Freitag, 4. Januar 2019

Die Geschichte meines Oberbürgermeisters (Teil 2): In aller Freundschaft


Von Raimund Vollmer
Der Oberbürgermeister und der fehlende Verstand
Etwa eine Stunde später haben sich die Gemüter beruhigt. Das älteste Ratsmitglied geht, um den OB zu holen. Fünf Minuten später kehren beide zurück an ihren Platz. "Ihr Kollege informierte mich - mit Ihrer Zustimmung -, dass Sie sich meinem Wunsch anschließen wollen." Mein OB hasste diese gedrechselte Sprache, aber manchmal half sie einen über widrige Momente hinweg. "Ich bin sehr froh darüber, obwohl sicherlich noch viel Überzeugungsarbeit vor Ihnen liegt. Ich will nicht kneifen. Wenn Sie meine Unterstützung brauchen, ich stehe Ihnen jederzeit, wirklich jederzeit, zur Verfügung. Auch zu einem persönlichen Gespräch mit dem betroffenen Kollegen."

Zustimmendes Grummeln. Die Stimmung hat sich offenbar gedreht. "Oberbürgermeister", meint der älteste Ratsherr in fast väterlich-mahnender Manier, "so etwas machen Sie aber nicht noch einmal mit uns." Und dabei zwinkert er kalt lächelnd. "Natürlich nicht", entgegnet mein Oberbürgermeister trocken, ganz Amtswürde, um dann ein bübisches Grinsen folgen zu lassen. "Da fällt mir dann schon etwas Neues ein", sprudelt es aus ihm heraus. "Das glaube ich sofort", murmelt die immer noch etwas pikierte Ratsfrau, aber ihr Verdruss ist auch schon mehr gespielt als ernst.

"Zuerst einmal Danke für Ihr Verständnis. Ich habe das nicht aus Jux und Dollerei gemacht, sondern aus tiefer Überzeugung. Die Verantwortung für die Entscheidungen, die wir in den nächsten Jahren zu treffen haben, sollen auch die tragen, die die Ergebnisse ertragen müssen. Es gibt keine Glamour-Projekte mehr.

Aber das ist nur das eine. Das andere ist: Ich bin vor allem deshalb froh, weil ich mit Ihnen eine Idee besprechen möchte, die mit meiner Wunschliste in Zusammenhang steht. Ich hätte sie vorhin auch schon äußern können, aber dann hätte das wie Bestechung ausgesehen. Haben Sie noch ein paar Minuten für mich?" 


Zustimmendes Nicken, ein paar Whatapps und SMS fliegen hinaus, und dann geht's los. "Ich habe mich vorhin ziemlich brutal über unsere Ältesten geäußert und - um es zu sagen, wie es ist - darauf bestanden, dass sie gefeuert werden." (Zwischenrufe wie: "Ich weiche der rohen Gewalt, gehe aber freiwillig." - "Ich auch. Sonst feuert mich meine Frau!" - "Wo  ist die Blutrinne, wo muss ich mein Haupt hinlegen?" - "Ich schreibe meine Memoiren. Der GEA will die bestimmt haben.")

Mein OB wartet ab. Solche Ausbrüche gehören zu jeder guten Sitzung. Das weiß er inzwischen, sie sind das Salz in der Suppe - und ganz selten so ernst gemeint, wie sie gesagt werden. Dann öffnet er die vor ihm liegende Mappe und entnimmt ihr eine zweite Liste.

"Ah, eine weitere Todesliste", kommt es spontan aus der Runde. "Den Begriff 'Todesliste' habe ich nie gebraucht. Der stammt von Ihnen. Aber ich will Ihnen sagen: dies ist mit Sicherheit eher das Gegenteil - es ist eine Geburtsliste. Dazu gleich mehr." Die Kollegen spickeln, versuchen zu lesen, was - und vor allem wer - auf der Liste steht, aber mein OB lässt niemanden wirklich etwas erkennen.

"Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was ich hier vom ersten Tag bis heute getan habe - unbemerkt von Ihnen, unbemerkt von meiner Verwaltung." - "Sie scheinen uns ja eine ganze Menge zu verheimlichen." - "Aber es kommt alles an den Tag, jedenfalls heute." - "Oberbürgermeister, Oberbürgermeister!!!" Der Ton wurde irgendwie humoriger. Irgendwie waren sich alle näher gekommen.

