Ein unzeitgemäße Betrachtung über das Wachstum unserer Stadt
- Von Raimund Vollmer
Die Stadt Reutlingen rechnet in den nächsten zwei Jahren mit
dem Zuzug von jeweils 1000 Einwohnern. So zitierte kürzlich der GEA unsere
Oberbürgermeisterin in indirekter Rede. Mit dieser Zahl wurde auch in den
vergangenen Jahren hie und da argumentiert, erinnern sich Stadträte. Eine frei
vagabundierende Zahl, derzufolge jeden Tag drei neue Einwohner nach Reutlingen
kommen. Frau Bosch war da eigentlich etwas bescheidener. 2016 sprach sie beim
Schwörtag noch von netto 800 Einwohnern, die inzwischen unsere Stadt pro Jahr
aufnehmen würde.
Kann ja sein, dass sie nun mit ihrer neuesten Prognose für
die Zeit bis 2021 richtig liegt, sich das Ganze in Richtung 1000 steigert: "Im
Jahr 2022 könnten es bis zu 121.183 Einwohner" sein, die in unserer Stadt
gemeldet sind, weiß am 28. September 2018 unser liebenswertes Hochamtsblatt
über die Vorlage des "Doppelhaushalt 2019/20" zu berichten. Das heißt
sogar fast 6000 mehr Einwohner in den kommenden vier Jahren. Ist das
realistisch?
Wagen wir uns mal mit dem Taschenrechner an den Faktencheck:
Im September 2017 waren es 115.600 Einwohner.
Im Dezember 2017 waren es sogar 115.762 Einwohner, sagt das Statistische Landesamt. Und dann? Im
August 2018 zählten wir nur noch 115.665 Einwohner, also 100 Einwohner weniger
als acht Monate zuvor. Ein Ausrutscher? Mal sehen, was die nächsten Monate
sagen - vor allem aber wird es informativ sein zu erfahren, wie sich diese
Zahlen imeinzelnen zusammensetzen.
Noch spannender ist natürlich der Blick in die weitere
Zukunft.
Im Jahr 2021 müsste es eigentlich wieder eine kleine
Volkszählung geben - mit dem Risiko, dass unsere Zahlen korrigiert werden
müssen. Dann zählen andere unsere Köpfe - und die Stadt zieht nicht allein ihre
Zahlen aus dem Melderegister. Zuletzt, 2011, musste Reutlingen
nach dem Zensus ihr Ergebnis um mehr als 2600 Einwohner nach unten korrigieren
- von 112.484 auf 109.799 Einwohner. Ein Jahr (2012) später war sie dann wieder
auf 112.735. Da war sie offenbar wieder bei ihren eigenen Melde-Messungen. Da
zählte sie wieder selbst, um sich dann Ende 2013 doch auf 110.681 zu
korrigieren. Ganz schöne Schwankungen!
Danach ging es aber tatsächlich im 800er
Schritt nach oben - mit dem Ergebnis, dass Reutlingen bei diesem
durchschnittlichen Wachstum inzwischen bei fast 117.000 Einwohnern liegen müsse.
Da fehlen aber einige. Wahrscheinlich müssen wir dies in einem größeren
Zusammenhang sehen, nicht im kleinkarierten Format eines Taschenrechners. Rechnet
man zum Beispiel seit der letzten Volkszählung, die Reutlingen ja dazu zwang, die
Einwohnerzahl um 2600 Einwohner zu verkleinern, dann wuchs in der Tat unsere
Stadt um jährlich 1000 Einwohner.
Was ist nun richtig? Was ist der Trend? Versuchen
wir dazu ganz einfach mal eine Langzeituntersuchung! 1987 gab es ebenfalls eine
Volkszählung. Damals hatte Reutlingen 98.853 Einwohner. 2017 waren es 115.762 -
ein Plus von 16.909 Bürger, macht über 31 Jahre einen Schnitt von 545 Bürgern
pro Jahr. Das ist seit einer Generation irgendwie unsere natürliche Wachstumskonstante
- irgendetwas zwischen 500 und 600 Einwohner.
Schaut man sich aber das Wachstum in der
Generation davor an, also zwichen 1956 und 1987, dann betrug die Zahl der
Neubürger netto mehr als 1200 Einwohner, aufgefangen von neuen Stadtbezirken
wie zum Beispiel Orschel-Hagen. Über drei Jahrzehnte hinweg ein solches
Wachtum! Das war schon eine Herausforderung. Doppelt so viel wie heute. Imposant!
Zieht man allerdings die Zahl der Bürger
ab, die durch die Eingemeindungen der frühen siebziger Jahre einfach dazu
gerechnet werden konnten, dann liegt das natürliche Wachstum in der Zeit eher
bei 750 Einwohner.
Reutlingen sollte sich auf ein Wachstum von
500 Einwohnern pro Jahr einstellen - und im Hinterkopf haben, es könnten auch
weniger werden. Natürlich ist dies keine gute Nachricht für all die ehrgeizigen
Pläne, die der kommende Doppelhaushalt uns verspricht.
Die Stadt Reutlingen möchte klotzen, nicht
kleckern. Und das muss finanziert werden. In diesem Zusammenhang ist die Zahl
der Einwohner enorm wichtig. Die amtliche Einwohnerzahl dient nämlich als
Bemessungsgrundlage für den kommunalen Finanzausgleich. Wenn man dann auf der Internet-Seite
des Statistischen Landesamtes nachschaut, dann erfährt man auch, dass die
Gründung eines Stadtkreises eine sehr wohltuende Wirkung auf der Einnahmenseite
haben würde: Da bekommt nämlich die Stadt 18,53 Euro je Einwohner, eine Große
Kreisstadt aber nur 8,30 Euro.
Kann ja sein, dass der Schreiber der Zeilen alles das, was
er sich da mühsam zusammengesucht hat, nicht richtig verstanden hat. Und seiner
Rechenstärke traut er ebenso wenig über den Weg wie den Zahlenwerken, die er
als Grundlage nahm.
Aber letztlich geht es ums Geld. Das ist
die alles überlagernde Strategie. Und dazu braucht man uns, als Einwohner,
nicht als Bürger. Denn einzig die Zahl der Einwohner, nicht die der Bürger,
entscheidet über die Gelder. Der Unterschied zwischen Bürger und Einwohner
besteht übrigens darin, dass sich der Bürger zum Beispiel durch seine aktive
Wahlbeteiligung engagiert, beim Einwohner lediglich die Tatsache gezählt wird,
dass er hier wohnt, hier gemeldet ist. Es ist sein bloßes Dasein, das zählt.
2019 wird gleich zweimal gewählt. Zuerst das
Amt des OB und dann die Kommunalparlamente. Es liegt jetzt an uns zu zeigen,
dass wir mehr sind als nur Einwohner, dass wir vor allem als Bürger zählen - auch
wenn's nicht mehr bringt. Vielleicht aber hilft es beim Sparen.
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
1 Kommentar:
Wer weiß. Wenn sich der Zustand weiter verschlechtert, will überhaupt noch jemand in Reutlingen wohnen? Alles wird davon abhängen, ob es genug Arbeitsplätze gibt. Die Stadt der Reichen und Schönen, das war einmal...
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