Samstag, 17. März 2018

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 3): Die Stadt als Kunstwerk


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Alter Stadtplan von Reutlingen

2018: »Wer wird beim Wettlauf zwischen der menschlichen Intelligenz der Gesellschaft und der Künstlichen Intelligenz des Staates auf Dauer siegen?«

Frage in der FAZ zur Situation in China, sie könnte auf Dauer aber auch auf Reutlingen zutreffen[1]

Vorbemerkung: Wer diesen Beitrag liest, sollte davon ausgehen, dass sich die Zahl der Nettigkeiten sehr in Grenzen hält. 

Städte sind nicht nur die größten künstlichen Geschöpfe des Menschen, sie sind auch die intelligentesten, die größte Ansammlung von Wissen, Denken und Kreativität. Hier funktioniert alles. Nach Plan. Hier ist alles geregelt. Nach Vorschrift. Hier ist alles Menschenwerk. 
Vor allem aber ist die Stadt ein Kunst-Werk. Wirklich?

"Nach zwanzig Jahren Wiederaufbau regen sich in der Bundesrepublik leise Zweifel, ob die Gleichung 'Neu = Gut' wirklich immer ohne Rest aufgeht", schrieb 1974 die Wochenzeitung "Die Zeit".[2] Wenige Monate später fragte sich in dem selben Blatt der SPD-Politiker Frank Dahrendorf, ob "unsere Städte" überhaupt noch "regierbar sind?" Er bejaht dies deutlich, aber er weiß auch: "Bis weit in die sechziger Jahre hinein waren in vielen Städten die Bürgermeister die prägenden Persönlichkeiten. Ihre Autorität war unbestritten." 
Oberbürgermeister Kalbfell und Bundespräsident Theodor Heuss
In der Tat - die Herrschaften bestimmten alles. Auch in Reutlingen, das mit Oskar Kalbfell einen lange Zeit sich völlig unumstritten wähnenden und dabei durchaus selbstherrlichen Oberbürgermeister (1945-1973) besaß.

Die städteplanerischen Fragen von damals waren zwar dieselben wie heute, doch sie wurden in der Tendenz so beantwortet, dass sie der Vergangenheit widersprachen. Weg mit dem Alten, dem Hergebrachten! Alles neu! 
Mitte der siebziger Jahre waren die Antworten jedoch nicht mehr so klar, fragten die Fragen sich in Alternativen. Dahrendorf: "Wie soll der immer wieder angeführte Lebensraum der Bürger aussehen? Soll lieber in die Höhe gebaut werden oder in die Breite, lieber auf der grünen Wiese oder in der inneren Stadt? Wünschen wir uns eine autogerechte Stadt, oder wollen wir öffentliche Verkehrsmittel bevorzugen? Welches Schulsystem ist richtig und welche Zahl von Hochschuleinrichtungen? Soll eine Stadt der Industrie oder des Handels oder der Dienstleistungen entstehen?" [3]

Alles gute Fragen - aber wir, in deren Namen sie gestellt wurden, durften niemals eine Antwort darauf geben. Das taten andere, das taten die, die uns verwalteten, nicht mehr autokratisch, sondern technokratisch.  Diese Technokraten, vor denen alles gleich ist, waren vornehmlich "die Skeptiker, die ästhetisch Unempfindlichen, die phantasieverachtenden Pragmatiker, die auf Zuwachsraten programmierten Ökonomen, die von der Rezession geschockten Kämmerer", schreibt 1975, im Jahr des Europäischen Denkmalschutzes, Hartwig Beseler, Landeskonservator von Schleswig-Holstein. "Sie sind nicht böse, sie sind oft gebildet, sie sind gelegentlich freundwillige Gesprächspartner."[4] Sie sind damals wie heute die Menschen mit Macht. Was sie wollen, geschehe! Was sie dulden, bleibe! 
Ein Oligopol trat an die Stelle des Diktators. Und nun kommt die Informatik.

