Eine kleine Polemik nach der Wahl - Von Raimund Vollmer
Der Platz der Nichtwähler am 25. Februar 2019 |
Enttäuscht ist das offizielle Reutlingen über die
Wahlbeteiligung beim 2. Urnengang am Sonntag, 24. Februar 2019. Dazu gibt es
keinen Grund. Erstens entspricht sie genau dem Landesdurchschnitt der letzten
Jahre - auch vor dem Hintergrund einer echten Entscheidungswahl. Zweitens liegt
die Wahlbeteiligung deutlich über dem Durchschnitt anderer Länder - in NRW
changiert sie offenbar bereits bei 30 Prozent. Beim zweiten Wahlgang ist die
Wahlbeteiligung sogar zumeist niedriger als bei der ersten. In Reutlingen ist
sie sogar leicht gestiegen. Nichtsdestotrotz ist das abfallende Interesse ein
deutliches Signal. Das Gefühl, einer Elite ausgesetzt zu sein, die sich vor
allem um sich selbst kümmert, ist unter den Bürgern ziemlich weit verbreitet
und lässt sie resignieren. Verstärkt wird dies durch den Eindruck der absoluten
Selbstbezüglichkeit politischer Systeme. Ob sich die Stadtverwaltung hinter
Gutachten verschanzt und ansonsten sich selbst pflegt oder wenn die Stadträte
ihre Politik der letzten 30 Jahre nicht wirklich kritisch hinterfragen, es
bleibt beim Bürger stets das Gefühl der Ohnmacht. Und dieses Gefühl bringen sie
mehrheitlich zum Ausdruck, indem sich 60 Prozent der Wahlberechtigten für unerreichbar
erklären. Die politischen Themen dringen gar nicht mehr zu ihnen vor. Sie
interessieren nicht. Das ist kein Rückzug ins Private, wie Thomas Keck meint.
Das ist schlichtweg eine Ohrfeige und das Ergebnis der Politik der letzten
dreißig Jahre.
Ob solche Theman die Wahl entschieden haben? Eher nein. |
Was wurde in den vergangenen 30 Jahren in Reutlingen
geschaffen, das ganz einfach die Identifikation mit dieser Stadt auf
beeindruckende, auf emotionale Weise gestärkt hat? Nichts. (Und da kann man
noch so oft die Stadthalle nennen, ihr Beitrag zur Identifikation ist - wenn
überhaupt - minimal.)
Enttäuscht sind Keck & Co. über die Wahlentscheidung der
Bürger in den Außenbezirken, in den zwölf Stadtteilen mit eigenem Ortschaftsrat.
Hier hatte mit Ausnahme von Kecks Großdorf Betzingen überall sein Rivale
Christian Schneider die Nase vorn. Ausgerechnet die Stadtbezirke! Das täte weh,
sagt Keck dem braven Generalanzeiger. Sein Problem. Es ist ein heftiger Schuss
vor den Bug. Sowohl Keck (25 Jahre Stadtrat) als auch Kabfell (6 Jahre) stehen
für eine Politik, die in den Außenbezirken, die ja erst mit ihrer Eingemeindung
die Kreisstadt Reutlingen zu dem ersehnten Ziel einer Großstadt gebracht haben,
auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Das Stadtmarketing hat sich noch nie für die
Außenbezirke interessiert. Nur als Beispiel. Es hat wohl auch nie einen Auftrag
in diese Richtung bekommen.
Die Außenweltler haben dann Schneider gewählt, weil er
unbelastet war von einer Politik, die nicht jedem gefiel. Vielleicht sind sie
sogar deshalb zur Wahl gegangen. Und vielleicht haben sie dabei sogar noch
einen anderen Gedanken im Hinterkopf gehabt. Sowohl Kalbfell als auch Keck wären
nicht zur Wahl angetreten, wenn die Amtsinhaberin beschlossen hätte, sich ein
drittes Mal um das höchste Amt in der Stadt zu bemühen. Beide sahen sich in der
Kontinuität zu einer Politik, die spätestens nach der Auswertung der Markenbefragung
als nicht sonderlich willkommen angesehen wurde. Frau Bosch musste erkennen,
dass ihre Politik keineswegs so erfolgreich war, wie sie bestimmt selbst
gedacht hat.
