Der Entstehung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 war ein »technischer« Einigungsprozeß vorausgegangen. Davor war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Gebilde gewesen, das aus 314 souveränen Territorien und Städten bestand. Hinzu kamen 1475 freie Reichsritterschaften. Er war in sich zersplittert und politisch höchst fragil. »Jeder Teilstaat hatte das verbriefte Recht, sich mit ausländischen Mächten gegen einen anderen deutschen Staat zu verbünden«, schreibt Wolfgang Zank 1991 in der Wochenzeitung Die Zeit. »Der politischen Zersplitterung entsprach die wirtschaftliche. Die deutschen Münzsysteme, Maßeinheiten und Rechtssysteme bildeten ein unüberschaubares Mosaik, und etwa 1800 Zollschranken behinderten in Mitteleuropa den Handel.« So war es kein Wunder, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem »Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers« darauf drängten, »die wirtschaftliche Zersplitterung zu beseitigen. Die Märkte waren noch klein und voneinander abgeschottet, aber industrielle Produktion wurde erst bei größeren Stückzahlen rentabel. Je mehr die industrielle Revolution voranschritt, desto mächtiger und einflußreicher wurde die Bourgeoisie, die allein schon aus wirtschaftlichen Gründen ein einiges Deutschland anstrebte.«[1]
Unser Friedrich an seinem Stammsitz |
Es kam 1834 zum Deutschen Zollverein, dem 1842 bereits 28 der 39 Staaten des Deutschen Bundes angehörten. Und ein Jahr später, 1835, startet die erste deutsche Eisenbahn zu ihrer Jungfernfahrt von Nürnberg nach Fürth.
Büste im Reutlinger Rathaus |
Ende der sechziger Jahre setzte dann im Norddeutschen Bund eine liberale Gesetzgebung unter Kanzleramtschef Rudolf von Dellbrück ein, der die Zollpolitik weitertrieb, das Wirtschaftsrecht vereinheitlichte, das Postwesen reformierte und das Maß‑ und Gewichtssystem vereinfachte. Das Dezimalsystem wurde eingeführt, sämtliche gesetzlichen Zinsbeschränkungen wurden abgeschafft und »vor allem die Gewerbe‑ und Koalitionsfreiheit durchgesetzt«, erinnert 1990 Wolfram Weimer in der Frankfurter Allgemeine Zeitung an diese Phase.[2] So wurde wirtschaftlich vorbereitet, was politisch noch nachvollzogen werden musste: die Einigung des Landes. Es wurden die technischen Standards für ein industrielles Zeitalter gesetzt, die die Gründung des Deutschen Reiches erleichterte, wenn nicht gar erst ermöglichte. Die Wissenselite hatte einen erheblichen Anteil.
In Berlin - Ehrung eines Ehrenbürger |
Als jedoch am Mittwoch, 18. Januar 1871, im Spiegelsaal von Versailles der König von Preußen Wilhelm I. feierlich zum Kaiser proklamiert wurde, waren nur der Hochadel und das Militär anwesend, aber »kein Fabrikant oder Eisenbahningenieur war geladen, obwohl sie es waren, die das Reich zuvor materiell verbunden hatten. Schulmeister und Dichter hatten Deutschland kulturell zusammengefügt, aber nicht einer von ihnen war in Versailles dabei«, erinnert Zank an die Geburtsstunde.[3]
Tafel im Technischen Museum in Berlin |
Als vierzig Jahre später, im Februar 1912, der britische Kriegsminister Richard Bourdon Viscount Haldane nach Deutschland kam, um hier mit der Regierung über die überzogenen Flottenrüstungsprogramme zu verhandeln, besuchte der Staatsmann, der in Göttingen Philosophie studiert hatte, auch die Gräber von Hegel und Fichte. Sie waren reichlich verwahrlost. Als er an der Hoftafel Kaiser Wilhelm II. darauf ansprach, erwiderte Seine Majestät spitz: »Ja, in meinem Reiche ist für Kerle wie Hegel und Fichte kein Platz.« Was zählte, nannte Christian Graf von Krockow 1998 so: »Ingenieursmacht, Maschinengewalt statt Philosophie.« [4]
[1] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.90, Wolfram Weimer: »Gründerzeit statt Gründerkrise«
[3] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«
[4] Die Welt, 28.3.1998, Christian Graf von Krockow: »Admiral Tirpitz hat die See nicht verstanden«
[5] Nation im Widerspruch, Hamburg 1963, Egon Schwarz (Hrsg); Salvador Madariaga: „Porträt Europas“
Bildertanz-Quelle:Klaus Bernhardt (Postkartensammlung), Raimund Vollmer (Fotos und Text)
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