1801: »Aber in uns flammt eine Vorschrift und die muss göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle Deine Pflicht!«
Heinrich von Kleist, deutscher Dichter
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Der gerade Weg ist gesperrt. Nun führt der Rechtsweg zum Verfassungsgericht |
Es gibt Siege, vor denen sogar der Sieger Angst bekommen
sollte. Und es gibt Niederlagen, die vor allem dem Verlierer Hoffnung machen.
Die Entscheidung des Landtages gegen eine Stadtkreisgründung Reutlingens
gleicht einem Pyrrhus-Sieg. Denn die Verfassungsklage der Stadt muss - egal,
wie das Ergebnis ist und wie man zu dem Ansinnen der Stadt Reutlingen steht -
dem Landtag äußerst peinlich sein. Und wenn nicht, umso schlimmer. Dann könnte
man den Eindruck bekommen, dass der Politik inzwischen der Respekt sogar vor
dem eigenen Tun fehlt.
Starker Tobak? Vielleicht. Die Art und Weise, in der das Ansinnen
der Stadt Reutlingen auf Ausgründung behandelt worden ist, stellt bereits ein
absolutes Armutszeugnis dar. Da galt nicht die Macht der Argumente, sondern die
Tyrannei der gefügigen Mehrheit. Das Verfassungsgericht wird nun die Aufgabe
übernehmen müssen, vor der sich das Land gedrückt hat - nämlich eine
intellektuelle Auseinandersetzung über das Selbstbestimmungsrecht einer Stadt.
Darauf wird es eine Antwort geben müssen. Dabei ist es sogar gleichgültig, wie
das Ergebnis lauten wird. Entscheidend werden die Argumente sein, mit der das
Verfassungsgericht sein Urteil begründet.
Die Stadt Reutlingen hat sich allerdings auch selbst ein
Bein gestellt. Sie ist seit den Zeiten von Oberbürgermeister Oechsle davon
ausgegangen, dass sich eine Auskreisung wirtschaftlich rechnen muss. Vor diesem
Hintergrund wurde immer wieder die Entscheidung gegen einen entsprechenden
Antrag getroffen. Unter Frau Bosch wollte man es aber nun wissen. Leider wieder
mit dem Focus auf die Wirtschaftlichkeit. Da hat aber in der Politik noch nie
die Vernunft gesiegt, sondern stets der reine Machtinstinkt. Und um die Macht
geht es, besser gesagt: um Machterhalt.
Die Wirtschaftlichkeit ist immer nur ein pseudorationaler Ansatz.
Sie war schon bei den Eingemeindungen in den siebziger Jahren das falsche
Argument. Denn damals wurde die Übereignungspolitik derart rigoros, flächendeckend
und bundesweit betrieben, dass niemand mehr hinterher überprüfen konnte (und
wollte), ob die Rechnung tatsächlich aufgegangen sei. Keiner weiß, ob die
Festhallen in den Dörfern nicht auch ohne die Eingemeindungen gebaut worden
wären. Keiner weiß, ob die Subventionen, mit denen die Dorfparlamente und die
Dorfbewohner zu einer - wirtschaftlich begründeten, aber emotional
distanzierten - Zustimmung gebracht, ja fast schon genötigt wurden
(Zwangseingemeindung als letztes Drohmittel), nicht dennoch geflossen wären.
Denn auch Landtage wollen Wahlen gewinnen.
Es geht - wie gesagt - um die Macht und Machterhalt. Der
Landtag hat es sich äußerst bequem gemacht - und eigentlich auch deutlich
gezeigt, dass er intellektuell noch lange nicht im 21. Jahrhundert angekommen
ist. Er meint, eine Milliarde Euro für die Digitalisierung - und schon sind
wir in der Zukunft angekommen. Blödsinn. Schwachsinn. Die Digitalisierung läuft
von allein, die Unternehmen werden hier investieren, nicht wegen der
Digitalisierung an sich, sondern aus eigenen, existenziellen Gründen. Auch weil
wir, die Konsumenten sie mit unserem Smartphone geradezu erzwingen.
1980 machten die Unternehmensgewinne zehn Prozent des
Volkseinkommens aus, las ich kürzlich in einem alten Industrie-Papier. Heute
sind es 30 Prozent. Die Firmen verdienen genug Geld, um die Digitalisierung zu
stemmen. Möglicherweise haben sie es sogar durch den Einsatz von IT verdient.
Da hängt sich die Politik mit unseren Steuergeldern an den Erfolg der anderen -
und nährt damit obendrein die Umverteilung.
Das 21. Jahrhundert sollte endlich in ein bürgerliches
Jahrhundert einschwenken. Mit Menschen, die sich ihrer Verantwortung gegenüber
sich selbst und der Gemeinschaft bewusst sind. Und dieselbe Souveränität sollte
man auch auf allen Ebenen den politischen Einheiten zugestehen. Reutlingen will
sich ja nicht vor seiner Verantwortung gegenüber anderen drücken. Es möchte nur
selbst bestimmen, woraus diese Verantwortung besteht. Denselben Anspruch dürfen
Kreistage für sich reklamieren, ebenso Landtage. Diese sogar ganz besonders. Der
Landtag sollte als wichtigstes Gremium im Land Baden-Württemberg Vorbild sein.