Das gilt insbesondere für die Außenbezirke: Sanierungen
erschienen manchmal eher als überfällig, denn getrieben von dem Wunsch, einen
Ort neu zu gestalten. Und wenn es dann in letzter Zeit geschah, dann hatte man
den Eindruck, dass den Dörfern das vergiebelte Ländliche ausgetrieben wurde, um
Quartieren ihren kubistischen Platz zu geben. Zudem wollte man den Außenwelten mehr
und mehr Aufgaben zuschanzen, die genuin Sache der einstigen Industriestadt zugerechnet
wurde. Sie expandierte mit der Eingemeindungswelle der siebziger Jahre ihre
Wohngebiete, nicht ihre Industrielandschaften, die sich im Übrigen angesichts
des Strukturwandels in Auflösung befanden.
Da fand in den letzten zwanzig Jahren eine kopernikanische
Wende statt: Idylle nach innen, Industrie nach außen. Das war und ist das
Empfinden mancherorts. So sollte es auch mal ohne Wenn & Aber akzentuiert
werden - vor allem im bevorstehenden Kommunalwahlkampf. Auf der Basis sollte -
ohne diese langweiligen Beschwichtigungsformeln - diskutiert werden. Und wenn
dann einer kommt mit dem Totschlagargument "Aber die Wirtschaft",
dann sollte man erwidern: Was ist mit der Wirtschaft? Wo war sie in den letzten
30 Jahren? Wo will sie hin in den nächsten 30 Jahren?
Besonders unangenehm war es in all den Jahren, wenn mit
nicht geringem offiziellem Engagement uns als Schönheit verkauft wurde, was
unser innerstes Empfinden als potthässlich einstufte. Ich habe dann mitunter an
meiner eigenen Urteilsfähigkeit gezweifelt (was ja grundsätzlich nicht schlecht
ist). Die wurde dann wiederhergestellt, als das hemmungslos positiv städtische
"Reutlingen.de" auf Facebook vor einiger Zeit einen Film über unsere
Stadt empfahl, in dem nur altmodische Giebelhäuser und prächtige Grünanlagen zu
sehen waren. Selbst die Stadt hat offensichtlich ein anderes Bild von der
Stadt, als ihre Politik in den letzten zwanzig Jahre mit ihren Entscheidungen realisierte.
Wirklichkeit und Vorstellung driften auseinander. Und diese OB-Wahl weist uns sehr
deutlich daraufhin, dass diese Wahrnehmung wieder vereint werden muss.
Hat die Wohnungsbaupolitik, für die Thomas Keck steht, die
Wahl entschieden? Mein Eindruck ist, dass der Druck in dieser Richtung so hoch
ist, dass wohl jedem der Kandidaten zugetraut wurde, dieses Thema energisch
anzupacken. Denn sonst kannst Du einpacken.
Aber es lohnt sich beim bevorstehenden Kommunalwahlkampf ein Blick auf eine ganz andere Entwicklung zu werfen.115.862 Menschen lebten im Januar 2019 in unserer Stadt. Das sind exakt 100 Menschen mehr als im Dezember 2017. (Diese Zahlen - so mein Eindruck - muss man sich umso mühsamer zusammensuchen, je mehr sie gegen die eigene Wunschvorstellung eine Stagnation widergeben.) Nichts zu sehen von einem Wachstum um 1000 Einwohner pro Jahr. Und das liegt nicht am Wohnungsmangel. Reutlingen ist bei weitem nicht so attraktiv, wie uns unsere Stadtverwaltung und unsere Stadträte in den vergangenen Jahren weiszumachen pflegten. Das Wachstum kam wohl vor allem durch die Flüchtlinge, die nun eher die Stadt verlassen als mehr werden. Ob sich damit auch der Wohnungsmarkt abschwächt, ist eine andere Frage - vor allem eine der Nachfrage.
