Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Amsterdam - Schaubild im Stuttgarter Hauptbahnhof: Stadt ohne Autos? »Ich behaupte dreist: Jede Industrie im Staate,
die der Staat nicht selbst lenkt,
ist der Beginn des Untergangs dieses Staates selbst.«
Friedrich List (1789-1846), Reutlingens berühmtester Sohn
Riesige Parkanlagen umsäumen die Stadt. Es ist das Jahr
2040. Reutlingen ist endlich ein eigener Stadtkreis - und diese Parkanlagen
stehen genau dafür. Sie wirken wie ein gewaltiger Stadtgraben, plattgemacht
zwar, wie zwei Jahrhunderte zuvor der Ledergraben. Aber diese Parkgürtel hat
dieselbe Schutzfunktion wie dereinst der Ledergraben. Statt Feinde wehrt er
Feinstaub ab.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es sind Parkanlagen zum
Parken - und sie umgeben die Stadt in einem Abstand von fünf bis acht Kilometer
von der alten Kernstadt. Die landwirtschaftlich genutzten Grüngürtel, die noch
vor 20 Jahren die eingemeindeten Dörfer Reutlingens voneinander und zur
Stadtmitte trennten, wurden alle bepflastert, aber so, dass immer noch üppiges Gras
zwischen den schön ebenerdig verlegten Steinen wachsen kann. Hie und da sprießt
sogar Löwenzahn. Aber lange kann er sich nicht halten. Denn morgens kommen aus
dem Umland Tausende von Elektroautos angerollt, suchen sich vollautomatisch
ihren Parkplatz, nachdem sie ihre Passagiere, Menschen wie Du und ich, an den
Kleinbushaltestellen abgesetzt haben.
Alles funktioniert wie am Schnurbaumschnürchen.
Privater Individualverkehr jeglicher Art ist innerhalb der
Umwelt-Zone Reutlingens verboten. Alles, was sich hier elektrisch auf vier
Rädern bewegt, ist öffentlich. Der RSV - der Reutlinger
Selbstfahr-Verkehrsbetrieb - steuert alles. Per Satellit. Per Mobilfunk. Per
Induktionsspur, die zum Beispiel in die Lederstraße hinein gefräst wurde. Wenn
die Kleinbusse darüber fahren, werden ihre Batterien automatisch aufgeladen. Am
Südbahnhof wurde sogar eine automatengesteuerte Akku-Austausch-Station
eingerichtet. Das Ganze nennt sich REX (Robot EXchange). Bislang war die
Stadtverwaltung noch nicht davon abgekommen, sich angelsächsischer
Wortschöpfungen zu bedienen, nachdem man sogar innerhalb der Behörden begonnen
hatte, Englisch als Geschäftssprache einzuführen. Allerdings mit einem deutlich
hörbaren schwäbischen Akzent.
Englisch wird endlich schwäbisch.
Wie alles begann: 2018 |
Dem RSV gehört alles, was sich durch die Stadt bewegt und
durch das Strom fließt. Damit hat man den "Uber-Fall" elegant
abgewehrt. Der Amerikaner wollte sich nämlich diese Pfründe ursprünglich
sichern, wurde aber kartellrechtlich in die Schranken verwiesen. Der RSV allein
hatte den Anspruch, als ein "natürliches Monopol" anerkannt zu
werden. Der Grund: Nur so war garantiert, dass die Stadt über sich selbst die
Kontrolle behalten konnte. Zu tief saß noch der Schock in manchen Kommunen, die
ihre Infrastrukturen im "Sale & Lease-Back"-Verfahren an amerikanische
Heuschrecken verkauft hatten und anschließend feststellen mussten, dass sie noch
nicht einmal die kleinsten Veränderungen an ihren Bussen und Bahnen vornehmen
durften, ohne vorher die Genehmigung des Leasinggebers in den USA oder auf den
Cayman Islands einzuholen. Stadtkämmerer traten die Schweißperlen auf die
Stirn, wenn sie von der Öffentlichkeit aufgefordert wurden, die Bedingungen zu
erklären, unter denen man seine Infrastruktur ans Ausland verhökert hatte.
Reutlingen war dies zum Glück erspart geblieben. Man muss ja nicht alle Dummheiten mitmachen.
Sogar der gesamte Zulieferverkehr wird vom RSV geregelt und
zwar über eigene Elektro-Sprinter, die täglich die Logistikzentren am Rande der
Stadt anfahren, um dort von Riesenlastern angelieferte und zwischengelagerte
Waren abzuholen und in die City zu bringen. Natürlich basiert dies alles auf
vollautomatisierten Verfahren. Menschen sind hier grundsätzlich Unbefugte.
Software bestimmt alles. Autos, Roboter, Drohnen - sie alle gehören zusammen,
bilden eine wunderbar funktionierende Stadtmaschine.
Reutlingen ist ein Vollautomat. Eine Stadt unter Strom. Eine
ehemalige Reichsstadt, die sich endlich wieder selbst kontrolliert - zumindest gilt
dies seit der Auskreisung.
Mehr noch: Endlich wurde ein uralter Traum erfüllt, obwohl
er mehr ein Maschinentraum als ein Menschheitstraum war.
Alles, was in den letzten zwanzig Jahren in Reutlingen
geschehen war, ließ sich auf die Philosophie von Friedrich List zurückführen.
Irgendwie jedenfalls. Er musste für alles herhalten, was die Stadt tat. Aber eigentlich stand ein älterer Zeitgenosse des
Schwaben hier Pate: Adam Smith, der Mann, der den Kapitalismus erfand.
Dieses Wirtschaftssystem, das Adam Smith sich ausgedacht
hatte, nannte der britische Philosoph David D. Raphael einmal eine
"imaginative Maschine".[1] Genau
das war Reutlingen geworden. Die Stadt war längst eine Miniatur-Version des
"Maschinenstaates", zu dem Friedrich der Große (1712-1786) sein Preußen umgestalten
wollte. Reutlingen, diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte
Industriestadt, hatte sich bis 2040 sukzessive in eine "imaginative
Maschinenstadt" verwandelt. Fortschritt total. Vor allem aber war RT ein
Symbol für eine geniale "digitale Transformation" geworden. Eine
Stadt, die sich in all ihren Tätigkeiten komplett auf einer Festplatte
simulieren ließ - synchron zu den Ereignissen in der Realität, ihnen zumeist
sogar vorauseilend, auf jeden Fall immer auf der Höhe der Zeit.
Der amerikanische Zukunftsdenker Raymond Kurzweil, der Mann,
dessen Visionen weit in dieses Jahrhundert hineinragen, schrieb 1986:
"Während des 18. Jahrhunderts wurden Wirtschaft und Gesellschaft durch die
Einführung der Maschinen komplett umgestellt. Maschinen, die unsere natürlichen
Begabungen erweitern, multiplizieren und aushebeln konnten. Daraus ward die
Industrielle Revolution."[2]
Mit ihr durchdrang die Technologie fürderhin alles.
Wirtschaft, Staat, Gesellschaft, Individuum - und Reutlingen.
2040 ist es soweit. Dann haben wir einen Punkt erreicht, der
heute schon einen Namen hat: Singularity.
Aber das ist eine andere Geschichte, die aus der Zukunft
kommt.
[1] Die Zeit, 17. Mai 1991, Nikolaus Piper:
"Adam Smith war anders", danach zitiert
[2] Computerworld, November 3, 1986:
"The Scond Industral Revolution"
SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen
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