehen. Vier Jahre später, 2006, war man da mutiger. Nun durften die Bürger mitentscheiden. Und dazu sollten sie  "wichtige Informationen" bekommen. Wir wissen: Was wichtig ist, das bestimmen in Reutlingen immer auch die, die wichtig sind. Aber manchmal brauchen sie uns - zum Beispiel, wenn es um unseren gesunden Menschenverstand geht. 
 "Was sagt Ihr gesunder Menschenverstand?" fragt nämlich die offizielle Werbebroschüre (Impressum: Stadt Reutlingen) rund um den Bürgerentscheid 2006. Es sollte, so wurden wir informiert, eine Halle für 28 Millionen Euro gebaut werden. "Wir können den Neubau unserer Stadthalle und den Großteil der Betriebskosten aus den Stadthallenrücklagen bezahlen", schrieb uns in dieser Broschüre Oberbürgermeisterin Barbara Bosch. In der Tat - bei 42 Millionen Euro an Rücklagen für dieses Projekt wäre dann bei dieser Bausumme immer noch genug Geld da, um den Zuschuss, den der Betrieb der Stadthalle im Vergleich zur Listhalle jährlich mehr benötige, spielend zu finanzieren. Ja, man könne damit auch die Zinsbelastung auffangen, die die zwei anderen Kultstätten, das heutige Franz K. (Erneuerung) und Die Tonne (heute ein Neubau) benötigen. So hieß es in einer zweiten Schrift, die der Werbebroschüre beigelegt war. Alles gut. Es war ja die Zeit, in der Geld noch Zinsen abwarf.
 Kein Wunder, dass die Reutlinger in einem Bürgerentscheid mit einer Mehrheit von 63 Prozent für eine Planung stimmten. Wahlberechtigt waren 80.531 Einwohner, davon gingen 42.674 zur Urne, mehr als die Hälfte. 26.355 stimmten für die Planung, aber damit noch nicht für den Bau. Diese Entscheidung sollte in einer zweiten Bürgerrunde ermittelt werden. So dachten wir jedenfalls. "Die SPD fordert eine zweite Entscheidung der Bürger, wenn die konkreten Planung vorliegen", schrieb Ulrich Lukaszewitz, damals Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Stadtparlament, in seinem Geleitwort zum ersten Bürgerentscheid.
Dass dabei auch die Planung eines Hotels im Raum stand, ist aus dem Werbeprospekt nicht ersichtlich. Auch in dem "Vorschlag der Stadtverwaltung zum weiteren Vorgehen" beim "Neubau einer Stadthalle", der als nüchterne Broschüre dieser Werbeschrift beigelegt war, ist von einem Hotel nicht die Rede. Da werden lediglich "weitere Entwicklungen" auf dem Bruderhausgelände genannt. "Die vorliegende Planung versteht sich als erstes Modul der künftigen Gesamtnutzung des Geländes. Zu einem späteren Zeitpunkt können weitere Nutzungen angegliedert werden", heißt es in der Broschüre "Neubaus der Stadthalle". Diese Broschüre ist die Grundlage des Bürgerentscheids. Sie "entspricht der Vorlage.die Oberbürgerneisterin Barbara Bosch am 13. Dezember 2005 in den Gemeinderat der Stadt Reutlingen eingebracht hat", heißt es im Inhaltsverzeichnis. Das war es, was wir entschieden haben - wir haben nicht über ein Hotel entschieden, sondern nur darüber "dass in diesem Rahmen die Planungen für eine neue Stadthalle begonnen werden" kann.


Erst ein Vierteljahr nach dem Bürgerentscheid spricht die Beschlussvorlage 06/020/03 vom 30. Juni 2006 davon, "wie auf dem Gelände bei Bedarf die Stadthalle um ein Hotel, Gastronomie, oder zu einem späteren Zeitpunkt die Stadthalle selbst erweitert werden kann". Warum stand davon nichts im Rahmenpapier? Ganz klar: das hätte dann doch nach Kultur- und Kongresszentrum gerochen, ein Unwort in Reutlingen.