Aber es lohnt sich beim bevorstehenden Kommunalwahlkampf ein Blick auf eine ganz andere Entwicklung zu werfen.115.862 Menschen lebten im Januar 2019 in unserer Stadt. Das sind exakt 100 Menschen mehr als im Dezember 2017. (Diese Zahlen - so mein Eindruck - muss man sich umso mühsamer zusammensuchen, je mehr sie gegen die eigene Wunschvorstellung eine Stagnation widergeben.) Nichts zu sehen von einem Wachstum um 1000 Einwohner pro Jahr. Und das liegt nicht am Wohnungsmangel. Reutlingen ist bei weitem nicht so attraktiv, wie uns unsere Stadtverwaltung und unsere Stadträte in den vergangenen Jahren weiszumachen pflegten. Das Wachstum kam wohl vor allem durch die Flüchtlinge, die nun eher die Stadt verlassen als mehr werden. Ob sich damit auch der Wohnungsmarkt abschwächt, ist eine andere Frage - vor allem eine der Nachfrage.
Damit wird ein anderes Problem vollends sichtbar - und den
Stadträten mächtig auf die Füße fallen: der demographische Wandel. Er war im
Wahlkampf gar kein Thema. Aber es wird in den nächsten Jahren das Thema
schlechthin werden - ein Thema, das sich nicht mehr verheimlichen lässt.
Der neue Oberbürgermeister hatte zum Eingang seines
Wahlkampfes das Thema "Bürgergesellschaft" adressiert. Ja, es wird
sein Thema werden.
Fortsetzung folgt
9 Kommentare:
"Das Gefühl, einer Elite ausgesetzt zu sein, die sich vor allem um sich selbst kümmert, ist unter den Bürgern ziemlich weit verbreitet und lässt sie resignieren."
Elite???
Schön wärs. Das Gefühl sagt vielmehr, es handelt sich überwiegend um üble Schmarotzer und eklige Abzocker. Zur Wahl steht nur noch Not oder Elend. Wie in USA Trump oder Clinton. Dann ist doch eh alles egal und man muss gar nicht mehr wählen!
Bei dem Begriff Elite geht mir immer das Adorno-Zitat durch den Kopf: "Elite kann man sein, nur darf man sich nie als Elite fühlen." Gegen diese Regel wird seit 1995 immer wieder verstoßen. Eliteuniversität, Unternehmenselite etc. Am Ende definiert die Elite selbst, wer Elite ist.
Der Elite gegenüber stehen wir – das Volk, die Wähler die „Masse“ oder auch nur Plebs und „Durchschnitt“ („Normalbürger“)...
Wählen wir lieber einen von uns!
Die Elite spricht vom Prekariat, weil sie Abschaum nicht aussprechen kann...
Irren ist menschlich – und Politiker sind auch keine andere Spezies...
Als elitärer, vom Volk bezahlter, Nichtskönner, z.B. die vielen bayrischen Verkehrsminister, würde ich erst mal meine Diäten erhöhen. 10 000 Euro im Monat ist schon etwas wenig für solche "Fachkräfte".
Und immer dran denken: Geld stinkt nicht, arme Leute schon.
Arme Leute stinken nicht- Schmutzfinken schon
Als Demokrat gehe ich wählen, Punkt. Die Kandidaten vor und nach
der Wahl madig zu machen, ist ganz schlechter Stil und erinnert an das
Geschwätz der rechten und linken Populisten, die nun wirklich nichts auf
die Reihe bringen. Bei der anstehenden Kommunalwahl können die teilweise
vermissten volksnahen Leute gewählt werden. Und wer dann immer noch nicht
seinen Arsch hoch kriegt - Maul halten.
Die CDU hätte ohne die AFD aber auch nichts auf die Reihe gebracht. Die hätten so weiter gedöst wie seit über 30 Jahren.
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