Sonntag, 9. Juli 2017

Ein neuer Verein: Knöpfe für Reutlingen



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Zehn Ausrufe-Zeichen und ein großes Frage-Zeichen hinter dem Verein "Köpfe für Reutlingen"

Frage an einen Verein: Und wo bleibt das Leben?

Wann werden die Menschen, die ihre Interessen in dieser Stadt haben, endlich kapieren, dass es nicht um sie geht?
Da haben sich unter dem Vereinsnamen "Köpfe fürReutlingen" 16 mehr oder minder prominente Damen und Herren zusammengefunden, um für etwas zu sein, gegen das noch nie jemand etwas hatte: "Erfolg". Und davon braucht Reutlingen jede Menge "Mehr", meinen die Protagonisten. Genauer gesagt: zehnmal "mehr", verstärkt durch zehnmal mehr Ausrufezeichen. "Mehr Profil! Mehr Identifikation! Mehr Vernetzung! Mehr Engagement! Mehr Vielfalt! Mehr Jugend! Mehr Vitalität! Mehr Innnovation! Mehr Kommunikation! Mehr Dynamik!" Dazu mehr in den zehn Thesen, die sich dieser Club der klugen Köpfe, auf seine Website geschrieben hat. HIER DER LINK.
Es fehlte eigentlich nur ein Ausrufezeichen: Mehr Geld! Das haben sie nicht verlangt.
Wir alle wissen aber, wie das Synonym für Geld lautet: Erfolg. So unscheinbar dieses Wort wirkt, es ist der Superlativ unter den Euphemismen.
Vielleicht deshalb, weil mir alles zu platt daherkam bei dem Versuch, uns, die Bürger als "Köpfe für Reutlingen" zu gewinnen, habe ich mir erlaubt, mal herauszuspüren, für wen oder was wir, die Bürger dieser Stadt, eigentlich benötigt werden, für was und wen wir uns einspannen lassen sollen. 
Denn dass wir eingespannt werden sollen, das spuckt sich aus jeder der zehn Thesen heraus.Wofür brauchen die "Köpfe für Reutlingen" unsere Köpfe?
These 1: Mehr Profil! Schon sind wir mitten im Marketing-Gewäsch. Es geht um "unsere Alleinstellungsmerkmale", die uns helfen sollen, "überregional wahrgenommen zu werden". Mal abgesehen davon, dass unsere "Alleinstellungsmerkmale" nicht wirklich genannt (wahrscheinlich auch gar nicht gekannt) werden, haben wir keinen Mangel an überregionaler Wahrnehmung. Von den 5000 Bürgern, die in den letzten fünf Jahren nach Reutlingen kamen, waren 3.500 Menschen, die als EU-Auslandsbürger (also keine Flüchtlinge) zu uns kamen. Wir werden mehr als nur "überregional" wahrgenommen. Wir sind europaweit attraktiv. Und damit, was den Wohnungsmarkt anbelangt, längst überfordert. Mehr Profil braucht vielleicht der Einzelhandel, aber das ist ein hausgemachtes Problem.
These 2: Mehr Identifikation! "Wir brauchen Bürger, Organisationen und Unternehmen, die sich selbstbewusst zu ihrem Standort bekennen", allerdings nur um "seine Stärken und seine Vielfalt authentisch (zu) verkörpern". Das ist ja schon ein starkes Stück. "Dies ist das Zeitalter der Kritik" hat Deutschlands wichtigster Mann der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant, einmal gesagt. Das allein macht unser Zeitalter, das seit 250 Jahren von klugen Köpfen wie Kant und Hegel geprägt wird, authentisch. Identifikation ohne Kritik ist nicht zu haben, ist schon gar nicht authentisch.
These 3: Mehr Vernetzung! Hier geht's zur Sache. Hier geht's um "unseren Erfolg" (was immer das konkret ist und wer mit "wir" gemeint ist.) "Intensiven Austausch von Ideen" wünschen sich die "Köpfe für Reutlingen", wünschen sie sich für "unseren Erfolg". Da gehört ein Ausrufezeichen hin, denn es geht - wohlgemerkt! - um "unseren Erfolg", nicht  um unseren gemeinsamen Erfolg. Hier wird der ganze, der schiere Egoismus deutlich. Ideen leben nicht vom intensiven Austausch, im Gegenteil: sie sterben daran, wie jeder weiß, der versucht, seine Ideen auch mal gegen Geld einzutauschen. Ideen sind bei uns Gemeingut, sie haben im "Land der Ideen" nur dann einen Wert, wenn sie aus den USA kommen (weil die Amerikaner wissen, dass man nicht nur in Ideen investieren muss, sondern man muss sie auch bezahlen. Deswegen werden wir auch regelmäßig von ihnen überrannt). Mehr Identifikation! Ehrlich gesagt, das will unter diesen Bedingungen nicht in meinen Kopf hinein.
These 4: Mehr Engagement! "... werden wir erfolgreich sein", heißt es hier so flach, dass wir, die Bürger dieser Stadt, ganz bestimmt nicht hineinpassen, schon gar nicht mit "mehr Engagement". Reutlingen ist eine Stadt, die alles will, aber ganz bestimmt nicht "mehr Engagement", mehr Bürger-Beteiligung. Reutlingen will Versorgung. Reutlingen will Zerstreuung, wie alle Stadtfeste, alle Stadthallenprogramme, alle Verkaufsnächte uns zeigen. In Reutlingen ist ansonsten Ruhe die erste Bürgerpflicht - und die lassen wir uns von keinem nehmen, sonst heißt es: "Kopf ab!" Rollende Köpfe ist bestimmt nicht das, was wir uns unter "Köpfe für Reutlingen" vorstellen sollen. Trotzdem möchte man den Vereinsköpfen hier einen Punkt geben, wenn man nicht den starken Verdacht hätte, dass es in Wirklichkeit nur um mehr Aufmerksamkeit für die eigenen Sachen ginge, um die Themen, in denen "wir erfolgreich sein" werden, nicht um das Engagement an sich.
These 5: Mehr Vielfalt! Auch da möchte man mit seiner eigenen, ganzen Vielfalt sofort dabei sein, wenn man sich nicht schon wieder so völlig einfältig vereinnahmt fühlen würde. "Vielfalt" ist nämlich nicht ein Ziel an sich, sondern "eine hervorragende Voraussetzung, unseren Standort nach vorne zu bringen", heißt es erneut ziemlich platt bei den "Köpfen für Reutlingen". Und dann kommt es noch ganz dicke: "Wir müssen die Vielfalt entschlossen nutzen." Wer ist wir? Und wofür nutzen?
These 6: Mehr Jugend! Damit die Jugend erst gar nicht auf dumme Gedanken kommt, werden für "mehr Jugend" all die Allgemeinplätze wiederholt, die schon für das Mehr der anderen Thesen diente. Mein erster Gedanke war: Ich bin jetzt 65. Es wird Zeit, dass ich verschwinde, damit mehr Jugend in der Stadt ist.
These 7: Mehr Authentizität! Auch hier wiederholen sich die Argumente. Vitalität besteht darin, dass man sich zu seinem Standort bekennt. Trotz These 6 möchte ich mich zu meinem Standort bekennen. Also: Ich bekenne mich. Ob es authentisch ist, entscheiden die "Köpfe für Reutlingen".
These 8: Mehr Innovation! In dieser These wird auch zuvor Gesagtes wiederholt. Sie enthält keine Innovation. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Reutlingen ist in all seinen Institutionen überhaupt nicht in der Lage, eine echte Innovation zu erkennen.
These 9: Mehr Kommunikation! Die Argumente wiederholen sich auch hier, was natürlich ein Hinweis darauf ist, wozu den "Köpfen für Reutlingen" die Kommunikation dient: für Wiederholungen. Denkt daran: Kommunikation ist noch lange nicht Information.
These 10: Mehr Dynamik! Das wünschen wir vor allem den "Köpfen für Reutlingen".

Am 18. Juli 2017 wollen sich die "Köpfe für Reutlingen" zu einem "Zukunftsforum" im Kunstverein Reutlingen treffen. Beginn: 19.30 Uhr. 
Es ist ein "Come-Together", wie es heute mangels deutscher Sprachqualitäten heißt. Wenn dieses Zukunftsforum so ist wie die zehn Thesen, dann wird auch dort ein Begriff fehlen, den wir eigentlich zentral halten für alles, was in Reutlingen geschieht. Es ist das schlichte Wort "Leben". Es fehlt komplett. Und das sagt alles.
Die zehn Thesen sagen nur - und das ist zutiefst erschütternd - wie wir, die Menschen für Reutlingen, zu funktionieren haben. Sie fragen nicht, warum wir hier leben und warum wir unsere (Wahl-)Heimat lieben und zwar ziemlich vorbehaltlos. Die Köpfe für Reutlingen wollen Knöpfe für Reutlingen, auf die sie dann drücken können.
Die einzige Hoffnung, die ich habe, ist, dass ihnen der Schwachsinn, den sie auf ihrer Website veröffentlicht haben, gar nicht bewusst ist, sondern dass sie meinen, es doch gut mit uns zu meinen - und nicht mit sich selbst. 

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Brot und Spiele dem Volke.
So ging schon mal was unter.

oldie6014 hat gesagt…

wenn man sonst nichts zu tun hat ist das doch ein schöner Zeitvertreib

TR hat gesagt…

Beide Bausünden, sowie die den Zwischenraum angemessen ausfüllende Leere auf einem einzigen Bild. Klasse!