Etwa eine Stunde später haben sich die Gemüter beruhigt. Das
älteste Ratsmitglied geht, um den OB zu holen. Fünf Minuten später kehren beide
zurück an ihren Platz. "Ihr Kollege informierte mich - mit Ihrer
Zustimmung -, dass Sie sich meinem Wunsch anschließen wollen." Mein OB
hasste diese gedrechselte Sprache, aber manchmal half sie einen über widrige
Momente hinweg. "Ich bin sehr froh darüber, obwohl sicherlich noch viel
Überzeugungsarbeit vor Ihnen liegt. Ich will nicht kneifen. Wenn Sie meine
Unterstützung brauchen, ich stehe Ihnen jederzeit, wirklich jederzeit, zur
Verfügung. Auch zu einem persönlichen Gespräch mit dem betroffenen
Kollegen."
Zustimmendes Grummeln. Die Stimmung hat sich offenbar
gedreht. "Oberbürgermeister", meint der älteste Ratsherr in fast
väterlich-mahnender Manier, "so etwas machen Sie aber nicht noch einmal
mit uns." Und dabei zwinkert er kalt lächelnd. "Natürlich
nicht", entgegnet mein Oberbürgermeister trocken, ganz Amtswürde, um dann ein
bübisches Grinsen folgen zu lassen. "Da fällt mir dann schon etwas Neues
ein", sprudelt es aus ihm heraus. "Das glaube ich sofort",
murmelt die immer noch etwas pikierte Ratsfrau, aber ihr Verdruss ist auch schon
mehr gespielt als ernst.
"Zuerst einmal Danke für Ihr Verständnis. Ich habe das
nicht aus Jux und Dollerei gemacht, sondern aus tiefer Überzeugung. Die
Verantwortung für die Entscheidungen, die wir in den nächsten Jahren zu treffen
haben, sollen auch die tragen, die die Ergebnisse ertragen müssen. Es gibt
keine Glamour-Projekte mehr.
Aber das ist nur das eine. Das andere ist: Ich bin vor allem
deshalb froh, weil ich mit Ihnen eine Idee besprechen möchte, die mit meiner Wunschliste in Zusammenhang steht. Ich hätte sie vorhin auch schon äußern können,
aber dann hätte das wie Bestechung ausgesehen. Haben Sie noch ein paar Minuten
für mich?"
Zustimmendes Nicken, ein paar Whatapps und SMS fliegen hinaus,
und dann geht's los. "Ich habe mich vorhin ziemlich brutal über unsere
Ältesten geäußert und - um es zu sagen, wie es ist - darauf bestanden, dass sie
gefeuert werden." (Zwischenrufe wie: "Ich weiche der rohen Gewalt,
gehe aber freiwillig." - "Ich auch. Sonst feuert mich meine
Frau!" - "Wo ist die
Blutrinne, wo muss ich mein Haupt hinlegen?" - "Ich schreibe meine
Memoiren. Der GEA will die bestimmt haben.")
Mein OB wartet ab. Solche Ausbrüche gehören zu jeder guten
Sitzung. Das weiß er inzwischen, sie sind das Salz in der Suppe - und ganz
selten so ernst gemeint, wie sie gesagt werden. Dann öffnet er die vor ihm
liegende Mappe und entnimmt ihr eine zweite Liste.
"Ah, eine weitere Todesliste", kommt es spontan
aus der Runde. "Den Begriff 'Todesliste' habe ich nie gebraucht. Der
stammt von Ihnen. Aber ich will Ihnen sagen: dies ist mit Sicherheit eher das
Gegenteil - es ist eine Geburtsliste. Dazu gleich mehr." Die Kollegen
spickeln, versuchen zu lesen, was - und vor allem wer - auf der Liste steht,
aber mein OB lässt niemanden wirklich etwas erkennen.
"Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was ich hier vom
ersten Tag bis heute getan habe - unbemerkt von Ihnen, unbemerkt von meiner
Verwaltung." - "Sie scheinen uns ja eine ganze Menge zu
verheimlichen." - "Aber es kommt alles an den Tag, jedenfalls heute."
- "Oberbürgermeister, Oberbürgermeister!!!" Der Ton wurde irgendwie
humoriger. Irgendwie waren sich alle näher gekommen.
