Reutlingen oder Die Zukunft der Stadt (Teil 2)
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Fast 80 Prozent des
Verkehrs aus Fußgänger, Fahrrad, Bus und Bahn - das gibt's nur in Freiburg. Modellstadt
der Zukunft? Zumindest für Reutlingen...
"Die autogerechte Stadt geht an sich selbst zugrunde",
war die Eingangsthese des Verkehrsministers von Baden-Württemberg, Winfried
Hermann (Bundnis 90/Die Grünen). Er forderte nach der Energiewende nun die
"Verkehrswende". "Die heutige Stadt" habe nur eine
"beschädigte Lebensqualität", diagnostizierte der Minister und meinte
dabei vor allem Stuttgart. "Die europäische Stadt" sei historisch
eine "menschliche Stadt". Da hatte er den Begriff "Mensch" erstmals bei insgesamt vier von mir gezählten Erwähnungen benutzt (damit
gehörte er übrigens zur Spitzengruppe). Aber was sollte er auch machen, wenn
eine Stadt heute vor allem als Parkraum wahrgenommen werden muss?
Es wirkt in der Tat absurd, wenn die 50 Millionen bundesweit
zugelassenen PKW Platz für mehr als 200 Millionen Menschen bieten, aber es in
ganz Deutschland nur 80 Millionen Einwohner gibt? Früher sprach man von
"fehlbelegten Wohnungen", wenn in einer Sozialwohnung, die für eine
vierköpfige Familie ausgelegt war, nur noch eine Person lebte. Sprechen wir
heute von fehlbelegten Fahrzeugen? Nein, eher von fehlbelegten Parkplätzen.
Würde man sie in Plätze und Verdichtung investieren, dann, ja dann wären unsere
Städte... ja, was, was wären sie dann... Natürlich umweltfreundlicher, aber
auch menschlicher?
Blick auf ein Stück Nachkriegsschauplatz: Der Turm des Stuttgarter Rathauses |
So ein wenig hatte da selbst Hermann seine Zweifel:
"Neue, verkehrsberuhigte Stadtteile", gäbe es, aber sie seien
möglicherweise "null schön" - trotz der neuen Busspuren, die für den
öffentlichen Personenverkehr geschaffen werden könnten, trotz des Anstiegs an
Mikromobilität, womit er Tretroller, E-Bikes und solche Errungenschaften wie
Stadtseilbahnen meinte, die ja auch in Reutlingen diskutiert werden. (Übrigens: Niemand erwähnte in diesem Zusammenhang die
Wuppertaler Schwebebahn.)
Die Wuppertaler Schwebebahn vor 100 Jahren... |
... und einer ihrer Bahnhöfe heute, der Vergangenheit nachempfunden |
Es ist absurd: 90 Prozent der Zeit würden die Autos
herumstehen, Parkraum für sich beanspruchen, der den Menschen zum Leben fehlt.
Nur zehn Prozent der Zeit seien sie im Einsatz. "Das ist doch alles nicht
rational", meinte er plakativ.
Parken in Berlin: Wenn alles schläft, Autos im Ruhemodus in Alex-Nähe |
Und dann stellte er jedoch fest: "Es
gibt einen Bewusstseinswandel". Das gilt besonders bei der jüngeren Generation,
die sich nicht mehr so sehr durch das Auto definiert, sondern durch Mobilität.
In Lyon: Warten auf Fahrradgäste |
Wie äußert sich dieser Bewusstseinswandel. Wahrscheinlich
und am liebsten wie in Freiburg, möchte man meinen. Hier hat der
"Umweltverbund" bereits "80 Prozent" (Hermann) der
individuellen Mobilität erreicht. Eine Zahl, die ich mitschrieb und erst gar
nicht glauben wollte. Zuhause dann der weltberühmte Faktencheck: 2016 hatten
nach Angaben der Stadt Freiburg (226.000 Einwohner) die Fußgänger einen Anteil
von 29 Prozent, Fahrradfahrer von 34 Prozent und die der öffentliche
Personennahverkehr von 16 Prozent -
macht zusammen 79 Prozent, das fehlende Prozent ist der Ministerbonus.
