... entsteht nicht unweit von Reutlingen. Es ist die Stadt
S., das heimliche Vorbild unserer Stadt. So klinisch rein, so antiseptisch
steril, wie sich unsere Landeshauptstadt architektonisch hochtunet und landschaftlich
tiefkuhnt, kann es nur unser Vorbild sein. Denn Ähnliches entsteht ja bei uns auch. Stuttgart ist eine gefährliche Stadt - und eine schöne Stadt, wenn sie denn echt wäre.
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Fünf Jahre habe ich dort gewohnt. Im Kessel. Am Marienplatz,
genau dort, wo sich jetzt der Tunnel öffnet nach RT. Lange ist es her: 1976 bis
1981. Alles Geschichte, aber voller harter Realitäten. Und nun war ich vier Jahrzehnte später eingeladen zu
einer Neckarfahrt. An einem wunderbaren Sonntag. Es war eine wunderbare
Floßfahrt. Mit einer wunderbaren Familie. Mit allem Glück der Welt.
Mit der in coolem Blau gepolsterten, menschenleeren S-Bahn
ging es vom gemeinsamen Treffpunkt aus vormittags hin - und nachmittags (vollbesetzt)
wieder zurück. Unterirdisch. Eingetaucht in die Zeit- und Ziellosigkeit dieser
Stadt, in der alle Impulse von den Wänden kommen - als pausenlose Werbung. Stuttgart
ist eine graphische Stadt.
Ein gutes Stück sind wir von der Wilhelma aus, dort, wo die
Schifffahrt für uns Touristen beginnt und endet, bis zum Hauptbahnhof zurück zu
Fuß gegangen - durch jenes weitläufige Gelände entlang der Bahnlinien, das vor
vierzig Jahren, 1977, ein schmucker und naiver Ort der Bundesgartenschau war. Eine bis
heute sehr gepflegte Anlage, sehr, sehr, sehr gepflegt - so gepflegt, dass sie
nicht von dieser Welt sein kann. Etwas Surreales haftet dem allgegenwärtigen Grün
an, das in seiner überwältigenden Echtheit nur noch von Kunstrasen übertroffen
werden könnte. Übernatürlich. Eine terrageformte Anlage, gefangen in einer
"ewigen Wiederkehr", um es mit Friedrich Nietzsche auszusprechen. Es
fehlen nur noch die von den mächtigen Weiden
tropfenden Uhren des Salvador Dali.
Es ist eine Hyperpoesie, eingeweidet zwischen Eisenbahn und
Stadtautobahn. Eine Landschaft ohne Anamnese. Sie zeigt alles, sagt aber
nichts. Idyllisch bis zum androgynen Kitsch. Wunderschön. Und Du bist Dir
ziemlich sicher: Das ist die Welt, in der das Grün dauerparkt. So stellt sich
die grüne Moderne die Moderne vor.
Es ist der Ort, wo alle Geschichte endet und nichts Neues
beginnt. Du wanderst sprachlos durch diese Welt. Du denkst an den französischen
Soziologen Jean Beaudillard (1929-2007), für den das alles hier ein Simulacrum
wäre - eine Vortäuschung von etwas, das es gar nicht gibt. Menschen auf Fahrrädern
slalomen sich durch die Menschengruppen. Trabende Jogger haben sich in ihre endorphinen
Gefühle verstöpselt. Hautfarben und Sprachen aller Art sind um Dich. Es ist
eine Welt, in der viel passiert, aber nichts geschieht.
Es ist eine Welt, in
der Du Dich fragst, ob Du überhaupt in ihr existierst, oder nur Zuschauer bist,
ein Außerirdischer im Überirdischen. Es ist alles irreal. Ein Paradies, ein
Paradas, ein Paraplex.
Ein lieber Freund, ein echter Künstler und Meister des
Surrealen (er weiß also wirklich, wovon er spricht) gibt mir Tage später das
Stichwort: "Poesiezonen" nennt er dieses Leben, das sich nur noch um sich
selbst dreht, das sich seine eigene Geschichte ist, in dem das Soziale der
Kommunikation geopfert wurde.
Aber Du hattest ja an diesem Tag noch mehr gesehen. Die Wohnhochhäuser,
die aus dem satten Grün der Weinberge emporschießen. Der Neckar, der sich zu
einer Größe und Breite staut, dass Du, der Du im winzigen Altenburg auch an
diesem Fluss wohnst, plötzlich wieder erahnen kannst, wie das ist, wenn man aus
der Großstadt kommt und alle Souveränität der Welt zu besitzen glaubt. Da hat
man die Kraft und den Gleichmut der Großstadt in sich. Und doch wirst Du dieses
Gefühl nicht los, dass dies alles eine einzige Simulation ist.
Es ist die
Vorübung in eine Zeit hinein, in der es keine Zeit mehr gibt - nur noch
Werbung. Denn die ist jenseits des Grüns in S. allgegenwärtig. Nichts dagegen, wenn sie nicht alles andere verdrängen würde. In B., der Bundeshauptstadt
unserer Landeshauptstadt unserer Kreishauptstadt, funkeln einem neben der
Reklame Bilder aus der Geschichte der Stadt entgegen. Ja, dort
simuliert man die Geschichte, um sie in dem Wiederaufbau von Gebäuden
auferstehen zu lassen (wie zum Beispiel "das Schloss"). Da lässt man überall
das Leben im Leben. Da strebt man nach Realität - und lässt der Phantasie freie Bahn. In Stuttgart magst Du nicht glauben, dass hier Weltfirmen existieren, die jede für sich mehr Geschichte haben als das gesamte Silicon Valley. Hier hast Du Geldfirmen, die Kultur mit Luxus verwechseln. Geh nur in die U- und S-Bahnen, und schau Dir dort die Videos an! Mit Stuttgart hat das nichts zu tun. Nur mit Kunden.
So wird man in S. das Gefühl nicht los, dass man nicht
mehr an der Wirklichkeit interessiert ist. Selbst eine alte Allee, die doch bis
in die Wipfel ihrer uralten Bäume vor Geschichte und Grandiosität strotzt,
wirkt unecht, wie eine Kulisse. Stuttgart verwandelt sich in eine Stadt ohne
Geschichte, ohne Erzählung, ohne Authentizität. Nur der Augenblick zählt.
Irgendwie tut Dir das verdammt weh. Ausgerechnet die
Schwaben, die so bodenständig sind, immer mit beiden Beinen fest auf der Erde
stehen, konstruieren sich eine Stadt, die am Ende einer Karikatur ihrer selbst
sein wird - die Simulation einer Welt des Reichtums, die es so nicht gibt und wohl nie geben wird. Stuttgart simuliert wie Reutlingen, das nach dem Willen seiner Obrigkeit eine Großstadt sein möchte, etwas, das nichts mit der Geschichte dieser Stadt zu tun hat.
Stuttgart denkt sich eine Stadt voller Kunden.
Auf dem Weg zur Arbeit - zum Kunden.
Der aufgerissene Leib einer Stadt, die sich selbst untergräbt. (Anmerkung: Ich bin übrigens kein Gegner von Stuttgart 21, habe nur Sorge, dass dies als Vorwand gilt, um die Stadt in ein immerwährendes Nichts zu verwandeln.) Stuttgart denkt sich eine Stadt voller Kunden.
Auf dem Weg zur Arbeit - zum Kunden.
Und Du vermutest, dass in diesem brutal aufgerissenen Bauch
dieser Stadt, in diesem S 21, auch die Zukunft ihr Grab findet. Wenn dann die
letzte Feinstaubflocke hinweggesprüht ist, werden wir uns vielleicht, aber nur
vielleicht, nach uns selbst umsehen.
Hoffentlich können wir bis dahin unser Reutlingen retten...
(Anmerkung: Als ich in Stuttgart lebte, habe ich diese Stadt als eine Stadt der versteckten Schönheiten entdeckt und das ist sie an ihren Rändern auch immer noch. Aber die City ist mehr und mehr ohne Charakter. Nur noch gelackt. Alles Menschliche ist ihr fremd. R.V.)
(Anmerkung: Als ich in Stuttgart lebte, habe ich diese Stadt als eine Stadt der versteckten Schönheiten entdeckt und das ist sie an ihren Rändern auch immer noch. Aber die City ist mehr und mehr ohne Charakter. Nur noch gelackt. Alles Menschliche ist ihr fremd. R.V.)
Kranlandschaft & Betonkegel: Wer hängt Dalis Uhren an die Kräne?
Auch das verschwindet - der Kunde soll nicht die Arbeit sehen, die all das, was er sieht, erst möglich macht.
2 Kommentare:
Reutlingen hat mit Stuttgart nichts gemeinsam und wird es auch nie haben. Aber was wollen die Reutlinger mit diesem als "Metropolregion" bezeichneten Konstrukt. Das ist für Außenstehende verwirrend und führt zu dem falschen Eindruck, Reutlingen sei Teil einer urbanen Region mit Stuttgart. Selbst ein Profil bilden oder mit den Tübingern zusammen, so muss es die Aufgabe sein.
In Richtung "Metropolregion" habe ich - ehrlich gesagt - gar nicht gedacht, schon eher, dass sich RT ein eigenes Profil geben möchte, aber mangels Phantasie (und die hat unsere Stadtverwaltung weiß Gott nicht) sie sich irgendwie zusammen patchworkt. Soviel ich weiß, kommt der oberste Stadtplaner Reutlingens aus Bonn, einer Stadt, die zwar mal Bundeshauptstadt war, aber nie - trotz aller Bauten - eine echte Großstadt. Und das belastet - vor allem dann, wenn man erkennt, dass man an den Rand gespielt wird. Reutlingen wird auch an den Rand gespielt - durch Metzingen (das nur in Kunden denkt), durch Stuttgart (das nur in Kunden denkt) und durch Tübingen (das alle über den Grünenklee lobt). Wo soll RT denn da seine eigene Identifikation, sein eigenes Profil gewinnen? "Reutlinger Köpfe" reden in altmodischen Vokabeln eines Marketings, das vor allem für ein altmodisches Marketing da ist. In der Situation - und das wäre mein ernstgemeinter, aber völlig bedeutungsloser Rat - müsste diese Stadt zu erst einmal jede Menge Ideen (und zwar ohne marketingpädagogische Zielführung) zulassen, hemmungslos zulassen. Heisenberg hat mal gesagt: Willst Du etwas Neues wagen, musst Du Reichtum zulassen - Reichtum der Ideen.
Kommentar veröffentlichen