Donnerstag, 14. Januar 2021

Buchbesprechung: Reutlingen - eine Stadt im brutalen Wechsel


Es war die Zeit des Umsturzes, sagen noch heute alle spontan, die das Kriegsende miterlebt haben. Der Begriff „Befreiung“ wurde erst später, in den achtziger Jahren, und dann mit sehr viel Nachdruck von unserem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker unserem Gedenken auferlegt. Wer den wunderbaren Bildband des Reutlinger Journalisten Thomas Deuschle über die 40er Jahre in unserer Stadt, das „grausigste Jahrzehnt“, wie der Autor schreibt, in die Hand nimmt, wird genau in diesen Zwiespalt hineingeworfen. Umsturz war es ebenso wie Befreiung. Dass es der Autor und der Verlag gewagt haben, dieser fürchterlichen Epoche ein Bildband zu widmen, muss man sehr hoch anrechnen. Aber der Thomas kann’s auch einfach. Das „Wir“, mit dem er, der selbst kein Kind dieses Jahrzehnts ist, seine Texten in unsere eigene Befindlichkeit hineinzieht, macht den kompletten Wandel durch, den Umsturz und die Befreiung.  Und die vielen Bilder, die einen ebenso anheimeln wie befremden, ja bestürzen, zeigen uns ein Reutlingen, in dem sich Welt- und Ortsgeschehen gleichermaßen spiegeln. Wie eine Geisterstadt kommt einem da unsere Stadt mitunter vor, dann wieder ist man fasziniert von dem Leben in Reutlingen. Am meisten imponierte mir die Geschichte von Europas größtem Telepathen, von Nena Kara, der 1949 durch die Lande tingelte und die Reutlinger zu einem ganz besonderen Stadtrundgang einlud. Aber hier wird jeder etwas finden, was ihn irgendwie zutiefst berührt. Und zwar als Überraschung. (Ich wurde übrigens ein paarmal überrascht, möchte aber dazu nicht viel verraten, weil das der eigentliche Genuss dieses Buches ist.)  

Egal, wie alt Sie sind, ob sie die vierziger Jahre miterlebt haben oder nicht (wie wohl die meisten von uns), dieses Büchlein werden Sie lieben: Nicht nur wegen der vielen Geschichten und Bilder aus allen Aspekten des Lebens. Es zeigt auch die ganze Zerrissenheit, die wir in diesen coronalen Monaten, inzwischen auch an uns selbst erleben. So hat Thomas recht, wenn er gerne in die „Wir“-Form übergeht. Dieses Buch geht uns auf sehr edle Weise ganz persönlich an. Eine hohe Kunst – angesichts der äußerst schwierigen Thematik.

Raimund Vollmer

 

Bildertanz-Quelle:

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