"Ernsthaft, liebe Kollegen. Ich habe mir 2019  ein Fünf-Jahres-Ziel gesetzt, ein ganz einfaches. Ich wollte ein ganz genaues Bild von dieser Stadt, von ihrer Verwaltung, ihrem Rat, vor allem aber von den Menschen gewinnen. Bin ohne großen PR-Rummel mit meinem Ebike in die Ortsteile gefahren, habe sie mir immer wieder angeschaut. Bei gutem Wetter. Bei schlechtem Wetter, dann allerdings mit dem Kleinwagen meiner Tochter, ein bisschen auch verkleidet. Die Erfahrungen, die ich dort gesammelt habe, - oftmals haben mich die Leute gar nicht erkannt, was mir sehr recht war - habe ich in ein Tagebuch eingetragen. Und jedes Jahre habe ich das, was ich niedergeschrieben habe, überprüft, Abweichungen notiert usw. Sie können mir glauben, diese Stadt ist mir jedes Jahr mehr ans Herz gewachsen." (Pause) "Ich will ganz bestimmt nicht abtreten."

Die Ratsherrschaft ist nun völlig gespannt. "Ich habe mich dann irgendwann gefragt, wie sieht diese Stadt wohl in zehn Jahren aus, dann wenn Du möglicherweise in deine Endphase als Oberbürgermeister gehst oder daran denkst, die Geschäfte einem anderen, einer anderen zu übertragen. Was möchte ich meinem Nachfolger überlassen, wie möchte ich, dass diese Stadt dann aussieht, wie möchte ich, dass diese Stadt auf keinen Fall ausschaut!  

Und so habe angefangen vier Szenarien zu entwickeln, zu verfeinern, zu verwerfen, heraus kam etwas, das noch nicht vollends ausgefeilt ist, aber schon einmal einen Ansatz darstellt. Aber eines fehlte - und das wurde mir immer bewusster, was es genau war, wurde mir jedoch nicht unbedingt klarer."

"Oberbürgermeister, uns ist längst klar, was Ihnen fehlt", unterbricht ihn der Älteste aller Ratsmitglieder. Mein Oberbürgermeister hebt halb belustigt die linke Augenbraue. (Da ich nicht weiß, wen wir am 3. Februar wählen werden, muss ich hier fairerweise zugeben, dass es auch die rechte Augenbraue gewesen sein kann. Das ist bei Menschen sehr unterschiedlich. Testen Sie es an sich selbst!)

"Aha - und was ist es, was mir Ihrer geschätzten Meinung nach fehlt?"

"Na, Verstand." Tumult. Einer der Kollegen prustet los und sprüht Kaffee aus vollem Mund über den ganzen Tisch, was bislang noch niemandem gelungen ist. Zum Glück bestand sein Gebiss aus festen Implantaten, sonst wäre da noch anderes gefolgt. Ein anderer lässt einen Gedankenblitz, um mit Immanuel Kant zu sprechen, in der falschen Richtung los. Ein dritter ist so konsterniert, dass man glaubt er sei zu einer Statue des Bildhauers Peter Lenk erstarrt.

"Ich meine natürlich, dass das, was Ihnen fehlt, unser Verstand ist", ergänzt der Ratsälteste seinen Satz.

Mein Oberbürgermeister hat Humor. Nichts mag er so sehr, wenn auf eine seiner Offensiven eine Retourkutsche kommt - eine Unerwartete zudem, eine, die genau den Punkt trifft.

"Mein lieber väterlicher Freund - ich darf Sie doch so nennen -, Sie nehmen mir in der Tat das Wort aus dem Mund. Ich brauche klaren, unabhängigen, erfahrenen Verstand. Ich brauche Leute, die Reutlingen kennen, die Strukturen der Macht, die vor allem aber große, große Erfahrungen besitzen."

"Und die Namen dieser Leute stehen auf Ihrer neuen Liste?", lässt der Ratsälteste nicht locker. Ihm sind solche pathetischen Begriffe wie "große Erfahrung" oder "unabhängiger Geist" schon immer suspekt gewesen, was der Grund war, warum er sie selbst gerne benutzte - vor allem im Umgang mit der Konkurrenz. Auf dem Gebiet war er der Könner, nicht dieser Oberbürgermeister.

