1985: »Manchmal erscheint mir, als ob eine Pestepidemie über die Menschheit gekommen wäre und sie gerade in ihrer charakteristischsten Fähigkeit getroffen hätte, das heißt eben im Gebrauch der Worte, eine Pest der Sprache, die sich als Verlust von Unterscheidungsvermögen und Unmittelbarkeit ausdrückt, als ein Automatismus, der dazu neigt, den Ausdruck auf die allgemeinsten, anonymsten und abstraktesten Formeln zu verflachen, die Bedeutungen zu verwässern, die Ausdrucksecken und -kanten abzuschleifen und jeden Funken zu ersticken, der beim Zusammenprall der Worte mit neuen Situationen entstehen.«
Italo Galvino (1923-1985), italienischer Schriftsteller in
seinem Buch "Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend", Seite 84
Wie in Reutlingen
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Der folgende Satz könnte auch für Reutlingen stehen:
"Als weltoffene Stadt ziehen wir mit attraktiven Studien-, Ausbildungs- und
Arbeitsplätzen, vielfältigen Freizeit-, Naherholungs-, Kultur- und
Bildungsangeboten junge Menschen und Familien, immer mehr Erwerbstätige und
aktive Senioren an." Mit diesen Worten leitet der Oberbürgermeister von
Heilbronn Harry Mergel die 2015 gemeinsam von Verwaltung, Rat und Bürgerschaft
erstellte "Stadtkonzeption" mit Blick auf das Jahr 2030 ein. Ein
lieber, junger Freund - voller Zukunftshoffnung - hat mir dieser Tage
empfohlen, mir diese Konzeption mal näher anzuschauen - schon wegen der starken
Bürgerbeteiligung. Er war ganz begeistert.
Ich habe es versucht - und bin eher entgeistert.
"Die Zukunft beginnt jetzt." So eröffnet diese
Studie ihre Vorschläge für den Zeitraum bis Ende des kommende Jahrzehnts. Aber
die Zukunft hört danach auch gleich auf. Denn die Inhalte dieser Studie sind
tot, gestorben an der Pestepidemie der Worte. An dieser Studie hat kein
Stadtrat mitgeschrieben, kein Bürger, kein Mensch ohne Amt. PR- und
Marketing-Profis haben hier sich mit ihren Floskeln hineingeschnurrt. Da ist
von "Strategiefeldern" die Rede, die von
"Schlüsselprojekten" gedüngt werden. Sie ähneln eher einer Aufzählung
von Selbstverständlichkeiten, als dass sie in irgendeiner Form der Stadt
irgendein Alleinstellungsmerkmal geben. Da ist viel "Bullshit-Bingo"
im Spiel.
Alles gewinnt "immer mehr" an Bedeutung, ohne viel
zu sagen, woraus dieses "Immer-mehr" besteht. Jeder, der in der
Sprache lebt, weiß, dass "immer mehr" das Wieselwort aller PR ist.
"Immer mehr" ist PR, ist Marketing. Und man wird nach quälender,
elender Lektüre dieses Papiers, das es elektronisch HIER
gibt, den Eindruck nicht los, dass sich
diese Stadt zu allem verpflichtet fühlt, was gerade vor die Flinte der
Zukunftsforscher gekommen ist, ohne wirklich konkret zu werden. Alles ist hier
nichts. Wie gesagt: Lesen Sie selbst!
Ersetzen Sie dabei das Wort Heilbronn hie und da durch das
Wort Reutlingen, und Sie wissen, dass es egal ist, ob Sie hier oder dort leben.
Man kann hier wie dort "Heimat findeN", also: hier wie doRT.
Heilbronn ist sich selbst Heilbronn. Das plakatiert sich
durch alle Botschaften der 182seitigen Konzeption. Die Bürgerbeteiligung -
jenseits aller Profis und "hired guns" - schimmert nirgendwo wirklich
durch. Es ist ein Top-Down-Ansatz - wie alle anderen auch. Die Zukunft gewinnt
hier nichts, sie brät sich im eigenen Saft.
Wenn ich als Bürger einen Vorschlag machen dürfte, dann
würde ich das Thema "Stadtkonzeption" den Profis wegnehmen. Der
Stadtrat mit all seinen 40 ehrenamtlichen Mitgliedern stattet sich selbst mit
einem Etat von 250.000 Euro aus und zieht durch die ganze Stadt, um
Bürgermeinungen einzuholen, fasst selbst zusammen, was er an Rat und Tat zu
hören und zu sehen bekommt, entwickelt eine eigene Vorgehensweise, schreibt
sein eigenes Papier, setzt seine eigene Marke, die dann auch unsere werden
kann. Zum Beispiel mit unserer Antwort zum Thema "Hochhäuser", "Wohnungssituation" oder
"Stadtbahn" oder "Fahrverbot".
Heraus kommen wird dann jene Art von Erkenntnis, die nach
Meinung von Italo Galvino dessen Schriftstellerkollege Robert Musil hatte: "Für
Musil ist Erkenntnis das Bewusstsein zweier entgegengesetzter Pole: den einen
davon nennt er bald Exaktheit, bald Mathematik, bald reinen Geist, bald auch
militärische Denkungsart. den anderen bald Seel, bald Irrationalität, bald
Menschlichkeit, bald Chaos." Man könnte auch sagen: das eine sit
Stadtplanung, das andere Bürgermeinung. Es ist genau das Spannungsfeld zwischen
Funktion und Emotion.
Es kommt auf das Dazwischen an: Dann funkt's. Zwischen
beiden. Und zwischen beiden steht der Stadtrat, von uns gewählt, als unser
Vertreter. Niemand anders. Der Oberbürgermeister steht darüber. Von uns genau
mit dieser Aufgabe gewählt.
Der Stadtrat könnte seine natürliche Autorität mächtig
stärken, könnte sich als Person und nicht als Partei einbringen, könnte die Wendemarke
unserer Stadt sein. Sonst bekommen wir auch weiterhin Papiere, in denen zwar alle
Themen angesprochen werden, aber in denen nichts gesagt wird.
Anmerkung:
Auf "You Tube"
habe ich mir den Film zur Marke Heilbronn angeschaut. Mir hat's gefallen. 2155
Aufrufe gab's seit Juli 2017. Sieben Usern gefiel der Film, vier fanden ihn
nicht so gut. Ich bin der Achte, der auf "gefällt" gedrückt hat. Kommentare
gibt es übrigens keine. Die Bürgerbeteiligung ist also Schweigen. Zumindest auf
YouTube.Bildertanz-Quelle: K. Jähne (Heilbronn) / Sammlung Bildertanz (RT)
6 Kommentare:
Der folgende Satz könnte auch für Reutlingen stehen - ein klassischer Fall von Irrealis!
Warum?
Reutlingen scheint aus der Ferne weder weltoffen noch attraktiv oder vielfältig – eher monoton, lahm und langweilig. Und alles andere als weltoffen, sondern spießig, kleinkariert und anmaßend.
Positiv ausgedrückt: Bodenständig, konsequent, entsagend und einfach schlicht. Das vielleicht Beste an Reutlingen ist die Umgehungsstraße...
Manchmal hängt es (leider!) auch am Stadtrat. Sind das sture Innovationsallergiker oder aber lernbereite, aufnahmefähige Vertreter der Interessen der Bürgerschaft – und nicht ihrer eigenen. Offensichtlich gibt es auch auf dieser Ebene gravierende Unterschiede zwischen Heilbronn und Reutlingen...
Hallo Stadträtekritiker,
die sind - ganz im Gegensatz zu euch - gewählt!
Da ich aber nicht glaube daß deren Wähler per se dumm sind müssen es wohl Andere sein - oder?
Gruß aus Lichtenstein
Michael Staiger
Man kann nur wählen, was zur Wahl steht. Oder nicht wählen. Und das wird immer populärer, eben weil die Wähler intelligent sind...
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