Dem Oberbürgermeister nachkriegszeitlicher Prägung stand anfangs noch der Stadtbaumeister zur Seite, eine ähnlich allmächtige Figur, deren ästhetischem und künstlerischem Urteil sich der Stadtrat respektvoll beugte. Doch schon bald konkurrierte eine neue Planungsgeneration mit diesem Dinosaurier und besetzte die Schalthebel der Gestaltungsmacht. Sie konzentrierte ihr Wissen nicht mehr in einem Kopf, sondern verlangte das Zusammenspiel vieler Fachrichtungen. Die Stadt wurde interdisziplinär verplant. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf: die Entdeckung der grünen Wiese:  "Hochhäuser, auf dem Kartoffelacker zehn Stockwerke hinauf in den Himmel gebaut, Einfamilienwohnheime, tausendfach einfältig wie zum Aufmarsch in einst liebliche Täler gesetzt, Autoschlangen und ganze Gebirge von Bürogebäuden, die dem Leben in den Städten den Atem nehmen", beschrieb ebenfalls 1975 die prominente Journalistin Sybille Krause-Burger den Wandel, der sich mit den sechziger Jahren endgültig seine Bahn gebrochen hatte. Architekten mussten fortan "gemeinsam mit dem Verkehrsingenieur, mit Volkswirten und Soziologen, mit Landschaftsgestaltern, Klimatologen und Verwaltungsfachleuten um vernünftige und machbare Konzeptionen" ringen.[5] Das Ergebnis sehen wir überall. Nicht nur in Reutlingen. Die Städte hörten auf, Kunstwerke zu sein. Die Funktion übernahm endgültig nicht nur die Form, sondern auch jegliche Form von Individualität und Kreativität. 
Reutlinger Hochhäuser im Morgennebel

Der belgische Historiker Henri Pirenne machte vor vierzig Jahren auf etwas aufmerksam, was mit Sicherheit im Mittelalter nicht nur für das reiche Flandern galt, sondern auch für unsere Region. Städte seien untereinander kettenartig verbunden, nicht mehr als zwanzig oder dreißig Kilometer entfernt, was damals einem Tagesmarsch entsprach. Und es waren nicht Großstädte, sondern eher kleine Städte, bei denen, wenn man die eine verlässt, bald die andere am Horizont auftaucht. Es war ein Netzwerk voller künstlicher Welten, Knotenpunkte des Fortschritts und Zentralpunkte der Bürgerlichkeit.
"Deutschland und ganz Europa sind mit Hunderten dieser kleinen Orte übersät", deren Ursprünge bis in die Jungsteinzeit zurückgehen - bis in die Zeit vor 12.000 Jahren. "Sie waren innen in Straßen organisiert, die die Engländer für englisch, die Franzosen als ihrem eigenen mathematischen Sinne gemäß, die Deutschen als 'echt deutschen Typ' besonders in der ostdeutschen Kolonialstadt empfanden", meint der Kulturkritiker und Philosoph Eberhard Schulz (1929-2010).[6] Jede Stadt war ein eigenes Kunstwerk, bestimmt von der "Kunst der Überraschung" (Schulz), die sich bei jedem Gang durch die verwinkelte Stadt immer wieder zeigte und nicht mit dem "steinernen Meer der Großstadt", in der alles verschwindet, zu vergleichen war. In den Kleinstädten blieb über alle Gestaltungsebenen hinweg das "menschliche Element" erhalten. Heute hat man oftmals den Eindruck, dass dieses Element verschwunden ist - aus Kunst wurde Künstlichkeit. 


Mit der Industrialisierung und dem endgültigen Fall der Stadtmauern im 19. Jahrhundert nahmen die Kommunen eine Größe an, die zum Beispiel im Ruhrgebiet alle Abstände zwischen den Kleinstädten aufhoben. Die Stadt wurde zum Moloch, zur Megapolis, der nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg jede Chance genommen wurde, einen neuen, eigenen Charakter zu entwickeln. Dem blieb als letztes Reservat nur noch der Fußball, der Gelsenkirchen oder Dortmund jeweils zur "verbotenen Stadt" erklärte. Ansonsten sind die Städte austauschbar. Sie verloren ihre individuelle Bestimmung.

Und Reutlingen? Der kommissarische Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, Chef aus Gnaden der Franzosen, ergriff 1945 die Chance, um mit der Vollmacht einer Besatzungsmacht das Stadtgebiet um Pfullingen, Eningen, Unterhausen und um all die Dörfer ringsum zu erweitern. 1949 zerbrach zwar wieder dieses Gebilde am Widerstand der alten, selbständigen Kommunen, aber heute wäre dieses Reutlingen mit rund 160.000 Einwohnern längst ein eigener stolzer Stadtkreis. Niemand hätte da irgendwelche Zweifel. Reutlingen wäre sich selbst genug.

