»Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität.«
Arno Schmidt (1914-1979), deutscher Schriftsteller
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Folgt man der Berichterstattung über die
Informationsveranstaltung des Regierungspräsidenten (RP) zum Bau der
Dietwegtrasse, ist man doch erstaunt, wie gegenwartsbesessen die über allem und
alles geordnete Verwaltung in Tübingen das Thema angeht. Dass man noch keine
Antworten auf den bundesgesetzgeberischen Auftrag vorweisen kann, wundert
niemanden. Warum aber gab es dann diese Veranstaltung? Vielleicht weil man
selbst Fragen hören wollte?
Was man bekam, war die erwarteten Aussagen.
Eine Pin-Wand war dazu errichtet worden, die der GEA denn
auch heute auszugsweise ablichtet. Und so weit man die Post-it-Zettel lesen
konnte, waren das vor allem Statements oder Fragen in Richtung Umweltbelastung
und Lärmschutz. Dabei wird das, was ist, einfach in die Zukunft verstärkt: noch
mehr Lärm, noch mehr Dreck, noch mehr Verkehr, noch mehr Laster. Das sagt uns
die Realität der letzten 50 Jahre. Das sagen uns Messungen. Das sagen wir uns
selber. Und am liebsten in Form von Zahlen.
Dass man für solche Antworten beim Bau der Dietwegtrasse aktuelle
Statistiken in Form von Verkehrszählungen benötigt, war denn auch keine
Botschaft, die einen irgendwie überrascht. Auf diese Ergebnisse müssen wir nun warten, obwohl sie uns gar
nichts darüber sagen werden, wie es in den nächsten 50 Jahren aussehen wird. Das
verlangt Phantasie und gibt jedem, der sich dazu äußert die Chance, sich zu
blamieren. Wie gerne lachen wir doch über Leute, die anders denken. Wir sagen uns
lieber die Vergangenheit vorher als die Zukunft. Da sind Beamte kein bisschen
besser. Deswegen werden sie auch nicht sehr gerne konkret.
Dabei war es doch noch nie so einfach über die Zukunft zu
reden wie heute im Zeitalter der Simulationen und virtuellen Realitäten, der Super- und Quantencomputer.
Eine Grafik aus der Veranstaltung 2012. Im Foroarchiv des Autors wiederentdeckt. |
Eine Verkehrszählung wird nichts darüber sagen, wie hoch der
Anteil der Elektroautos am Gesamtverkehr in zehn oder 20 Jahren sein wird. Aber
man kann die unmittelbare Umwelt- und Lärmbelastung simulieren - sogar bei
unterschiedlichen Rahmenbedingungen.
Eine Verkehrszählung wird nichts darüber sagen, wie sich das
LKW-Aufkommen verändert, wenn man deren Mautgebühren nach Zuladungsgewicht
bemisst. Jeder, der über unsere Straßen fährt, fragt sich doch, wie voll wohl
der Laderaum der LKWs ist, die wir wegen der Verbotsschilder nicht überholen
dürfen. Wie hoch ist der Anteil an Leerfahrten? Wird es nicht im Zeitalter von Cloud- und Edge-Computing andere
Logistikkonzepte geben? Was ist mit den Mammuttrucks nach australischem Muster?
Werden sie auch über solche Bundesstraßen rollen? Muss das sein? Gibt es da
nicht neue Steuerungsmechanismen? Wenigstens sollte man jetzt schon mal danach
schauen, ob nicht so mancher Schwerlaster ein hinteres Reifenpaar hochgezogen
hat, um die Pneus zu schonen?
Wir wissen auch nicht, ob eine zukünftige Regierung, die
Ölheizungen verbieten will, nicht auch demnächst den Dieselbetrieb von
Fahrzeugen über Stadtgebiet grundsätzlich verhindern will. Vielleicht wird es
am Stadtrand Logistikzentren geben, die als Umschlagplatz für Transporte in die
Stadt dienen. Nur Elektro-Sprinter dürfen durch und in die Stadt, die Trucks
aber müssen alles großräumig umfahren. LKW-Hersteller denken genau darüber nach.
Und auch sie spielen mit der Brennstoffzelle als Batterie-Ersatz, was nichts
daran ändert, dass dann auch LKWs mit Elektroantrieb fahren, also viel leiser
und wohl auch umweltfreundlicher sind.
Eine weitere Grafik aus der Veranstaltung 2012. Im Foroarchiv des Autors wiederentdeckt. |
Natürlich sind das alles Fragen, die den Bau der
Dietwegtrasse nicht unbedingt verhindern werden. Sie würden aber zeigen, dass wir
in Richtung einer sehr dynamischen und eben nicht statischen Zukunft blicken
sollen. "Die Mobilität muss sich wandeln", wird unser
Oberbürgermeister Thomas Keck zitiert. Wer so etwas sagt, muss auch Ideen
fordern, die uns veranschaulichen, wie sich dies ganz konkret ändern kann. Dann
liegt es an uns, die Zukunftsfähigkeit zu bewerten oder uns überraschen zu
lassen. Es muss ja nicht gleich so böse enden wie beim Handy, das heute jeder
als Smartphone besitzt - mit amerikanischer Softwaretechnologie. Es ist keine
zwanzig Jahre her, dass Europa hier den technologischen Vorsprung hatte. Wir
haben ihn vor lauter Gegenwartsbesessenheit verspielt. Denken wir doch einmal
an die Zukunft, die länger dauert als unser Leben.
Dieser Tage haben drei Amerikaner den Wirtschaftsnobelpreis
bekommen, weil sie nicht irgendeiner großartigen Theorie (oder Ideologie)
frönen, die zumeist auf ziemlich breit aufgestellten, inhaltlich aber eher
jämmerlichen, enggeführten Datenbasen gründeten, sondern weil sie im Kleinen experimentierten,
aber dabei eine breite, vielfältige Datenbasis zuließen. So entdeckten sie
Abhängigkeiten, die man vorher ignoriert hatte, aber eine enorme Wirkung
hatten.
Vielleicht könnte hinter dem Dietweg ein solches Experiment stecken. Vielleicht.
Wollen wir das? Denn schon beschleicht einen wieder die Angst, dass man damit
nur den insgeheim nach wie vor statischen und phantasielosen Plänen des RP ein
Alibi verschafft. Auch das kann eine Unterstellung sein, weil uns die
Erfahrungen lehren, dass man behördlichen Planungen immer misstrauisch
gegenüber sein sollte.
Die Zukunft ist überall. Nicht nur in einer Verkehrszählung,
die uns wahrscheinlich das erzählen wird, was wir ohnehin erwarten. Die Zukunft
steckt in uns selbst.
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen