Das Postareal: Lager fürs Naturkundemuseum oder Kulturfabrik?Bildertanz-Quelle: Dimitri Drofitsch |
Natur gegen Kultur - Ein Reutlinger Verdrängungswettbewerb?
Ein Lösungsversuch von Raimund Vollmer
1. Die Kritik: Allein der Name "Kulturfabrik" war
alles andere als glücklich. Aber es ist nun einmal seit einem halben
Jahrhundert höchste Reutlinger Kunst, danebenzugreifen. Reutlingen, so lange schon die
verkrampfte Imitation einer Großstadt, findet einfach nicht zu sich selbst. Wer
aus einer Mauerlücke "die engste Straße der Welt" fabriziert, wer
historische Bauten wie den Zwiefalter Hof in ein hässliches Parkhaus
verwandelt, wer eine heißgeliebte, denkmalwürdige Straßenbahn hemmungslos den
profanen Dieselriesen opfert, wer das "Tor zur Schwäbischen Alb", den
weiten Blick auf dieses Panorama, durch Hochbauten zu versperren sucht, wer
Erkennungsmerkmale wie den Springbrunnen am Bahnhof zuschüttet und zugleich die
Stadt zu einer abstrakten Marke hochstilisiert, der erfindet sich die Welt, wie
sie ihm gefällt: ohne intellektuelles Rückgrat, ohne Auseinandersetzung mit den
Künsten, ohne Rück-Sicht auf sich selbst. Kultur ist dann nur noch selbstgefällige, narzisstische Nabelschau.
2018: Der Markenfindungsprozess: Kultur als Spektakel BildertanzQuelle: RV |
Aus einer alten, sich selbst langweilenden und vergessenden
Reichsstadt sollte vor zwei Jahren eine Marke gewonnen werden, die Reutlingen endgültig
in die künstliche Zeitlosigkeit des ewigen Jetzt entführen durfte. Eine Stadt, die
sich ein Image fabriziert, hergestellt in den Automaten einer Marketingfabrik: das
war der Topdown-Mechanismus, wie ihn die damalige Oberbürgermeisterin Barbara
Bosch schätzte. Das Experiment ging gründlich daneben, produzierte in der
Stadthalle allenfalls eine komödiantische "Kultur des Spektakels", um
eine Lieblingswendung des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa (*1936)
zu verwenden. Die Marke - ein Produkt der "Kulturindustrie". Schon
dieser Begriff signalisiert (wie der der "Kulturfabrik"), wohin die
Kultur unentwegt vereinnahmt wird.
2013: »Am erschreckendsten an der Entwicklung in der modernen Kunst ist aber die Tatsache, dass es mittlerweile überhaupt kein objektives Kriterium mehr gibt, mit dem man ein Kunstwerk hoch- oder geringschätzen könnte, es lässt sich in keine Hierarchie mehr einordnen.«Mario Vargas Llosa (*1936), peruanischer Schriftsteller und Nobelpreisträger
2. Die Herausforderung. Nun sollen aus dem Postareal, das
keiner mehr braucht, nicht mehr jene freien Künstlerateliers werden, die
Experten der Stadt im Umfeld einer Kulturkonzeption vorschlugen, sondern die
Räumlichkeiten sollen dem Naturkundemuseum als Lager zugeschlagen werden. Der
ursprüngliche Ansatz wäre ohnehin widersinnig gewesen. Kunst-Ateliers haben mit
dem Betrieb einer durchgeregelten "Fabrik" nichts zu tun. Jetzt soll also
stattdessen - "aus Sicht der Verwaltung" - daraus eine Büro-, Lager-
und Werkstatt für das Naturkundemuseum werden. Analog zur
"Kulturfabrik" - bekämen wir demnach eine "Naturfabrik" für
den Museumsbetrieb. Nach dem Wegfall des Heinzelmann-Areals, das dem
Naturkundemuseum bislang als Lager diente, wäre das Postareal die neue
Zwischenstation. So die nachdrückliche Empfehlung der Verwaltung.
Der Gemeinderat wird sich diesem Vorschlag ganz bestimmt
nicht verschließen können. Natur ist in dieser coronalen Epoche immer besser
als Kultur, die ohnehin momentan zu einem Soforthilfeanspruch depraviert. Die
Natur aber, die in dem von der EU ausgerufenen Klimanotstand einen mächtigen
und finanziell prächtig ausgestatteten Partner hat, ist unser Thema schlechthin
- von existenzieller Bedeutung. Da geht es um die Substanz. Dabei hat man es hier
mit toten Objekten der Natur zu tun, nicht mit störrischen Subjekten der
Gesellschaft, mit Künstlern. Sie stehen allgemein in dem Verdacht, dass man sie
nicht steuern kann. Schon gar nicht kann man vorherbestimmen, was an Produkten am
Ende des kreativen Prozesses bei ihnen herauskommt. Weder ein Picasso, noch ein
Grieshaber ließen sich je programmieren. Bildende und schreibende Künstler
denken auch nicht in den Kategorien von sturen Naturgesetzen. Sie setzen sich
eher über alle Regeln hinweg, vor allem die menschengemachten, ordnen sich
nicht unter. Ausführende Künste wie die Württembergische Philharmonie oder die
"Tonne", die mit vorgefertigten Produkten handeln, sind da schon bestimmbarer,
sie bekommen dann auch stets ihre Prachtbauten. Nicht nur in Reutlingen.
3. Das Dilemma. In der Kultur des Spektakels ist der
Komödiant der König, meint Mario Vargos Llosa. Die Reutlinger Stadthalle ist in
dieser Beziehung ein Königspalast. Die Comedians bringen Leben in die Halle für
alle. Dort ist alles "live", was auf der Bühne geschieht. Was gezeigt
wird, entsteht im Augenblick der Aufführung, auch wenn es vorher perfekt
vorbereitet wurde. In einem Museum, in einer Galerie entstehen in der Regel die
Dinge nicht dort, wo sie gezeigt werden, sondern ganz woanders - bei einem
Naturkundemuseum sogar oftmals Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen
vorher.
Alle Jahre wieder: Event statt Advent am Naturkundemuseum |
Jeder Kreative weiß, dass das, was er schöpft und zur Kultur addiert, niemals öffentlich, sondern immer privat entsteht - in einem zutiefst introvertierten,
einsamen, geheimen, eigentlich auch nicht steuerbaren Prozess. Dafür braucht
man keine Villa, keine Halle, keinen Saal, keinen Prachtbau - eigentlich noch
nicht einmal ein Areal. Allenfalls die Umsetzung benötigt dann den eigenen
Raum, das Atelier, das Studio, die Probebühne. Das Werk braucht die Werkstatt. Und
die kann überall sein. Das gilt für das Lager eines Museums, das seine Objekte
verwaltet und gestaltet, nicht minder. So sind beide in ihrem Anspruch auf einen
Platz etwa gleichrangig. Der Unterschied: Die Kunst lebt von dem Entstehen des
Neuen, das Museum von dem Erhalt des Alten. Was hat nun Vorrang? Der erste
Reflex sagt vielleicht: die Kunst. Die Vernunft kontert prompt: nein, das
Museum hat Priorität.
4. Die Lösung. Kann man nicht beides miteinander verbinden?
Das wäre schön, aber unmöglich, wenn man dem normalen Entweder-Oder unserer Stadtverwaltungen
folgt. Versuchen wir es trotzdem - nach dem Motto: "Die Kunst der Natur
und die Natur der Kunst".
So könnte es gehen: Die Stadt übergibt das Postareal dem
Naturkundemuseum. Aber ein Raum bleibt frei. Jeden Monat oder jedes Quartal bekommt
ein Künstler aus dem Kreis Reutlingen (oder auch nur der Stadt) die Chance, ein
tatsächliches Objekt aus dem Lagerbestand des Naturkundemuseums als geistige Vorlage
für ein eigenes Kunstwerk auszuwählen. Objekt und Kunstwerk werden dann im
Rahmen der Veranstaltungsreihe des Naturkundemuseums ausgestellt oder sonst wie
zur Darbietung gebracht. Das kann ein Bild, eine Plastik, ein musikalisches, literarisches
oder filmisches Werk sein. Ob die Stadt es dann endgültig erwirbt oder nicht, bleibt ihr
überlassen, muss ja hier auch nicht weiter verhandelt werden. Wenn sie wirklich
die Kunst vorbehaltlos fördern will (und nicht als gewährte Gunst darstellt),
dann honoriert sie das Werk in der Phase seiner Entstehung mit einer Pauschale.
Auf jeden Fall könnte dadurch manches Objekt aus den Beständen des
Naturkundemuseums den Weg zu einem Exponat schaffen, der ihm vielleicht sonst
noch lange verwehrt ist - weil es nicht ins Konzept passt oder längst vergessen ist. Ein wenig
Spektakel hätte man auch.
Herauskäme dann möglichweise etwas Einzigartiges -
vielleicht sogar wäre es eine echte Reutlinger Innovation, nicht etwas, was
andere Städte schon tausendmal vorher vorgemacht haben.
Natur und Kultur wären eins. Nennen wir es die "Reutlinger Naturkultur"...
Natur und Kultur wären eins. Nennen wir es die "Reutlinger Naturkultur"...
3 Kommentare:
"Die Stadt hat viel Potenzial, viele Stärken, viel Sympathisches", bekundete seinerzeit die damalige Rathaus-Chefin Barbara Bosch "aber die Reutlinger gehen recht distanziert damit um." Das ist ja auch vollkommen OK. Inwieweit aber die Bürger auf dem Weg zur Marke wirklich eingebunden werden – "Partizipatives Stadtmarketing" war das Stichwort – scheint mehr als fraglich. Man darf gespannt sein darauf, ob konstruktive Beiträge wie dieser irgendwann im Rathaus wahrgenommen werden. Und ob sie irgendwann vielleicht sogar ein Echo provozieren oder im Idealfall sogar als Denkanstöße in die Marketingkonzepte einfließen werden.
Die Spannung, lieber Kommentator, lässt mit jedem Tag mehr nach. Da kommt nix. (Obwohl ich es mit natürlich wünsche.) Partizipation heißt hier Ja-Sagen.
Da kommt nix – das ist wie beim HSV!
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