Tübingen wird bestimmt von den Lehrenden und Lernenden, Metzingen von Handelnden und Kaufenden, Bad Urach von Pflegenden und Genesenden - alles, was um uns herum ist, hat irgendwie seine Bestimmung gefunden. Stuttgart als Landeshauptstadt sowieso, das sich virtuell, wirtschaftlich und funktional alle Kleinstädte rundum einverleibt hat. Stuttgart wirkte - bis "Stuttgart 21" - komplett selbstbestimmt. Doch da musste es erleben, dass andere bei der Planung und dem Bau des Jahrhundertbahnhofs mitbestimmten - nicht nur Regierungen, die in der Hauptstadt ihre Residenz haben, sondern die Bürger aus ganz Baden-Württemberg. Seitdem wirkt Stuttgart nicht mehr sehr selbstsicher, eher unbestimmt. Wie unsere Stadt. Wie Reutlingen.

Württembergische Philharmonie: Bei der Einweihung der Stadthalle am 5. Januar 2013

Reutlingen hat keine Bestimmung. Sie galt mal als die Stadt der Millionäre, aber das ist ja keine Bestimmung, sondern allenfalls ein Ergebnis. In Bad Homburg mag es Bestimmung sein, Millionär zu sein, um dort als Bürger überhaupt leben zu können. Reutlingens Bestimmung war mal die Arbeit, das Schaffen, das Handwerkliche, das Gewerbliche. Daraus bezog es seine Kraft, auch in der Weigerung, sich vom Nationalsozialismus einfach schlucken zu lassen. Heute wirkt alles eher ungewiss. Und so probiert sie dies, und so probiert sie das. Mal versteht sie sich mit ihrer Stadthalle und ihrer neuen "Tonne" und besonders mit ihrer Philharmonie als Kulturstadt. Aber das ist sie nicht, keiner kommt von weit her wegen der Kunst, allenfalls die darstellenden Künstler selbst. Wegen des Geschäfts. Auf Tournee. 
SSV: Aus größeren Zeiten

Kulturstadt ist Reutlingen allenfalls gemessen an ihrer eigenen Entwicklung, was natürlich fast schon - zugegeben - eine boshafte und arrogante Bemerkung ist. Ein Technologiezentrum möchte unsere Stadt auch sein - mit Bosch als Magnet. Doch dieses Großunternehmen findet inzwischen Dresden attraktiver, eine Tatsache, die wir zu verdrängen suchen und nach anderen "hidden champions" forschen. Dann möchte sich Reutlingen als Hochschulstadt profilieren, rühmt sich irgendwelcher Ranglisten, die Freunde von mir aus anderen Städten veranlassten, mir spöttische Botschaften zu schicken. (Es waren übrigens keine Tübinger.) Mich hat's geärgert, dass mir bei einem Versuch, die Hochschule zu verteidigen, sehr schnell die Argumente ausgingen. Ach ja, da ist noch der SSV. Beim Fußball ist die Geschichte größer als die Gegenwart. Leider.

Da kann man durchaus verstehen, dass sich diese Stadt nun bemüht, aus sich eine Marke zu kreieren. Aber diese Marke, wie immer sie aussehen mag, gibt der Stadt noch keine Bestimmung. Doch bei aller Kritik an der Oberbürgermeisterin Barbara Bosch muss man ihr eins zugutehalten: sie besitzt den Mut, dieses heiße, heikle Thema anzupacken, auch wenn sie es falsch verpackt. Es geht nicht um die Marke und Marketing, es geht um Bestimmtheit und Bestimmung. Es geht um Identität. Das ist - mit Verlaub - ein Jahrhundertprojekt, das lässt sich nicht einfach in wenigen Monaten brandmeyern. Wie so oft in dieser Zeit, geht dieser unbedingte Wunsch, modern sein zu wollen, genau an der Sache vorbei, derer man sich eigentlich annehmen wollte. Das Marketing ist dafür da, Marketing zu verkaufen - ohnehin schon eine Perversion.  Aber so ist vieles. Und das ist es, was es so schwierig macht, Identität zu stiften. Eine Stadt ist vor allem ein Kunstwerk - ohne dass man es großartig erwähnen muss. Gutem Marketing sieht man auch nicht an, dass es Marketing ist. 