"Ernsthaft, liebe Kollegen. Ich habe mir 2019 ein Fünf-Jahres-Ziel gesetzt, ein ganz
einfaches. Ich wollte ein ganz genaues Bild von dieser Stadt, von ihrer
Verwaltung, ihrem Rat, vor allem aber von den Menschen gewinnen. Bin ohne
großen PR-Rummel mit meinem Ebike in die Ortsteile gefahren, habe sie mir immer
wieder angeschaut. Bei gutem Wetter. Bei schlechtem Wetter, dann allerdings mit
dem Kleinwagen meiner Tochter, ein bisschen auch verkleidet. Die Erfahrungen,
die ich dort gesammelt habe, - oftmals haben mich die Leute gar nicht erkannt,
was mir sehr recht war - habe ich in ein Tagebuch eingetragen. Und jedes Jahre
habe ich das, was ich niedergeschrieben habe, überprüft, Abweichungen notiert
usw. Sie können mir glauben, diese Stadt ist mir jedes Jahr mehr ans Herz
gewachsen." (Pause) "Ich will ganz bestimmt nicht abtreten."
Die Ratsherrschaft ist nun völlig gespannt. "Ich habe
mich dann irgendwann gefragt, wie sieht diese Stadt wohl in zehn Jahren aus,
dann wenn Du möglicherweise in deine Endphase als Oberbürgermeister gehst oder
daran denkst, die Geschäfte einem anderen, einer anderen zu übertragen. Was
möchte ich meinem Nachfolger überlassen, wie möchte ich, dass diese Stadt dann aussieht,
wie möchte ich, dass diese Stadt auf keinen Fall ausschaut!
Und so habe angefangen vier Szenarien zu entwickeln, zu
verfeinern, zu verwerfen, heraus kam etwas, das noch nicht vollends ausgefeilt
ist, aber schon einmal einen Ansatz darstellt. Aber eines fehlte - und das
wurde mir immer bewusster, was es genau war, wurde mir jedoch nicht unbedingt
klarer."
"Oberbürgermeister, uns ist längst klar, was Ihnen
fehlt", unterbricht ihn der Älteste aller Ratsmitglieder. Mein
Oberbürgermeister hebt halb belustigt die linke Augenbraue. (Da ich nicht weiß,
wen wir am 3. Februar wählen werden, muss ich hier fairerweise zugeben, dass es
auch die rechte Augenbraue gewesen sein kann. Das ist bei Menschen sehr
unterschiedlich. Testen Sie es an sich selbst!)
"Aha - und was ist es, was mir Ihrer geschätzten Meinung
nach fehlt?"
"Na, Verstand." Tumult. Einer der Kollegen prustet
los und sprüht Kaffee aus vollem Mund über den ganzen Tisch, was bislang noch
niemandem gelungen ist. Zum Glück bestand sein Gebiss aus festen Implantaten,
sonst wäre da noch anderes gefolgt. Ein anderer lässt einen Gedankenblitz, um
mit Immanuel Kant zu sprechen, in der falschen Richtung los. Ein dritter ist so
konsterniert, dass man glaubt er sei zu einer Statue des Bildhauers Peter Lenk erstarrt.
"Ich meine natürlich, dass das, was Ihnen fehlt, unser
Verstand ist", ergänzt der Ratsälteste seinen Satz.
Mein Oberbürgermeister hat Humor. Nichts mag er so sehr,
wenn auf eine seiner Offensiven eine Retourkutsche kommt - eine Unerwartete
zudem, eine, die genau den Punkt trifft.
"Mein lieber väterlicher Freund - ich darf Sie doch so
nennen -, Sie nehmen mir in der Tat das Wort aus dem Mund. Ich brauche klaren,
unabhängigen, erfahrenen Verstand. Ich brauche Leute, die Reutlingen kennen,
die Strukturen der Macht, die vor allem aber große, große Erfahrungen besitzen."
"Und die Namen dieser Leute stehen auf Ihrer neuen
Liste?", lässt der Ratsälteste nicht locker. Ihm sind solche pathetischen
Begriffe wie "große Erfahrung" oder "unabhängiger Geist" schon
immer suspekt gewesen, was der Grund war, warum er sie selbst gerne benutzte -
vor allem im Umgang mit der Konkurrenz. Auf dem Gebiet war er der Könner, nicht
dieser Oberbürgermeister.
