Der Faustsche Pakt gegen die Zukunft
Betrachtungen von Raimund Vollmer
Fast schon genüsslich nannte der Landrat die Stadt Reutlingen immer wieder die "kleine Großstadt". Er sah sich in seinem Element. Mal süffisant, mal arrogant, mal jovial, mal distanziert, mal ganz nah, mal abgehoben, mal verschroben - das ganze Repertoire einer Rhetorik, die mehr gelernt als gelebt wirkt, die bestimmt im 20. Jahrhundert "cool" gewirkt hat, aber heute ziemlich gestelzt daherkommt, brachte er auf, um die zu überzeugen, die ohnehin schon überzeugt waren: die Bürgermeister und Würdenträger des Landkreises, die sich gestern abend aufgemacht hatten, um Thomas Reumann, den Landrat, in der Rommelsbacher Wittumhalle die Ehre zu erweisen. Es ging um die Auskreisung der Stadt Reutlingen.
Einspruch, Euer Ehren. Darum ging es nicht. Es ging um Finanzen und Kompetenzen. Es ging um Macht, auch wenn der Landrat dies energisch abstritt. Es ging - um Ralf Dahrendorf zu zitieren - um die "Arbeitsteilung der Herrschaft". Darin unterschied sich die "Info-Versammlung" in keiner Weise von ihrem rhetorischen Gegenstück, also der Bürgerversammlung, zu der Oberbürgermeisterin Barbara Bosch am 9. Juli in die Stadthalle eingeladen hatte. Kamen dahin 400 "Einwohner", so waren es gestern etwa 250 Gäste aus dem Landkreis.
Der Landrat war nicht schlecht, er fand sich selbst bestimmt ganz toll, seine Leute werden ihn bewundert haben, aber sein "Faktencheck" und seine juristischen Erkenntnisse hatten etwas altmodisches an sich. "Es geht um mehr" als nur Verwaltungsstrukturen, hatte er eingangs gesagt. Und man war gespannt. Endlich einer, der den Stier bei den Hörnern anpackt, denkt man. Endlich einer, der verstanden hat, dass es nicht um das Hier und Jetzt statistischer und buchhalterischer Erkenntnisse und Ergebnisse geht, sondern um unsere Zukunft, nicht nur um die Zukunft des Landkreises oder eines zukünftigen Stadtkreises, sondern um die Zukunft der Bürger, die hier leben und für die all diese Institutionen von Stadt und Kreis da sind.
Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass man in der alten Bundesrepublik mit der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform begann, deren Ergebnis unter anderem der Landkreis Reutlingen ist. Alles sollte einfacher, wirtschaftlicher werden. Der Beweis, umfassend und fundiert, wurde nie angetreten. Lag es vielleicht daran, dass bislang die mit wissenschaftlicher Kompetenz vorhergesagte Zukunft stets der Wirklichkeit hinterherhinkte, so muss man davon ausgehen, dass im 21. Jahrhundert die Zukunft ihren eigenen Prognosen davoneilt. Und das Gefühl, dass weder die Verwaltung, noch die Bürger darauf vorbereitet sind, stellte sich nicht nur bei der gestrigen "Info-Versammlung", sondern auch bei der Bürgerversammlung ein. Man wird den Eindruck nicht los: Es herrscht Zukunftsstarre im Schwabenland. Die Verwaltung und die Räte in Stadt und Kreis loben sich selbst für das, was sie können, nämlich rechnen und rechten, steuern und regeln. Doch sie verdecken damit nur das, was sie nicht können: Vorstellungskraft zu entwickeln, der wichtigsten Ressource, nämlich der Phantasie inen Platz geben, gestalterische Kompetenzen zu entfalten, innovativ zu sein. Kein Wort darüber gestern.
Kein Wort darüber vor einer Woche. Das 21. Jahrhundert hat in Reutlingen noch nicht stattgefunden, weder im Kreis, noch in der Stadt.
Es ist das Verdienst von Frau Bosch, dass sie mit den argumentativen Vorbereitungen für eine Auskreisung uns unabsichtlich aufzeigt, wie sehr wir dazu neigen, im Augenblick, "verweile doch, du bist so schön" (Faust 1), zu verharren. Wir sind neugierig auf das, was ist, aber nicht auf das, was kommt. Wir schwelgen in Zahlen, die schon in dem Augenblick Geschichte sind, in dem sie veröffentlicht werden. Den Faustschen Pakt, demzufolge die Seele zum Teufel ist, in dem Dr. Faust seinen Wissensdurst gestillt sieht und im Hier & Jetzt bleiben möchte, haben wir längst verloren.