Ein solches Kunstwerk, wie es eine Stadt ist und einzigartig macht, kann man nicht einfach zu Ende denken. Es übersteigt in seinem Werden alle Amtszeiten eines einzelnen Oberbürgermeisters. Vielleicht ist dies der Grund, dass man dann auf das Instrument der Künstlichkeit zurückgreift. Diese lässt sich herstellen. Die Stadt als  Kunstprodukt, kein Kunstwerk. 
Es ist wie bei der Intelligenz, die neuerdings dann hoch im Kurs ist, wenn sie künstlich ist - und nicht menschlich.

Umweltschutz ist, obwohl es vorgibt, die Natur im Auge zu haben, nichts anderes als ein probates Kunstprodukt. Man kann hier alles wissenschaftlich begründen, alles lässt sich messen und vergleichen. Ja, man kann ihm sogar mit Gesetzen und Vorschriften zur Herrschaft verhelfen - zur Herrschaft über alles. Wir basteln am Pflichtenheft der Zukunft, die wir dann nur noch programmieren müssen - eine Fertigkeit übrigens, von der unsere Politiker meinen, dass sie zur Bildung gehört. Welch ein Zynismus! 


Auf jeden Fall ist der Umweltschutz heute ein Feld, auf dem man eine neue Form von Herrschaft wunderbar ausprobieren kann.
Schon deshalb gilt er auf fatale Weise als modern. 

Neuerdings könnte man meinen, dass sich Stuttgart und Reutlingen  durch diese neue Welt, durch den Umweltschutz, zu definieren versuchen. Beide Städte kommen aus dem Dreck, den keiner sieht, aber den die, die formal mehr Autorität besitzen als diese Städte selbst, minutiös gemessen zu haben erklären. Die Städte sind die Sünder, die sich nun in Engel verwandeln dürfen. Sie müssen nur gehorsam sein.

Beide Städte flüchten so mehr oder minder gerne unter eine geliehene, auf reiner Wissenschafts gründende Autorität, um Dinge durchzusetzen, die der Bürger offenbar nicht versteht, geschweige denn beurteilen kann. Und das lässt man ihn spüren - obwohl man ja selbst nichts anderes ist als gehorsam: gegenüber der EU-Kommission, gegenüber dem Regierungspräsidium, übrigens einer Institution, die auf Ernennung basiert, nicht auf Zustimmung durch die Beherrschten. Die, die uns zu beherrschen behaupten, sind selbst nur Befehlsempfänger. Ein trauriges Bild, das sie mit drakonischen Maßnahmen zu verdecken versuchen.

So scheint dass, war vordergründig wie eine Demonstration von Macht wirkt, in Wahrheit eine Demonstration von Ohnmacht zu sein. Wenn man dann bedenkt, dass alles, was heute getan wird, uns seit vierzig Jahren beschäftigt, nur dazu geführt hat, uns mit noch mehr Vorschriften zu konfrontieren, dann wird man sehr nachdenklich. Wenn wir uns heute gar am Rande des Fahrverbots bewegen, dann könnte man sich fragen, wohin das alles noch führen wird. Geht es wirklich nur um den Umweltschutz? Oder wird da etwas ganz anderes eingeübt?

Die Reaktion auf ein paar freche Bildertanz-Plakate auf Facebook lassen da Zweifel aufkommen. Die Maßnahmen werden von den Lesern als unsinnig und unglaubwürdig empfunden. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es darum geht, uns - die Bürger - nur noch als Einwohner wahrnehmen zu lassen. Und indem wir nicht mehr wählen gehen, bestätigen wir dies auch noch. Wir nehmen unsere eigenen Rechte nicht mehr wahr.

Denken wir uns als Einwohner einmal zu Ende!

Dann sind wir nur noch dumme Untertanen, eingebettet in eine Welt voller Vorschriften zu allem, was wir tun. Eine Welt der Vorschriften ist wie geschaffen für Software, für die Welt der Algorithmen und Befehlssätze. So entsteht der Verdacht, dass genau daran gearbeitet wird. Vor allem in Kombination mit der Künstlichen Intelligenz.

Wie keine andere Lebenswelt ist es die Stadt, die sich als Experimentierfeld anbietet. Sie war Kunstwerk, sagen die Historiker. Sie ist heute nur noch Künstlichkeit, sagen die Stadtplaner. Sie ist morgen Künstliche Intelligenz, verheißen händereibend die Informatiker. Ihnen wächst alle Macht zu - um dann in völlig fremde Hände überzugehen.