Mein Oberbürgermeister merkt, dass ihm die Sitzung ein wenig aus den Händen gleitet. Man soll sich halt nicht mit so alten Schlachtrössern anlegen, denkt er. Die kennen kein Respekt. Aber dann fällt ihm der trockene Konter auf den Konter ein...

Er steht auf. "Ihre Respektlosigkeit", hebt er an, und sein Ton ist jetzt wirklich schneidend, "Ihre Respektlosigkeit", es herrscht absolute Stille,  "ist der Grund, weshalb ich Sie brauche."

Dann setzt er sich wieder - und alle nicken irgendwie zwischen selbstgefällig, gönnerisch, wohlwollend, gütig. Kurzum: Sie zeigen Respekt.

"Auf dieser Liste stehen die Namen von sieben Personen, vier davon sind heute hier anwesend. Die anderen drei werde ich heute noch ansprechen." Dann liest er die Namen der Persönlichkeiten vor. "Es sind alles Ratsmitglieder, von denen ich erwarte, dass sie in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr dabei sind. Ich möchte diese sieben Damen und Herren bitten, einen Ältestenrat zu errichten. Diese Persönlichkeiten sollen mich beraten - in allen Sachthemen, also Personalfragen selbstverständlich nicht. Es geht mir dabei vor allem um die Zukunft."

Nun meldet sich ein Fraktionsvorsitzender, der weder auf der einen noch auf der anderen Liste steht. "Herr Oberbürgermeister, müssen wir dies als ein Misstrauensvotum gegenüber den immerhin von der Bevölkerung direkt gewählten Stadträten ansehen?" - "So direkt ist das nun auch wieder nicht", fährt der Ratsälteste, der schon jetzt ganz begeistert ist von der Idee meines Oberbürgermeisters und sie nicht mehr zerstört wissen will.

"Ganz im Gegenteil", übernimmt mein Oberbürgermeister wieder das Regiment. "Ich möchte die freie Auseinandersetzung, das Ringen um die richtige Lösung vor allem Ihnen überlassen, den gewählten Ratsmitgliedern, dem Wettbewerb der Argumente, sicherlich auch der politischen Grundüberzeugungen und persönlichen Einstellungen. Ganz, ganz, ganz ehrlich: Ich will die leidenschaftliche politische Diskussion - und die besten Argumente. Sie wissen, ich weiß es: die besten Argumente kommen oft aus der Verwaltung, mindestens genauso häufig aus dem Rat (Zwischenruf: "Alter Schleimer"), am seltensten aber kommen sie von sogenannten Gutachtern. Sie verwirren uns nur. Deshalb werden wir dafür weniger Geld haben, sondern mehr Courage. Und die erwarte ich von uns, den vor Ort verantwortlichen Gremien und Institutionen. Zivilcourage - ein Begriff, den John F. Kennedy in die Welt gesetzt hat. Es wird an der Zeit, dass wir ihn reaktivieren."

Der Fraktionsvorsitzende nickt zustimmend den Kopf. "Was aber soll dann dieser Ältestenrat? Sind deren Mitglieder unsere neuen Gutachter?"

"Gute Frage. Natürlich nicht. Dieses Gremium wird von nichts und niemandem bezahlt. Es ist ein reines Ehrenamt. Ich möchte, dass dessen Mitglieder in jeder Beziehung frei sind - weder von mir abhängig sind, noch von irgendwelchen Haushalten, geschweige denn Lobbyisten."

"Jungs und Mädels, erst schmeißt er uns raus, und dann gibt er uns auch noch zur Ausbeutung frei. Wie ich uns kenne, stimmen wir dem auch noch zu!" Mein Ratsältester (denn das ist er im Laufe des Schreibens geworden) bringt es auf den Punkt.

"Ich weiß, es ist ein Experiment", versucht mein Oberbürgermeister (der, wenn er förmlich wird, immer weniger meiner ist)."aber ich kann den Mitgliedern des Ältestenrats nur raten (Zwischenruf: "Hört Euch den Jungspund an"), mitzumachen. Sie nehmen sich sonst den größten Spaß ihres Lebens."