Er hätte auch noch in die Schweiz schauen können (was er
nicht getan hat) - nach Basel
(Einwohnerzahl 171.000), eine Stadt mit einem großen Einzugsgebiet von 830.000
Einwohnern. Im Jahr 2000 waren es 100.000 weniger gewesen. Basel war früher eine "Fabrikstadt" wie
Reutlingen. Die Schweizer Metropole ist mit seinen 44 Museen und seiner
Großindustrie mehr denn je auch kulturell ein Magnet fürs Umland. Dennoch liegt
der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel bei 27 Prozent, nur noch 18 Prozent
Anteile hat das Auto, 16 Prozent das Fahrrad - und die Fußgänger sind - man staune - die eigentlichen
Schrittmacher mit 39 Prozent.
Stuttgart: Im Grünen |
Ich habe dann mal im Netz recherchiert, wie denn die
Vergleichswerte für Reutlingen aussehen. Die Fußgänger machen hier 22 Prozent
aus, die Radfahrer haben einen Anteil von 15 Prozent und der öffentliche
Nahverkehr von mageren zehn Prozent. So heißt es jedenfalls in einem Artikel
der Reutlinger
Nachrichten vom Juli 2015, in dem das neue Verkehrskonzept vorgestellt
wurde. (Die Zahlen sind nicht leicht zu
finden, werden auch nicht mit anderen Städten verglichen - und wurden bislang
von den Lesern im Netz kommentarlos geschluckt.) Auf jeden Fall liegt unsere
Stadt beim "Umweltverbund" im Vergleich zu Freiburg und Basel um rund
30 Prozentpunkte zurück. Vielleicht kann das Wachstum bei den E-Bikes und
Pedelecs dies ändern.
Stuttgart: Eine U-Bahn taucht auf |
Aber Hermann hatte noch weitere Beispiele. In Kopenhagen
haben 40 Prozent der Haushalte kein Auto - bestimmt ein Spitzenwert. In
Deutschland kommen nur die Großstädte ab 500.000 mit einem Anteil von 30
Prozent in eine ähnliche Richtung. Reutlingen ist zu klein, zu wenig verdichtet
und vor allem wohl auch zu gering ausgestaltet
im Bereich des öffentlichen Nachverkehrs, um da auch nur heranzukommen.
In einem "Impulsreferat" hatte das "Institut für Mobilität &
Verkehr" aus Kaiserslautern im Rahmen einer Klausurtagung des Reutlinger
Gemeinderats im Dezember 2012 angegeben, dass in Deutschland 80 Prozent der
Haushalte über ein Auto verfügen - und offensichtlich dies auch für Reutlingen und
Umgebung angenommen. Wer mehr und aktuelleres dazu wissen will, bekommt zwar
einen Hinweis auf Google, der auf einen Link vom 26. September 2017 hinweist, aber
da clickt man ins Leere. "Fehler: Datei nicht gefunden", heißt es
dort. Schade.
Nun ist unser Verkehrsminister zu sehr ein Politiker der
Grünen, um nicht auch noch die Schadstoffbelastung zu erwähnen und die Aussicht
auf Fahrverbote. Da rühmt er vor allem die Stadt Karlsruhe, die "in den
letzten zwölf Jahren die Stickoxide um zehn Prozent reduziert hat",
berichtete Hermann. Das sei so stark übrigens, dass Karlsruhe wahrscheinlich
nicht in den Genuss jener neuen, insgesamt eine Milliarde Euro schweren
Notfallprogramme kommen werde, die beim Dieselgipfel 28 schwerbelasteten
Kommunen für die Sanierung in Aussicht gestellt wurden. So meinte jedenfalls am
nächsten Tag Frank Mentrup (SPD), Oberbürgermeister von Karlsruhe, der an dem
Dieselgipfel - wie unsere Oberbürgermeisterin Barbara Bosch - teilgenommen
hatte. Er nutzte übrigens das Wort "Mensch" kein einziges Mal, jedenfalls
nach meiner Statistik, und hatte sich am 5. Oktober bestimmt nicht gefreut, als
der Bau der 588 Millionen Euro teuren U-Strab im Feuilleton der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung eine ganzseitige, sehr kritische Würdigung bekam. Dort
heißt es geradezu vernichtend: "Die U-Strab gerät zum Angriff auf das Herz
der Stadt."
Bestimmt nicht rational ist diese Elektrifizierung einer Stadt: New York (2008) Foto: KV |
Das war es dann auch, dass das, was Hermann im Verhalten der
Bürger als "nicht rational" bezeichnete, der Politik und ihren
Planern als zu rational misslingen wird.