"Soft Artificial Intelligence ist plötzlich überall", eröffnete im November 2014 das US-Magazin Vanity Fair einen Grundsatz-Artikel über KI. Der Autor, Kurt Andersen, beschreibt darin eine Zukunft, in der wir, die Menschen, von Maschinen abgelöst werden, von Maschinen, die intelligenter sind als wir. Wann das geschehen wird, ist unklar - und doch irgendwie zeitlich umrissen: in den nächsten 20 bis 100 Jahren. Dabei ist nicht nur entscheidend, wann Maschinen intelligenter sind als wir, sondern auch der Zeitpunkt, von dem aus sich die Künstliche Intelligenz ohne unser Zutun selbst verbessern kann. 
Warum aber sollen wir überhaupt diesen Weg gehen? Um eine  Antwort zu finden, müssen wir 200 Jahre zurückblenden. 

"Im XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die große Crisis zu: die moderne Cultur", erkannte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr ausgerichtet sei. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz. Die "moderne Cultur" hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung. Jetzt siegt das Profane, das Professionelle. Alles werde "zum bloßen business", meint Burckhardt, "wie in America". Die Wirtschaft, also die neue auf Konsum gerichtete millionenfach entfesselte Kultur, übernimmt mehr und mehr den Staat.[7] Mit dieser Entwicklung rückt das Individuum in den Vordergrund - aber nur in seiner erbärmlichsten Gestalt: als Konsument, als Verbraucher. Dabei müssen wir feststellen, "dass wir der Frage nicht länger ausweichen können, was wir hier auf Erden tun und wie wir die erdrückende Last der Dingwelt ertragen können, nachdem wir jegliches tiefere Schicksalsbewusstsein verloren haben", bemerkte einmal der große französische Schriftsteller Eugène Ionesco (1909-1994).[8]

Es ist also die Kommerzialisierung aller Lebensverhältnisse, die uns auf diesen Weg zu zwingen scheint. Aber ist der Konsum wirklich das Thema, das uns vollkommen beherrscht? 
Dies ist kein Votum gegen die Wirtschaft, kein Votum gegen den Konsum, es ist auch kein Votum gegen die Technik, sondern gegen deren Monopolansprüche. Die Stadt hat sich immer durch den Menschen definiert. Hier wurde er frei. Sie ist heute aber der Ort, an der er - durchaus selbstverschuldet - am ehesten diese Freiheit verlieren könnte. Und zwar genau durch die Instrumente, die ihn heute in die Stadt locken: die Wirtschaft und die Technik.

Und damit nähern wir uns der entscheidenden Frage: Sind wir die Herren der Welt, oder haben unsere Schöpfungen längst das Kommando über uns übernommen - in einem Prozess, der vor 200 Jahren begann und der in diesem Jahrhundert seinen Kipppunkt erfahren wird? Ist gar nicht die Unumkehrbarkeit des Klimawandels und damit die drohende Vernichtung der Erde unser größter Problemfall, sondern die Informatik, vor der Übermacht sich die Menschheit retten muss?

Vielleicht müssen wir, die wir in der Stadt leben, nur zwei Schritte zurückgehen und die Stadt wieder als ein Kunstwerk verstehen - als die größte von Menschen geschaffene Schöpfung. Diese Schöpfung basiert auf Vordenken, nicht - wie die Computer - auf Vorschriften.

Anders formuliert: Machen wir uns die Computer untertan. 
Gerade weil die Bestimmung und Bestimmheit unserer Stadt so wenig festgelegt ist, könnte sie diese Chance nutzen, sich selbst und ihren Bürgern die Souveränität zurückzuerobern. 
Reutlinger sind rebellisch, urteilten dereinst Könige. Wahrscheinlich bleibt dies unsere Bestimmung.


[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2018: "n=Xi2
[2] Die Zeit, 29. März 1974, Horst Bieber: "Bataille um eine Brücke"
[3] Die Zeit, 15. November 1974, Frank Dahrendorf: "Die Autorität zählt nicht mehr"
[4] Die Zeit, 17. Januar 1975, Hartwig Beseler: "Die Zukunft der Vergangenheit"
[5] Die Zeit, 2. Oktober 1975, Sybille Krause-Burger: "Teamwork ist das Gebot der Stunde"
[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni 1975, Eberhard Schulz::"Die Internationale der Kleinen Städte"
[7] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 1998, Peter Dietrich: "Die große Macht ist die Gesellschaft"
[8] Martin Esslin, 1965, "Das Theater der Absurden", Seite 111, danach zitiert
 
SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen

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