Montag, 18. Januar 2021

HEUTE VOR 150 JAHREN: DAS KAISERREICH (und der Reutlinger Friedrich List)

Das "Reich der Hohenzollern" - würde der Bundespräsident das Deutsche Kaiserreich nennen, das sich heute vor 150 Jahren nicht auf der Burg Hohenzollern, sondern im Spiegelsaal von Versailles gründete. So schreibt heute die 'FAZ'. Dazu fand ich in meinem Archiv folgenden, von mir mal zusammengestellten und verfassten Text. Ist vielleicht für den ein oder anderen ganz interessant - vor allem vor dem Hintergrund, dass der große Sohn Reutlingens, Friedrich List, hätte er noch gelebt, bestimmt auch nicht zur Proklamation eingeladen worden wäre, obwohl er es war, der maßgeblich an der Einigung des Deutschen Reiches beteiligt gewesen war. Hier nun mein Text (geschrieben irgendwann Ende der neunziger Jahre, immer wieder überarbeitet.) Raimund Vollmer

Der Entstehung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 war ein »tech­ni­scher« Einigungsprozeß vorausgegangen. Davor war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Gebilde gewesen, das aus 314 souveränen Territorien und Städten bestand. Hinzu kamen 1475 freie Reichsritterschaften. Er war in sich zersplittert und po­litisch höchst fragil. »Jeder Teilstaat hatte das verbriefte Recht, sich mit ausländischen Mächten gegen einen anderen deut­schen Staat zu verbünden«, schreibt Wolfgang Zank 1991 in der Wo­chen­zeitung Die Zeit. »Der politischen Zersplitte­rung ent­sprach die wirtschaftliche. Die deutschen Münzsysteme, Maßeinheiten und Rechtssysteme bildeten ein unüberschaubares Mo­saik, und etwa 1800 Zollschranken behinderten in Mitteleuropa den Handel.« So war es kein Wunder, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem »Kaufleute, Fabri­­kanten und Bankiers« darauf drängten, »die wirtschaftliche Zersplitterung zu beseitigen. Die Märkte waren noch klein und von­einander abgeschottet, aber industrielle Pro­duk­tion wurde erst bei größeren Stückzahlen ren­tabel. Je mehr die in­dustrielle Revolution voranschritt, desto mächtiger und ein­fluß­rei­cher wurde die Bourgeoisie, die allein schon aus wirt­schaft­lichen Gründen ein einiges Deutschland an­strebte.«[1]

Unser Friedrich an seinem Stammsitz


 

Es kam 1834 zum Deutschen Zoll­verein, dem 1842 bereits 28 der 39 Staaten des Deutschen Bundes angehörten. Und ein Jahr später, 1835, startet die erste deutsche Eisen­bahn zu ihrer Jungfernfahrt von Nürnberg nach Fürth.

Büste im Reutlinger Rathaus


Ende der sechziger Jahre setzte dann im Nord­deutschen Bund eine liberale Gesetzgebung unter Kanzleramtschef Rudolf von Dellbrück ein, der die Zollpolitik weitertrieb, das Wirtschaftsrecht vereinheitlichte, das Postwesen reformierte und das Maß‑ und Gewichtssystem vereinfachte. Das Dezimalsystem wur­de eingeführt, sämtliche gesetzlichen Zinsbeschränkungen wurden abgeschafft und »vor allem die Gewerbe‑ und Koalitionsfreiheit durchgesetzt«, erinnert 1990 Wolfram Weimer in der Frank­furter Allgemeine Zeitung an diese Phase.[2] So wurde wirt­schaft­lich vorbereitet, was politisch noch nachvollzogen wer­den musste: die Einigung des Landes. Es wurden die technischen Standards für ein in­du­striel­les Zeitalter gesetzt, die die Gründung des Deutschen Reiches erleichterte, wenn nicht gar erst ermöglichte. Die Wissens­­elite hat­te einen erheblichen Anteil.

In Berlin - Ehrung eines Ehrenbürger


Als jedoch am Mittwoch, 18. Januar 1871, im Spiegelsaal von Ver­sailles der König von Preußen Wilhelm I. feierlich zum Kaiser pro­klamiert wur­de, waren nur der Hochadel und das Militär anwe­send, aber »kein Fabrikant oder Eisen­bahn­ingenieur war ge­la­den, ob­wohl sie es waren, die das Reich zuvor materiell verbunden hat­ten. Schulmeister und Dichter hatten Deutsch­land kulturell zu­sam­men­ge­fügt, aber nicht einer von ihnen war in Versailles dabei«, erinnert Zank an die Geburtsstunde.[3]

Tafel im Technischen Museum in Berlin


 

Als vierzig Jahre später, im Februar 1912, der britische Kriegsminister Richard Bourdon Viscount Haldane nach Deutschland kam, um hier mit der Regierung über die überzogenen Flottenrüstungsprogramme zu verhandeln, besuchte der Staatsmann, der in Göttingen Philosophie studiert hatte, auch die Gräber von Hegel und Fichte. Sie waren reichlich verwahrlost. Als er an der Hoftafel Kaiser Wilhelm II. darauf ansprach, erwiderte Seine Majestät spitz: »Ja, in meinem Reiche ist für Kerle wie Hegel und Fichte kein Platz.« Was zählte, nannte Christian Graf von Krockow 1998 so: »Ingenieursmacht, Maschinengewalt statt Philosophie.« [4] 


Ein Schwabe in Berlin: Friedrich List, Büste im Technischen Museum in Berlin

[1] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«

[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.90, Wolfram Weimer: »Gründerzeit statt Gründerkrise«

[3] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«

[4] Die Welt, 28.3.1998, Christian Graf von Krockow: »Admiral Tirpitz hat die See nicht verstanden«

[5] Nation im Widerspruch, Hamburg 1963, Egon Schwarz (Hrsg); Salvador Madariaga: „Porträt Europas“

 

Bildertanz-Quelle:Klaus Bernhardt (Postkartensammlung), Raimund Vollmer (Fotos und Text)

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