Die Fragezeichen in den Augen wurden nicht nur immer größer, sondern auch immer mehr, wie sonst -  vor allem bei Schwaben - die Euro-Zeichen.

Mein Oberbürgermeister nimmt nun Fahrt auf. "Stellen Sie sich vor: Diese Ältesten sind mittendrin in den heißesten Themen dieser Stadt. Sie genießen das Vertrauen ihrer früheren Fraktionen, der Verwaltung, ihres Oberbürgermeisters und bestimmt auch das der Bürger. Alles, was sie erarbeiten, wird in öffentlicher Sitzung präsentiert. Nichts ist geheim. Es geht darum, Perspektiven zu entwickeln, nicht Politiken. Die Mitglieder müssen auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Sie sind wirklich frei. Ein bis zweimal im Jahr präsentieren sie vor Ihnen, vor dem Rat dieser Stadt. Und blamieren wollen die sich dabei ganz bestimmt nicht."

Man ist - wider Willen - beeindruckt.

"Natürlich habe ich auch ein egoistisches Motiv. Ich möchte einfach von den Erfahrungen profitieren und davon, dass unsere Entscheidungen die Vergangenheit nicht einfach als Versatzstück betrachten, sondern vor dem Hintergrund geschichtlicher Entwicklungen stehen. Das ist das, was die Menschen hier wünschen. Sie kennen meinen Spruch: Ich will keine Kompromisse, ich will gute Entscheidungen. Um das zu bekommen, muss ich dem Rat den besten Rat zukommen lassen. Dazu gehören unbedingt auch die Erfahrung und die Weisheit unserer Ältesten. Gerade beim Nachdenken über die Zukunft dieser Stadt ist mir dies sehr, sehr bewusst geworden. Ich müsste mir Fahrlässigkeit vorwerfen lassen, wenn ich diesen Rat Ihnen vorenthalten würde."

Eine Stimme, die in der ganzen Zeit still gewesen ist, kommt aus der Tiefe des Raumes: "Und das trauen Sie uns alten Säckeln zu?" Dann lehnt sie sich zurück: "Also: Ich bin dabei."

Die Sitzung löst sich auf, nachdem man einen Nachfolgetermin vereinbart hat. Meint beim Hinausgehen der eine Älteste zu dem anderen Ältesten, denn ab einem bestimmten Alter ist jeder der Älteste: "Heute haben wir ein paar neue Tricks gelernt." Antwort: "Ich glaube, das waren keine Tricks. Der meint das so!"  - "Dann ist er kein Politiker." Laut lachend verschwinden sie Richtung Ausgang.

Mein Oberbürgermeister hatte diese letzten Worte doch noch aufgeschnappt. "Das wird ein Spaß", denkt er.

Die Routine ruft. 

Teil 1: Die Todesliste


Fortsetzung folgt
Bildertanz-Quelle:RV

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wie viele Älteste gibt es eigentlich im Reutlinger Stadtrat?
Um es mit dem Highlander zu sagen: Es kann nur einen geben!

Raimund Vollmer hat gesagt…

Es gibt die Ältesten im Plural. Wieviele es 2024 sein werden, kann ich erst nach der Kommunalwahl 2019 erahnen. Aber beim Schreiben habe ich mich auch gefragt, ob es plausibel ist. Die nächste Geschichte heißt übrigens (falls ich sie überhaupt veröffentliche): "Die sieben Schwaben". Damit wäre dann der "Ältestenrat" beziffert. Aber Danke für den Hinweis.

Anonym hat gesagt…

Dann braucht es nur noch ein TAPFERES SCHNEIDERLEIN!

Raimund Vollmer hat gesagt…

Kecke Idee!

Raimund Vollmer hat gesagt…

(Das mit dem Ältesten habe ich etwas gemildert und zugleich ein paar Schreib- und sonstige Fehlerlein korrigiert. Sind aber bestimmt immer noch welche drin. Sorry, dann)

Anonym hat gesagt…

Wer tippfähler vindet, dahf si gärne behalten :-))))

Anonym hat gesagt…

In aller Freundschaft – die ältesten Ärzte!
Ihr Dorf. Simoni :-)))))

Anonym hat gesagt…

Korrigiere: Nicht Dorf - Prof!