Es ist nicht die Entscheidung an sich, sondern der lasche
Umgang mit den Argumenten, der wirklich zornig macht. Offenbar hatte man eine
Heidenangst davor, mit eigenen Argumenten selbst den Maßstab zu setzen, nachdem
man die Wirtschaftlichkeit künftig berechnen würde. Also ignoriert man die
Begründung der Stadt und antwortet nur sehr halbherzig. Politischer Mut steckt
nicht dahinter. Und im Unterschied zu "Stuttgart 21", zu dem ja das
ganze Land aufgerufen wurde, seine Stimme abzugeben, spekuliert man darauf,
dass "Reutlingen 21" nur ein Lokalproblem ist. Da vergrault man keine
Wähler anderswo oder fühlt sich von ihnen unangenehm herausgefordert - zumal
das Thema Auskreisung innerhalb Reutlingens auch nicht gerade auf große
Popularität stößt.
So zieht man sich ganz bequem aus der Affäre. Eine große
Debatte, eine große Diskussion über die Zukunft der Stadt und deren
Souveränität hat es nicht gegeben, so sehr Frau Bosch auch versucht hatte, das
Parlament zu provozieren.
Nun landet das Thema dort, wo es eigentlich nicht hingehört:
vor Gericht. Und das ist für den Landtag das größte Armutszeugnis. Er wollte
das Thema aussitzen und in nebulöse Arbeitskreise auf Sankt Nimmerlein vertagen.
Eine Riesenchance wurde vertan. Diese Landtag hat seine
ureigene, seine göttliche Pflicht nicht getan, sondern sie ersetzt durch
billiges Opportunitätsdenken.
"Erfülle Deine
Pflicht!" Das war der Kernsatz des Dichters Heinrich von Kleist. Dieser Satz, der sehr persönlich gemeint war und nicht eine von anderen definierte Pflicht ansprach, steht
über allen Gesetzen, Geboten, Sitten und Normen, selbst ein König könne sich
nicht darüber stellen, also auch kein Kretschmann, kein Strobl. Drei Jahre lang
hatte der Landtag Zeit, aus Anlass des Reutlinger Antrags leidenschaftlich über
die Zukunft der Stadt an sich zu debattieren und uns Bürger zu inspirieren. Aus
meiner Sicht hat er jämmerlich versagt. Dabei brennt diese Frage all jenen
Bürgern unter den Nägeln, die sich ihrer Pflicht bewusst sind.Und das ist die Mehrheit, hoffe ich zumindest.
5 Kommentare:
Ja warum dieses Theater überhaupt, wenn es bei den Bürgern auf keine große
Resonanz, bei den Kreisbewohnern auf völlige Unverständnis stößt?
Vielleicht ahnen manche Reutlinger Bürger, dass die Auskreisung auf Jahre
hinaus erst mal kostet. Und der Überbringer von göttlichen Eingebungen,
auch für die Reutlinger OB, sitzt immer noch im Münchner Hofbräuhaus.
Vernunft ist gefragt. Und die sagt, dass ein Zusammen besser ist als jeder
für sich allein.
Lieber Herr Brielmann, für Vernunft war drei Jahre Zeit. Und damit auch Zeit genug, über die Rolle einer Stadt nachzudenken. Stattdessen wurde nur über die Rolle des Landkreises gesprochen. 40 Jahre nach den Zwangseingemeindungen und Gebietskorreekturen, die von allem Möglichen gelenkt gewesen sind, am wenigsten aber von Vernunft, wäre es gut, darüber einmal zu reden, zu debattieren - unerschrocken und fair. Das da, war nicht fair - sondern der ungeschickteste Versuch eines Systems, das nichts anderes im Sinn hat als sich zu erhalten. Sonst wäre ein anderes Ergebnis herausgekommen. Vernunft, die sich eines ziemlich brutalen Gesetzes bedient, hat nicht sehr viel Überzeugungskraft. Als früherer Bezirksbürgermeister von Rommelsbach wissen Sie genau, wie sehr die Rommelsbacher unter der Eingemeindung gelitten haben - und Sie wissen auch, dass die Versprechungen nicht eingehalten wurden. Es gab nur Trostpflästerchen. Die Auskreisung wäre eine Riesenchance gewesen, über all das noch einmal zu reden und zu analysieren. Das Schweigen ist hier alles andere als Gold.
Nichtsdestotrotz: Danke für Ihren Kommentar.
Mein Bruder, Wilhelm Brielmann, war Bezirksbürgermeister in Rommelsbach.
Sorry für die Verwechslung! Freue mich über weitere Kommentare von Ihnen. Bloggen macht einfach mehr Freude, wenn man in einen Dialog kommt. Ein Frohes Weihnachtsfest Ihnen und einen guten Rutsch in ein wahrscheinlich sehr spannendes Jahr 2019.
Ihnen und allen die auch hier unterwegs sind, gesegnete Weihnachten und ein
glückliches,friedliches neues Jahr!
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