Da muss unser Reutlingen, eine der Städte, die sich als
schwer belastet einstufen lassen muss, höllisch aufpassen. Wir alle wissen: die
Sachzwänge sind enorm. Immerhin
überschreitet die Stadt seit sieben Jahren die Grenzwerte bei Stickstoffdioxiden,
dem "Dieselabgasgift" (Bund
für Umwelthilfe) schlechthin. Jetzt wartet alles auf den Scheibengipfeltunnel,
der allerdings nach Meinung des Bundes für Umwelthilfe keine Lösung sei - zumal
auch die Vorschläge für die Verengung der Lederstraße nicht auf große Begeisterung
in Reutlingen stoßen. Verständlicherweise - möchte man hinzufügen. Allerdings
hat das Land Baden-Württemberg genau dort seine Messstation installiert. Das ist
gleichsam unser Stuttgarter "Neckartor". Ein schwieriges Thema, dem
man eigentlich weder rational noch emotional beikommen kann. Außer - man gibt
der Zukunft eine Chance und entwickelt sie aus sich selbst, stellt sich die
Welt in 25 und 30 Jahren vor. Dann wären wir wirklich in der Stadt der Zukunft.
Reutlingen 2011: Für Fußgänger der Steg (als er noch intakt war) und freie Fahrt für Busse. |
Worüber in Stuttgart gesprochen wurde, war vor allem die
Stadt der Gegenwart - nicht der Zukunft. Und diese Stadt (damit ist nicht nur
Reutlingen gemeint) macht momentan nichts anderes als all jene Vorschläge zu
realisieren - und sei es nur erst einmal im Kopf -, die bereits aus den
neunziger Jahren, wenn nicht früher, formuliert wurden.
So klingen auch die Thesen des Verkehrsministers, der
verlangt, dass man nicht "den alten Konzepten" nachbauen soll. Ein
Greuel ist ihm die Platzverschwendung fürs Parken in den Städten. Irgendwie
möchte man ihm da zustimmen. Wenn man aber bedenkt, dass auf jedem Platz ein dickes
Stück Bruttosozialprodukt steht, ein Stück, das wahrscheinlich auch noch
hierzulande, Baden-Württemberg, hergestellt
wurde, dann fragt man sich: Wo kommt die neue Wirtschaftskraft her? Was wird an
Arbeitsplätzen, Umsatz und Ertrag das Auto ersetzen? "Dienstleistungsarbeitsplätze",
sieht da Hermann als Ersatz. Wahrscheinlich liegt er da auch richtig. Doch ist
dies nichts Neues. Die Umwandlung unserer Wirtschaft von der Industrie in den
Service ist ein Prozess, der nicht erst in den siebziger, achtziger oder
neunziger Jahren wahrgenommen wurde.
Wir realisieren nicht nur die Konzepte der letzten 25 Jahre,
sondern wir leben in denen der vergangenen 50 bis 70 Jahre. Diese basierten
eben auf der autogerechten Stadt. "Wenn wir nicht schnell genug sind,
kommen wir zu spät", meinte Hermann. Und dann griff er doch auf ein
Konzept zurück, das ich seit den sechziger Jahren kenne: "Der Verbund der
Grünen Welle ist nicht der letzte Schrei in der Verkehrssteuerung." Richtig.
Es ist uralt, war schon nicht mehr jung, als ich meinen Führerschein 1973
gemacht habe. Die Grüne Welle wurde vor 100 Jahren in Salt Lake City zum ersten
Mal ausprobiert. Wer versucht, durch Reutlingen im Rahmen einer Grünen Welle zu
fahren, wird noch in 25 Jahren nach der richtigen, nach der angemessenen
Geschwindigkeit suchen. Es gibt sie eigentlich nur spontan.
Wir brauchen ein Bild von der Stadt, wie sie in 25 Jahren
sein soll. Nicht nur in Reutlingen, sondern überall. Vielleicht sollten wir
damit aufhören, der Zukunft stets hinterher zu laufen. Wir könnten doch einmal
der Zukunft voraus sein - sonst geht irgendwann einmal die Zukunft an sich
selbst zugrunde.
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft? Bildertanz-Quelle: Fotos Raimund Vollmer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen