Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Zehn Ausrufe-Zeichen und ein großes Frage-Zeichen hinter dem
Verein "Köpfe für Reutlingen"
Frage an einen Verein: Und wo bleibt das Leben? |
Wann werden die Menschen, die ihre Interessen in dieser
Stadt haben, endlich kapieren, dass es nicht um sie geht?
Da haben sich unter dem Vereinsnamen "Köpfe fürReutlingen" 16 mehr oder minder prominente Damen und Herren
zusammengefunden, um für etwas zu sein, gegen das noch nie jemand etwas hatte:
"Erfolg". Und davon braucht Reutlingen jede Menge "Mehr", meinen
die Protagonisten. Genauer gesagt: zehnmal "mehr", verstärkt durch
zehnmal mehr Ausrufezeichen. "Mehr Profil! Mehr Identifikation! Mehr
Vernetzung! Mehr Engagement! Mehr Vielfalt! Mehr Jugend! Mehr Vitalität! Mehr Innnovation!
Mehr Kommunikation! Mehr Dynamik!" Dazu mehr in den zehn Thesen, die sich
dieser Club der klugen Köpfe, auf seine Website geschrieben hat. HIER DER LINK.
Es fehlte
eigentlich nur ein Ausrufezeichen: Mehr Geld! Das haben sie nicht verlangt.
Wir alle wissen aber, wie das Synonym für Geld lautet:
Erfolg. So unscheinbar dieses Wort wirkt, es ist der Superlativ unter den Euphemismen.
Vielleicht deshalb, weil mir alles zu platt daherkam bei dem Versuch,
uns, die Bürger als "Köpfe für Reutlingen" zu gewinnen, habe ich mir
erlaubt, mal herauszuspüren, für wen oder was wir,
die Bürger dieser Stadt, eigentlich benötigt werden, für was und wen wir uns
einspannen lassen sollen.
Denn dass wir eingespannt werden sollen, das spuckt
sich aus jeder der zehn Thesen heraus.Wofür brauchen die "Köpfe für Reutlingen" unsere Köpfe?
These 1: Mehr Profil! Schon sind wir mitten im
Marketing-Gewäsch. Es geht um "unsere Alleinstellungsmerkmale", die
uns helfen sollen, "überregional wahrgenommen zu werden". Mal
abgesehen davon, dass unsere "Alleinstellungsmerkmale" nicht wirklich
genannt (wahrscheinlich auch gar nicht gekannt) werden, haben wir keinen Mangel
an überregionaler Wahrnehmung. Von den 5000 Bürgern, die in den letzten fünf
Jahren nach Reutlingen kamen, waren 3.500 Menschen, die als EU-Auslandsbürger (also
keine Flüchtlinge) zu uns kamen. Wir werden mehr als nur
"überregional" wahrgenommen. Wir sind europaweit attraktiv. Und
damit, was den Wohnungsmarkt anbelangt, längst überfordert. Mehr Profil braucht
vielleicht der Einzelhandel, aber das ist ein hausgemachtes Problem.
These 2: Mehr Identifikation! "Wir brauchen Bürger,
Organisationen und Unternehmen, die sich selbstbewusst zu ihrem Standort
bekennen", allerdings nur um "seine Stärken und seine Vielfalt
authentisch (zu) verkörpern". Das ist ja schon ein starkes Stück.
"Dies ist das Zeitalter der Kritik" hat Deutschlands wichtigster Mann
der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant, einmal gesagt. Das allein macht
unser Zeitalter, das seit 250 Jahren von klugen Köpfen wie Kant und Hegel
geprägt wird, authentisch. Identifikation ohne Kritik ist nicht zu haben, ist
schon gar nicht authentisch.
These 3: Mehr Vernetzung! Hier geht's zur Sache. Hier geht's
um "unseren Erfolg" (was immer das konkret ist und wer mit "wir" gemeint ist.) "Intensiven
Austausch von Ideen" wünschen sich die "Köpfe für Reutlingen",
wünschen sie sich für "unseren Erfolg". Da gehört ein Ausrufezeichen
hin, denn es geht - wohlgemerkt! - um "unseren Erfolg", nicht um unseren gemeinsamen Erfolg. Hier wird der
ganze, der schiere Egoismus deutlich. Ideen leben nicht vom intensiven Austausch,
im Gegenteil: sie sterben daran, wie jeder weiß, der versucht, seine Ideen auch
mal gegen Geld einzutauschen. Ideen sind bei uns Gemeingut, sie haben im
"Land der Ideen" nur dann einen Wert, wenn sie aus den USA kommen
(weil die Amerikaner wissen, dass man nicht nur in Ideen investieren muss,
sondern man muss sie auch bezahlen. Deswegen werden wir auch regelmäßig von
ihnen überrannt). Mehr Identifikation! Ehrlich gesagt, das will unter diesen
Bedingungen nicht in meinen Kopf hinein.
