Donnerstag, 24. Oktober 2019

DIETWEGTRASSE: DIE VERGESSENE ZUKUNFT



»Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität.«

Arno Schmidt (1914-1979), deutscher Schriftsteller

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Vor sieben Jahren - so lange ist es her - informierte die Stadt uns über die Dietwegtrasse. Damals kamen - wie wohl auch diese Woche - vor allem Lokalpolitiker zu der Veranstaltung in der Wittumhalle. Jetzt antwortete das Regierungspräsidium.
Folgt man der Berichterstattung über die Informationsveranstaltung des Regierungspräsidenten (RP) zum Bau der Dietwegtrasse, ist man doch erstaunt, wie gegenwartsbesessen die über allem und alles geordnete Verwaltung in Tübingen das Thema angeht. Dass man noch keine Antworten auf den bundesgesetzgeberischen Auftrag vorweisen kann, wundert niemanden. Warum aber gab es dann diese Veranstaltung? Vielleicht weil man selbst Fragen hören wollte? 
Was man bekam, war die erwarteten Aussagen.
Eine Pin-Wand war dazu errichtet worden, die der GEA denn auch heute auszugsweise ablichtet. Und so weit man die Post-it-Zettel lesen konnte, waren das vor allem Statements oder Fragen in Richtung Umweltbelastung und Lärmschutz. Dabei wird das, was ist, einfach in die Zukunft verstärkt: noch mehr Lärm, noch mehr Dreck, noch mehr Verkehr, noch mehr Laster. Das sagt uns die Realität der letzten 50 Jahre. Das sagen uns Messungen. Das sagen wir uns selber. Und am liebsten in Form von Zahlen.
Dass man für solche Antworten beim Bau der Dietwegtrasse aktuelle Statistiken in Form von Verkehrszählungen benötigt, war denn auch keine Botschaft, die einen irgendwie überrascht. Auf diese Ergebnisse  müssen wir nun warten, obwohl sie uns gar nichts darüber sagen werden, wie es in den nächsten 50 Jahren aussehen wird. Das verlangt Phantasie und gibt jedem, der sich dazu äußert die Chance, sich zu blamieren. Wie gerne lachen wir doch über Leute, die anders denken. Wir sagen uns lieber die Vergangenheit vorher als die Zukunft. Da sind Beamte kein bisschen besser. Deswegen werden sie auch nicht sehr gerne konkret.
Dabei war es doch noch nie so einfach über die Zukunft zu reden wie heute im Zeitalter der Simulationen und virtuellen Realitäten, der Super- und Quantencomputer.  
Eine Grafik aus der Veranstaltung 2012. Im Foroarchiv des Autors wiederentdeckt.
Eine Verkehrszählung wird nichts darüber sagen, wie hoch der Anteil der Elektroautos am Gesamtverkehr in zehn oder 20 Jahren sein wird. Aber man kann die unmittelbare Umwelt- und Lärmbelastung simulieren - sogar bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen.
Eine Verkehrszählung wird nichts darüber sagen, wie sich das LKW-Aufkommen verändert, wenn man deren Mautgebühren nach Zuladungsgewicht bemisst. Jeder, der über unsere Straßen fährt, fragt sich doch, wie voll wohl der Laderaum der LKWs ist, die wir wegen der Verbotsschilder nicht überholen dürfen. Wie hoch ist der Anteil an Leerfahrten? Wird es nicht im Zeitalter von Cloud- und Edge-Computing andere Logistikkonzepte geben? Was ist mit den Mammuttrucks nach australischem Muster? Werden sie auch über solche Bundesstraßen rollen? Muss das sein? Gibt es da nicht neue Steuerungsmechanismen? Wenigstens sollte man jetzt schon mal danach schauen, ob nicht so mancher Schwerlaster ein hinteres Reifenpaar hochgezogen hat, um die Pneus zu schonen?
Wir wissen auch nicht, ob eine zukünftige Regierung, die Ölheizungen verbieten will, nicht auch demnächst den Dieselbetrieb von Fahrzeugen über Stadtgebiet grundsätzlich verhindern will. Vielleicht wird es am Stadtrand Logistikzentren geben, die als Umschlagplatz für Transporte in die Stadt dienen. Nur Elektro-Sprinter dürfen durch und in die Stadt, die Trucks aber müssen alles großräumig umfahren. LKW-Hersteller denken genau darüber nach. Und auch sie spielen mit der Brennstoffzelle als Batterie-Ersatz, was nichts daran ändert, dass dann auch LKWs mit Elektroantrieb fahren, also viel leiser und wohl auch umweltfreundlicher sind. 
Eine weitere Grafik aus der Veranstaltung 2012. Im Foroarchiv des Autors wiederentdeckt.
 
Natürlich sind das alles Fragen, die den Bau der Dietwegtrasse nicht unbedingt verhindern werden. Sie würden aber zeigen, dass wir in Richtung einer sehr dynamischen und eben nicht statischen Zukunft blicken sollen. "Die Mobilität muss sich wandeln", wird unser Oberbürgermeister Thomas Keck zitiert. Wer so etwas sagt, muss auch Ideen fordern, die uns veranschaulichen, wie sich dies ganz konkret ändern kann. Dann liegt es an uns, die Zukunftsfähigkeit zu bewerten oder uns überraschen zu lassen. Es muss ja nicht gleich so böse enden wie beim Handy, das heute jeder als Smartphone besitzt - mit amerikanischer Softwaretechnologie. Es ist keine zwanzig Jahre her, dass Europa hier den technologischen Vorsprung hatte. Wir haben ihn vor lauter Gegenwartsbesessenheit verspielt. Denken wir doch einmal an die Zukunft, die länger dauert als unser Leben.
Dieser Tage haben drei Amerikaner den Wirtschaftsnobelpreis bekommen, weil sie nicht irgendeiner großartigen Theorie (oder Ideologie) frönen, die zumeist auf ziemlich breit aufgestellten, inhaltlich aber eher jämmerlichen, enggeführten Datenbasen gründeten, sondern weil sie im Kleinen experimentierten, aber dabei eine breite, vielfältige Datenbasis zuließen. So entdeckten sie Abhängigkeiten, die man vorher ignoriert hatte, aber eine enorme Wirkung hatten. 
Vielleicht könnte hinter dem Dietweg ein solches Experiment stecken. Vielleicht. Wollen wir das? Denn schon beschleicht einen wieder die Angst, dass man damit nur den insgeheim nach wie vor statischen und phantasielosen Plänen des RP ein Alibi verschafft. Auch das kann eine Unterstellung sein, weil uns die Erfahrungen lehren, dass man behördlichen Planungen immer misstrauisch gegenüber sein sollte.
Die Zukunft ist überall. Nicht nur in einer Verkehrszählung, die uns wahrscheinlich das erzählen wird, was wir ohnehin erwarten. Die Zukunft steckt in uns selbst.
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer





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