Donnerstag, 22. August 2019

Vorbild Heilbronn?


1985: »Manchmal erscheint mir, als ob eine Pestepidemie über die Menschheit gekommen wäre und sie gerade in ihrer charakteristischsten Fähigkeit getroffen hätte, das heißt eben im Gebrauch der Worte, eine Pest der Sprache, die sich als Verlust von Unterscheidungsvermögen und Unmittelbarkeit ausdrückt, als ein Automatismus, der dazu neigt, den Ausdruck auf die allgemeinsten, anonymsten und abstraktesten Formeln zu verflachen, die Bedeutungen zu verwässern, die Ausdrucksecken und -kanten abzuschleifen und jeden Funken zu ersticken, der beim Zusammenprall der Worte mit neuen Situationen entstehen.«

Italo Galvino (1923-1985), italienischer Schriftsteller in seinem Buch "Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend", Seite 84



Wie in Reutlingen


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer




Der folgende Satz könnte auch für Reutlingen stehen: "Als weltoffene Stadt ziehen wir mit attraktiven Studien-, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, vielfältigen Freizeit-, Naherholungs-, Kultur- und Bildungsangeboten junge Menschen und Familien, immer mehr Erwerbstätige und aktive Senioren an." Mit diesen Worten leitet der Oberbürgermeister von Heilbronn Harry Mergel die 2015 gemeinsam von Verwaltung, Rat und Bürgerschaft erstellte "Stadtkonzeption" mit Blick auf das Jahr 2030 ein. Ein lieber, junger Freund - voller Zukunftshoffnung - hat mir dieser Tage empfohlen, mir diese Konzeption mal näher anzuschauen - schon wegen der starken Bürgerbeteiligung. Er war ganz begeistert.

Ich habe es versucht - und bin eher entgeistert.

"Die Zukunft beginnt jetzt." So eröffnet diese Studie ihre Vorschläge für den Zeitraum bis Ende des kommende Jahrzehnts. Aber die Zukunft hört danach auch gleich auf. Denn die Inhalte dieser Studie sind tot, gestorben an der Pestepidemie der Worte. An dieser Studie hat kein Stadtrat mitgeschrieben, kein Bürger, kein Mensch ohne Amt. PR- und Marketing-Profis haben hier sich mit ihren Floskeln hineingeschnurrt. Da ist von "Strategiefeldern" die Rede, die von "Schlüsselprojekten" gedüngt werden. Sie ähneln eher einer Aufzählung von Selbstverständlichkeiten, als dass sie in irgendeiner Form der Stadt irgendein Alleinstellungsmerkmal geben. Da ist viel "Bullshit-Bingo" im Spiel.

Alles gewinnt "immer mehr" an Bedeutung, ohne viel zu sagen, woraus dieses "Immer-mehr" besteht. Jeder, der in der Sprache lebt, weiß, dass "immer mehr" das Wieselwort aller PR ist. "Immer mehr" ist PR, ist Marketing. Und man wird nach quälender, elender Lektüre dieses Papiers, das es elektronisch HIER gibt,  den Eindruck nicht los, dass sich diese Stadt zu allem verpflichtet fühlt, was gerade vor die Flinte der Zukunftsforscher gekommen ist, ohne wirklich konkret zu werden. Alles ist hier nichts. Wie gesagt: Lesen Sie selbst!

Ersetzen Sie dabei das Wort Heilbronn hie und da durch das Wort Reutlingen, und Sie wissen, dass es egal ist, ob Sie hier oder dort leben. Man kann hier wie dort "Heimat findeN", also: hier wie doRT.

Heilbronn ist sich selbst Heilbronn. Das plakatiert sich durch alle Botschaften der 182seitigen Konzeption. Die Bürgerbeteiligung - jenseits aller Profis und "hired guns" - schimmert nirgendwo wirklich durch. Es ist ein Top-Down-Ansatz - wie alle anderen auch. Die Zukunft gewinnt hier nichts, sie brät sich im eigenen Saft.