Gestern im Faktencheck des Herrn Reumann ging es darum, wessen Zahlen überhaupt stimmen. Am schlimmsten aber: die Gutachter, die man einschaltet, sind keine Denker, sondern auch nur Rechner. Und so wird sich das fortsetzen, bis am Ende der Landtag darüber entscheidet, was sich besser rechnet, nicht das was besser ist und wird Hineingeworfen werden noch ein paar Begriffe wie Wohl oder Gemeinwohl, die so hohl klingen wie sie sind. Aber am liebsten möchten alle, dass die Gegenwart die Zukunft ist, allenfalls verwaltungstechnisch gespalten zwischen Stadtkreis und Landkreis. Die Achalm kreißte, und ein Maus ward geboren.
Das kann es absolut nicht gewesen sein.
Reumann meint, dass das, war 40 Jahre gut war, auch die nächsten 40 Jahre wirksam ist. Hält das dem Zukunfts-Check stand?
Was ist, wenn in zwanzig Jahren die "Generation Golf" in die prognostizierte Altersarmut übergeht? Kein Wort, der den demografischen Wandel skizziert. Weder bei Frau Bosch, noch bei Herrn Reumann.
Was ist, wenn in den nächsten zwanzig Jahren die "Generation User" die Positionen in Staat und Wirtschaft übernimmt? Sie hat Interesse an Mobilität, nicht an Autos, sie hat Interesse am Wohnen, nicht am Eigentum. Sie kombiniert ihr Leben nicht mehr nach Herkunft, sondern nach Zukunft. Kein Wort über uns, die Menschen, vor allem die jungen. Weder bei Frau Bosch, noch bei Herrn Reumann.
Was ist, wenn im Rahmen der Digitalisierung, die Produktivitätsgewinne allein aus den Maschinen kommen, wenn die gesamte Arbeitswelt sich in den nächsten zwanzig Jahren komplett verändert?
Was ist, wenn die Verstädterung und die Reorganisation der gesamten Infrastrukturen uns vor völlig neue Herausforderungen stellen? Kein Wort darüber.
Was ist, wenn Landkreis und Stadt in den nächsten zwei Jahrzehnten immer mehr zum Schmelztiegel der Völker werden? Kein Wort darüber.
Es sind diese und viele andere Themen, die die wirklich Sinnfrage nach der Auskreisung stellen.
Herr Reumann hätte doch Frau Bosch in aller Öffentlichkeit fragen können, ob sie glaubt, dass die Stadt Reutlingen solche Herausforderungen allein bewältigen kann. Kein Wort darüber.
Frau Bosch hätte antworten müssen - und dann hätte endlich die Diskussion begonnen, die uns aus der Zukunftsstarre befreit und den Faustschen Pakt auflöst.
Stattdessen genoss Herr Reumann den Augenblick und zelebrierte seine Eloquenz.
Bildertanz-Quelle (Fotos und Text): RV
Unseren Kommentar zur Bürgerversammlung finden Sie hier
STADTHALLE UND AUSKREISUNG: EIN SCHWÄBISCHER ABEND MIT FRAU BOSCH
2 Kommentare:
Herr Reumann muss wie Frau Bosch in die Öffentlichkeit gehen. Nur, er steht im Falle einer Auskreisung mit dem Rücken zur Wand, weil der Kreis Reutlingen ohne die Stadt Reutlingen finanziell Kostgänger des Landes wird - eigentlich nicht mehr finanziell lebensfähig ist. Ich fürchte, dieser Punkt wird für das Thema Auskreisung ganz wesentlich für die Entscheidungsträger sein und hier liegt der wunde Punkt der Argumentation von Frau Bosch. Sollte der Landtag d. h. die Regierung für eine Auskreisung offen sein, dann stellt sich automatisch die Frage, wer deckt den Ausfall des größten Zahlers der Kreisumlage finanziell ab, das Land? irgend ein Topf des kommunalen Finanzausgleichs? Irgend einer muss das mit bezahlen. Bin gespannt, ob die Widerstände aus dieser Ecke nicht so bedeutend sind, dass alles bleibt wie gehabt. Denn auch da gilt die alte Regel von David Hansemann: beim Geld hört die Gemütlichkeit auf.
H.R.
Ohne die in den 1970er Jahren zu Reutlingen gekommenen Dörfer bleibt die Stadt
deutlich unter der Einwohnerzahl von Hunderttausend. So ganz selbstverständlich ist ist die Auskreisung schon deshalb nicht. Würde die
Stadt den Aufwand der zur Auskreisung erforderlich ist in eine Verbesserung
der Zusammenarbeit mit dem Landkreis stecken, wäre beiden Seiten mehr
geholfen, ganz sicher auch finanziell.
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