Mein Oberbürgermeister merkt, dass ihm die Sitzung ein wenig
aus den Händen gleitet. Man soll sich halt nicht mit so alten Schlachtrössern
anlegen, denkt er. Die kennen kein Respekt. Aber dann fällt ihm der trockene Konter
auf den Konter ein...
Er steht auf. "Ihre Respektlosigkeit", hebt er an,
und sein Ton ist jetzt wirklich schneidend, "Ihre Respektlosigkeit",
es herrscht absolute Stille, "ist
der Grund, weshalb ich Sie brauche."
Dann setzt er sich wieder - und alle nicken irgendwie zwischen
selbstgefällig, gönnerisch, wohlwollend, gütig. Kurzum: Sie zeigen Respekt.
"Auf dieser Liste stehen die Namen von sieben Personen,
vier davon sind heute hier anwesend. Die anderen drei werde ich heute noch ansprechen."
Dann liest er die Namen der Persönlichkeiten vor. "Es sind alles
Ratsmitglieder, von denen ich erwarte, dass sie in der nächsten
Legislaturperiode nicht mehr dabei sind. Ich möchte diese sieben Damen und
Herren bitten, einen Ältestenrat zu errichten. Diese Persönlichkeiten sollen
mich beraten - in allen Sachthemen, also Personalfragen selbstverständlich
nicht. Es geht mir dabei vor allem um die Zukunft."
Nun meldet sich ein Fraktionsvorsitzender, der weder auf der
einen noch auf der anderen Liste steht. "Herr Oberbürgermeister, müssen
wir dies als ein Misstrauensvotum gegenüber den immerhin von der Bevölkerung
direkt gewählten Stadträten ansehen?" - "So direkt ist das nun auch
wieder nicht", fährt der Ratsälteste, der schon jetzt ganz begeistert ist
von der Idee meines Oberbürgermeisters und sie nicht mehr zerstört wissen will.
"Ganz im Gegenteil", übernimmt mein
Oberbürgermeister wieder das Regiment. "Ich möchte die freie
Auseinandersetzung, das Ringen um die richtige Lösung vor allem Ihnen
überlassen, den gewählten Ratsmitgliedern, dem Wettbewerb der Argumente,
sicherlich auch der politischen Grundüberzeugungen und persönlichen
Einstellungen. Ganz, ganz, ganz ehrlich: Ich will die leidenschaftliche
politische Diskussion - und die besten Argumente. Sie wissen, ich weiß es: die
besten Argumente kommen oft aus der Verwaltung, mindestens genauso häufig aus
dem Rat (Zwischenruf: "Alter Schleimer"), am seltensten aber kommen sie
von sogenannten Gutachtern. Sie verwirren uns nur. Deshalb werden wir dafür
weniger Geld haben, sondern mehr Courage. Und die erwarte ich von uns, den vor
Ort verantwortlichen Gremien und Institutionen. Zivilcourage - ein Begriff, den
John F. Kennedy in die Welt gesetzt hat. Es wird an der Zeit, dass wir ihn
reaktivieren."
Der Fraktionsvorsitzende nickt zustimmend den Kopf.
"Was aber soll dann dieser Ältestenrat? Sind deren Mitglieder unsere neuen
Gutachter?"
"Gute Frage. Natürlich nicht. Dieses Gremium wird von
nichts und niemandem bezahlt. Es ist ein reines Ehrenamt. Ich möchte, dass
dessen Mitglieder in jeder Beziehung frei sind - weder von mir abhängig sind,
noch von irgendwelchen Haushalten, geschweige denn Lobbyisten."
"Jungs und Mädels, erst schmeißt er uns raus, und dann
gibt er uns auch noch zur Ausbeutung frei. Wie ich uns kenne, stimmen wir dem
auch noch zu!" Mein Ratsältester (denn das ist er im Laufe des Schreibens
geworden) bringt es auf den Punkt.