Übrigens sagte diese Beschlussvorlage auch: "Für den Bau der neuen Halle einschließlich Nebenkosten stehen 26 Mio. Euro zur Verfügung. Dieser Betrag ist gedeckelt." Hinzu kämen noch zwei Millionen an Aufwand für den Wettbewerb. Am Ende waren es insgesamt exakt 42 Millionen Euro. Eine Punktlandung. So hat Frau Bosch immer geschwärmt. Zum Beispiel in der Stuttgarter Zeitung.  Gemessen an den Rücklagen, war es eine Punktlandung, aber nicht gemessen an der Entscheidungsvorlage für uns Bürger.

Wir sollten - so der Inhalt der Beschlussvorlage vom 30. Juni 2006 - sogar weiterhin intensiv beteiligt werden: "Die Bandbreite reicht von der Bürgerbeteiligung nach § 3 BauGB über Workshops und Meinungsbücher bis hin zur repräsentativen Bürgerbefragung oder ggf. per Bürgerentscheid. Information und Beteiligung benötigen ebenfalls eine angemessene Zeit." So wurde angedeutet, aber dann sprach sich im Mai 2008 der Verwaltungs-, Kultur und Bauausschuss mit zehn zu zwei Stimmen gegen einen zweiten Bürgerentscheid aus. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Projekt immer noch - inklusive Baukostenindexsteiergerung auf 29,5 Millionen Euro taxiert.

Gegen einen zweiten Bürgerentscheid entschied dann auch der Gemeinderat -  eine repräsentative Bürgerbefragung genüge. Die hat aber nicht die Stadt Reutlingen durchgeführt, sondern der getreue Reutlinger General-Anzeiger (GEA). Das ist jetzt zehn Jahre her. 69 Prozent der befragten Bürger waren dafür, dass nach den Planungen  nun der Bau der Stadthalle auch realisiert werden soll. Übrigens wollten nur die Hälfte dem Vorschlag von Max Dudler folgen. Ob er auf eine ähnliche Quote beim Hotelneubau käme, ist zu bezweifeln.

Das Ergebnis der repräsentativen Umfrage des Reutlinger General-Anzeigers ist im Netz in Gänze nur dann nachzulesen, wenn man ein Online-Abo erwirbt. "Sie möchten einen kostenpflichtigen Artikel lesen", heißt es neuerdings beim GEA. Dann musst Du zahlen, auch wenn Du seit mehr als drei Jahrzehnten schon Abonnent bist.

(Nachwort: Ich habe versucht, nach bestem Wissen und Gewissen  diese Nachbetrachtung zu erstellen. Durch Zufall war ich auf die alten Wahlunterlagen zum Bürgerentscheid 2006 in meinem Archiv gestoßen. Anlass, sie mir dann genauer anzuschauen, war, dass gemeinhin im Umfeld des Stadtrats die Behauptung zu hören war, dass wir uns mit dem damaligen Bürgerentscheid zur Stadthalle auch für die Planung eines Hotels entschieden hätten. Konkret genannt wird es aber in der Beschlussvorlage nicht. Ich selbst werfe mir heute vor, damals den Text nicht richtig gelesen zu haben, er mir in seiner Schlitzohrigkeit auch erst nach dem Schreiben der obigen Zeilen richtig aufgegangen ist. "Sind Sie dafür, dass in diesem Rahmen die Planungen für eine Stadthalle begonnen werden kann?" So war die Frage. Indem ich für die Planungen gestimmt habe, habe ich auch den Rahmen akzeptiert - das gälte aber auch, wenn ich dagegen gestimmt hätte. Eigentlich war das ein Freibrief.)
Bildertanz-Quelle: Wahlprospekt der Stadt Reutlingen

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Mafia-Geldwaschanlage

Anonym hat gesagt…

Am 23.08.2018 kam in SWR eine Sendung über Reutlingen. Dort wurde auch der "Klötzchen-Arschitekt" vorgestellt. Der findet seine Bunker tatsächlich schön und lästerte über die lange Bauzeit der Marienkirche. Er hätte sie wohl als Klotz gebaut in einem halben Jahr.

Hermann Rieker hat gesagt…

Es ist eigentlich vergeblich, die beiden Damen (Bosch und Hotz) versuchen noch auf den "letzten Drücker" ihre Vorstellungen durchzusetzen und der Stadtrat (Gemeinderat) Weigel (Fraktionsarbeit!!!) und Kluck machen nichts, aber auch nichts.

Anonym hat gesagt…

Wohl dem, der ein Archiv bzw. Gedächtnis hat