These 4: Mehr Engagement! "... werden wir erfolgreich
sein", heißt es hier so flach, dass wir, die Bürger dieser Stadt, ganz
bestimmt nicht hineinpassen, schon gar nicht mit "mehr Engagement".
Reutlingen ist eine Stadt, die alles will, aber ganz bestimmt nicht "mehr
Engagement", mehr Bürger-Beteiligung. Reutlingen will Versorgung. Reutlingen
will Zerstreuung, wie alle Stadtfeste, alle Stadthallenprogramme, alle
Verkaufsnächte uns zeigen. In Reutlingen ist ansonsten Ruhe die erste
Bürgerpflicht - und die lassen wir uns von keinem nehmen, sonst heißt es:
"Kopf ab!" Rollende Köpfe ist bestimmt nicht das, was wir uns unter
"Köpfe für Reutlingen" vorstellen sollen. Trotzdem möchte man den
Vereinsköpfen hier einen Punkt geben, wenn man nicht den starken Verdacht hätte,
dass es in Wirklichkeit nur um mehr Aufmerksamkeit für die eigenen Sachen
ginge, um die Themen, in denen "wir erfolgreich sein" werden, nicht
um das Engagement an sich.
These 5: Mehr Vielfalt! Auch da möchte man mit seiner
eigenen, ganzen Vielfalt sofort dabei sein, wenn man sich nicht schon wieder so
völlig einfältig vereinnahmt fühlen würde. "Vielfalt" ist nämlich
nicht ein Ziel an sich, sondern "eine hervorragende Voraussetzung, unseren
Standort nach vorne zu bringen", heißt es erneut ziemlich platt bei den
"Köpfen für Reutlingen". Und dann kommt es noch ganz dicke: "Wir
müssen die Vielfalt entschlossen nutzen." Wer ist wir? Und wofür nutzen?
These 6: Mehr Jugend! Damit die Jugend erst gar nicht auf dumme
Gedanken kommt, werden für "mehr Jugend" all die Allgemeinplätze
wiederholt, die schon für das Mehr der anderen Thesen diente. Mein erster
Gedanke war: Ich bin jetzt 65. Es wird Zeit, dass ich verschwinde, damit mehr
Jugend in der Stadt ist.
These 7: Mehr Authentizität! Auch hier wiederholen sich die
Argumente. Vitalität besteht darin, dass man sich zu seinem Standort bekennt.
Trotz These 6 möchte ich mich zu meinem Standort bekennen. Also: Ich bekenne
mich. Ob es authentisch ist, entscheiden die "Köpfe für Reutlingen".
These 8: Mehr Innovation! In dieser These wird auch zuvor
Gesagtes wiederholt. Sie enthält keine Innovation. Aus eigener Erfahrung weiß
ich: Reutlingen ist in all seinen Institutionen überhaupt nicht in der Lage,
eine echte Innovation zu erkennen.
These 9: Mehr Kommunikation! Die Argumente wiederholen sich
auch hier, was natürlich ein Hinweis darauf ist, wozu den "Köpfen für
Reutlingen" die Kommunikation dient: für Wiederholungen. Denkt daran:
Kommunikation ist noch lange nicht Information.
These 10: Mehr Dynamik! Das wünschen wir vor allem den
"Köpfen für Reutlingen".
Am 18. Juli 2017 wollen sich die "Köpfe für
Reutlingen" zu einem "Zukunftsforum" im Kunstverein Reutlingen
treffen. Beginn: 19.30 Uhr.
Es ist ein "Come-Together", wie es heute
mangels deutscher Sprachqualitäten heißt. Wenn dieses Zukunftsforum so ist wie
die zehn Thesen, dann wird auch dort ein Begriff fehlen, den wir eigentlich
zentral halten für alles, was in Reutlingen geschieht. Es ist das schlichte Wort "Leben". Es fehlt komplett. Und das sagt alles.
Die zehn Thesen sagen nur - und das ist zutiefst
erschütternd - wie wir, die Menschen für Reutlingen, zu funktionieren haben.
Sie fragen nicht, warum wir hier leben und warum wir unsere (Wahl-)Heimat
lieben und zwar ziemlich vorbehaltlos. Die Köpfe für Reutlingen wollen Knöpfe für Reutlingen, auf die sie dann
drücken können.
Die
einzige Hoffnung, die ich habe, ist, dass ihnen der Schwachsinn, den sie auf
ihrer Website veröffentlicht haben, gar nicht bewusst ist, sondern dass sie
meinen, es doch gut mit uns zu meinen - und nicht mit sich selbst.
3 Kommentare:
Brot und Spiele dem Volke.
So ging schon mal was unter.
wenn man sonst nichts zu tun hat ist das doch ein schöner Zeitvertreib
Beide Bausünden, sowie die den Zwischenraum angemessen ausfüllende Leere auf einem einzigen Bild. Klasse!
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