"Ich weiß, es ist ein Experiment", versucht mein
Oberbürgermeister (der, wenn er förmlich wird, immer weniger meiner
ist)."aber ich kann den Mitgliedern des Ältestenrats nur raten
(Zwischenruf: "Hört Euch den Jungspund an"), mitzumachen. Sie nehmen
sich sonst den größten Spaß ihres Lebens."
Die Fragezeichen in den Augen wurden nicht nur immer größer,
sondern auch immer mehr, wie sonst - vor
allem bei Schwaben - die Euro-Zeichen.
Mein Oberbürgermeister nimmt nun Fahrt auf. "Stellen
Sie sich vor: Diese Ältesten sind mittendrin in den heißesten Themen dieser
Stadt. Sie genießen das Vertrauen ihrer früheren Fraktionen, der Verwaltung,
ihres Oberbürgermeisters und bestimmt auch das der Bürger. Alles, was sie
erarbeiten, wird in öffentlicher Sitzung präsentiert. Nichts ist geheim. Es
geht darum, Perspektiven zu entwickeln, nicht Politiken. Die Mitglieder müssen
auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Sie sind wirklich frei. Ein bis
zweimal im Jahr präsentieren sie vor Ihnen, vor dem Rat dieser Stadt. Und
blamieren wollen die sich dabei ganz bestimmt nicht."
Man ist - wider Willen - beeindruckt.
"Natürlich habe ich auch ein egoistisches Motiv. Ich
möchte einfach von den Erfahrungen profitieren und davon, dass unsere
Entscheidungen die Vergangenheit nicht einfach als Versatzstück betrachten,
sondern vor dem Hintergrund geschichtlicher Entwicklungen stehen. Das ist das,
was die Menschen hier wünschen. Sie kennen meinen Spruch: Ich will keine Kompromisse,
ich will gute Entscheidungen. Um das zu bekommen, muss ich dem Rat den besten
Rat zukommen lassen. Dazu gehören unbedingt auch die Erfahrung und die Weisheit unserer
Ältesten. Gerade beim Nachdenken über die Zukunft dieser Stadt ist mir dies
sehr, sehr bewusst geworden. Ich müsste mir Fahrlässigkeit vorwerfen lassen,
wenn ich diesen Rat Ihnen vorenthalten würde."
Eine Stimme, die in der ganzen Zeit still gewesen ist, kommt
aus der Tiefe des Raumes: "Und das trauen Sie uns alten Säckeln zu?"
Dann lehnt sie sich zurück: "Also: Ich bin dabei."
Die Sitzung löst sich auf, nachdem man einen Nachfolgetermin
vereinbart hat. Meint beim Hinausgehen der eine Älteste zu dem anderen
Ältesten, denn ab einem bestimmten Alter ist jeder der Älteste: "Heute haben wir ein paar neue Tricks gelernt." Antwort:
"Ich glaube, das waren keine Tricks. Der meint das so!" - "Dann ist er kein Politiker." Laut
lachend verschwinden sie Richtung Ausgang.
Mein Oberbürgermeister hatte diese letzten Worte doch noch aufgeschnappt.
"Das wird ein Spaß", denkt er.
Fortsetzung folgt
Bildertanz-Quelle:RV
8 Kommentare:
Wie viele Älteste gibt es eigentlich im Reutlinger Stadtrat?
Um es mit dem Highlander zu sagen: Es kann nur einen geben!
Es gibt die Ältesten im Plural. Wieviele es 2024 sein werden, kann ich erst nach der Kommunalwahl 2019 erahnen. Aber beim Schreiben habe ich mich auch gefragt, ob es plausibel ist. Die nächste Geschichte heißt übrigens (falls ich sie überhaupt veröffentliche): "Die sieben Schwaben". Damit wäre dann der "Ältestenrat" beziffert. Aber Danke für den Hinweis.
Dann braucht es nur noch ein TAPFERES SCHNEIDERLEIN!
Kecke Idee!
(Das mit dem Ältesten habe ich etwas gemildert und zugleich ein paar Schreib- und sonstige Fehlerlein korrigiert. Sind aber bestimmt immer noch welche drin. Sorry, dann)
Wer tippfähler vindet, dahf si gärne behalten :-))))
In aller Freundschaft – die ältesten Ärzte!
Ihr Dorf. Simoni :-)))))
Korrigiere: Nicht Dorf - Prof!
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