Wenn ich als Bürger einen Vorschlag machen dürfte, dann würde ich das Thema "Stadtkonzeption" den Profis wegnehmen. Der Stadtrat mit all seinen 40 ehrenamtlichen Mitgliedern stattet sich selbst mit einem Etat von 250.000 Euro aus und zieht durch die ganze Stadt, um Bürgermeinungen einzuholen, fasst selbst zusammen, was er an Rat und Tat zu hören und zu sehen bekommt, entwickelt eine eigene Vorgehensweise, schreibt sein eigenes Papier, setzt seine eigene Marke, die dann auch unsere werden kann. Zum Beispiel mit unserer Antwort zum Thema "Hochhäuser", "Wohnungssituation" oder "Stadtbahn" oder "Fahrverbot".

Heraus kommen wird dann jene Art von Erkenntnis, die nach Meinung von Italo Galvino dessen Schriftstellerkollege Robert Musil hatte: "Für Musil ist Erkenntnis das Bewusstsein zweier entgegengesetzter Pole: den einen davon nennt er bald Exaktheit, bald Mathematik, bald reinen Geist, bald auch militärische Denkungsart. den anderen bald Seel, bald Irrationalität, bald Menschlichkeit, bald Chaos." Man könnte auch sagen: das eine sit Stadtplanung, das andere Bürgermeinung. Es ist genau das Spannungsfeld zwischen Funktion und Emotion.

Es kommt auf das Dazwischen an: Dann funkt's. Zwischen beiden. Und zwischen beiden steht der Stadtrat, von uns gewählt, als unser Vertreter. Niemand anders. Der Oberbürgermeister steht darüber. Von uns genau mit dieser Aufgabe gewählt.

Der Stadtrat könnte seine natürliche Autorität mächtig stärken, könnte sich als Person und nicht als Partei einbringen, könnte die Wendemarke unserer Stadt sein. Sonst bekommen wir auch weiterhin Papiere, in denen zwar alle Themen angesprochen werden, aber in denen nichts gesagt wird. 
Anmerkung: Auf "You Tube" habe ich mir den Film zur Marke Heilbronn angeschaut. Mir hat's gefallen. 2155 Aufrufe gab's seit Juli 2017. Sieben Usern gefiel der Film, vier fanden ihn nicht so gut. Ich bin der Achte, der auf "gefällt" gedrückt hat. Kommentare gibt es übrigens keine. Die Bürgerbeteiligung ist also Schweigen. Zumindest auf YouTube.
 Bildertanz-Quelle: K. Jähne (Heilbronn) / Sammlung Bildertanz (RT)

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Der folgende Satz könnte auch für Reutlingen stehen - ein klassischer Fall von Irrealis!

Raimund Vollmer hat gesagt…

Warum?

Anonym hat gesagt…

Reutlingen scheint aus der Ferne weder weltoffen noch attraktiv oder vielfältig – eher monoton, lahm und langweilig. Und alles andere als weltoffen, sondern spießig, kleinkariert und anmaßend.
Positiv ausgedrückt: Bodenständig, konsequent, entsagend und einfach schlicht. Das vielleicht Beste an Reutlingen ist die Umgehungsstraße...

Anonym hat gesagt…

Manchmal hängt es (leider!) auch am Stadtrat. Sind das sture Innovationsallergiker oder aber lernbereite, aufnahmefähige Vertreter der Interessen der Bürgerschaft – und nicht ihrer eigenen. Offensichtlich gibt es auch auf dieser Ebene gravierende Unterschiede zwischen Heilbronn und Reutlingen...

Anonym hat gesagt…

Hallo Stadträtekritiker,

die sind - ganz im Gegensatz zu euch - gewählt!
Da ich aber nicht glaube daß deren Wähler per se dumm sind müssen es wohl Andere sein - oder?

Gruß aus Lichtenstein
Michael Staiger

Anonym hat gesagt…

Man kann nur wählen, was zur Wahl steht. Oder nicht wählen. Und das wird immer populärer, eben weil die Wähler intelligent sind...