Samstag, 7. April 2018

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 4): Die Stadt und ihre Neurosen


Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer


 2018: »Städte, in denen nur noch kontrollierter und natürlich auch wirtschaftlich kontrollierter Raum existiert, sind ein Albtraumvorstellung.«

Esther Kinsky (*1956), deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin


Es ist Dienstag. Fünf Menschen sitzen dichtgedrängt  in einem Auto, und bei der kurzen Fahrt entwickelt sich ein Gespräch über die just gestartete Online-Befragung zum Markenbildungsprozess der Stadt Reutlingen. In deren ersten Paragraph fordern die Markenforscher den Bürger auf zu sagen, was man spontan mit Reutlingen verbindet. Und schon hast Du das Gefühl, dass Du bei einem Psychater auf der Couch liegst.

 Ein Mausoleum für die Perfektion - die Stadthalle, davor ein Platz für uns Stadtneurotiker

Der Autor dieser Zeilen, der sich sofort dem Fragebogen gestellt hat, weiß, dass es wirklich darauf ankommt, dass man das sagt, was einem spontan, als erster Gedanke, durch den Kopf gegangen ist. Er hat seine Antwort eingetippt, und er steht dazu. So outet er sich und gibt zähneknirschend zu, dass es "die Stadthalle" gewesen sei. So hätte er es auch auf dem elektronischen Formular angegeben. Die anderen - inklusive Fahrer - schauen ihn für einen kurzen Moment erstaunt an. Sie hätten in ihrem ersten Gedanken eine andere Assoziation gehabt, ja, sie hätten gar ein Urteil gefällt. Ein Urteil, das besagte, dass ihnen Reutlingen früher besser gefallen habe. Natürlich sähe heute alles sehr viel schöner aus, ungleich sauberer, aber auch klinischer. Natürlich sei die Luft heute erheblich besser als in den fünfziger oder sechziger Jahren, als überall noch Schlote das Stadtbild prägten. Heute sei alles gepflegter.
Es ist in der Tat eine fast schon vollendet künstliche Welt, die sich da vor uns aufgebaut hat. Und dafür stand bei mir "die Stadthalle". Sie steht für eine Welt, die der Philosoph Arnold Gehlen als Beweis heranziehen würde für die Behauptung, dass der Mensch nicht primär durch seine natürlichen Anlagen definiert sei, sondern durch die künstliche Welt der Kultur, eine Welt, die er sich selbst geschaffen hat. Eigentlich - so müsste man meinen - ist das Reutlingen von heute eine ideale Welt für uns Menschen.
Und doch behaupten die Mitfahrer: Reutlingen sei vor 50 Jahren ein viel heimeligeres Städtchen gewesen, quicklebendig und in seiner bruddeligen Art viel freundlicher, nicht so kalt, nicht so fremd. Es wäre eben ihre Stadt gewesen, sagen sie mit einem Hauch von Sentimentalität. Es sei die Stadt der Bürger gewesen, der Menschen, die hier lebten, arbeiteten, sich engagierten. Ja, sie seien samstags häufig mit vollgepackten Einkaufstaschen nach Hause gefahren, wenn's ging mit dem eigenen Auto, ansonsten auch mit der Straßenbahn oder mit dem Bus. Und für manchen sei das meiste in der Stadt auch noch fußläufig erreichbar gewesen. Nach einer Weile geben sie dann zu: "Wir waren ja auch noch jung" - und sparten das Geld für Bus und Bahn, fuhren mit dem Fahrrad oder machten sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt und zurück. 
War also das Jungsein der Grund dafür, dass den Menschen hier die Stadt von gestern besser gefiel als die von heute? Spielt uns die Erinnerung vielleicht einen Streich?
Was war das für eine Stadt - in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg? Reutlingen hatte es in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges doch noch ziemlich erwischt. Die Stadt war heftig bombardiert worden, die Menschen wurden von Tieffliegern beschossen - und war schließlich von den Franzosen besetzt worden. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein gab es noch Trümmergrundstücke, Ofenheizungen verpesteten die Luft. Kohle und Koks. Es war stickig und staubig, die Straßen waren in einem miserablen Zustand, die Wohnungen klein und hoffnungslos überbelegt. Es war alles eng und manches bestimmt auch engstirnig. 
Metzgerstraße - wenn man genau hinschaut, dann überrascht die Vielfalt - und sie berührt einen seltsam. 
Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, diese Stadt von damals schöner oder gar heimeliger zu finden als die von heute.
Andererseits: Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, der fortgesetzten Industrialisierung, die mit ihrer ungebremsten Dynamik das Stadtleben intensivierte. Hier waren die Arbeitsplätze. Hier waren Wohnungen. Hier waren die Kaufhäuser. Hier waren die Treffpunkte. Hier war das Vergnügen. Hier war die Kultur. Die Stadt wurde noch als eine räumliche und soziale Ganzheit verstanden. In ihr spiegelte sich alles. Bürokratie und Bürger verstanden sich zwar durchaus als Antagonisten, die einen standen für Rationalität, die anderen für Emotionalität, aber die Herrschenden hatten sich noch nicht zu Tode gesiegt. Das Rennen war noch offen. 

Ein Sammelsuriumder Stile - um das sich noch nie jemand gekümmert hat. Alles künstlich, aber bestimmt nicht künstlerisch. Profanbauten wie sie jede Stadt hat. 

Reutlingen hatte sich trotz aller Veränderungen über eine lange Zeit seinen schwäbisch-provinziellen Charme erhalten, seine Gemütlichkeit, war irgendwie immer noch "heile Welt". Nichts war Masche oder Marke, hatte also jene überkünstelte Form, die möglicherweise das Menschsein nicht mehr erschafft, sondern erstickt. Reutlingen war eine Stadt voller Schrullen und Schrammen. Es herrschte eine natürliche Spießigkeit, die jemand, der damals aus einer ganz anderen Gegend Deutschlands kam, fast schon meinte, greifen zu können. Das ist heute nur noch in Resten spürbar, in aufflackernden Momenten, die nichts, aber auch gar nichts mit den Gebäuden und Plätzen zu tun haben, sondern nur mit den Menschen. Diese Momente haben nichts mehr mit der Stadt zu tun - jedenfalls nichts mit der Stadt, wie sie sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat.
Es kam die Zeit der Jugendrevolten, die überall in der westlichen Welt schon ein paar Jahre vor 1968 angesetzt hatte und irgendwann auch Reutlingen in ihren Bann nahm. Es war die Zeit des Jugendkults, der Befreiung von überkommenen Moralvorstellung, des gesellschaftlichen Aufbruchs. Es war die Zeit einer geradezu berauschenden Fortschrittsgläubigkeit. Hinweg mit dem Alten, her mit dem Neuen. Das Rationale und das Emotionale waren sich nicht spinnefeind, sondern verstanden sich als die zwei Seiten derselben Medaille. Endlich besaß Reutlingen mit der Eröffnung des Kaufhauses Merkur eine Rolltreppe. 
 
Das Hochhaus wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Kein Stern leuchtet hier mehr.
Sogar das Hochhaus an der nach dem Krieg deutlich verbreiterten Karlstraße, auf dessen Dach ein stolzer Mercedes-Stern sich drehte, entzückte die Bürger. Aber das Moderne, dem man durchaus zujubelte, hatte eher seinen Platz an der Peripherie, nicht in der Altstadt. In ihrem Zentrum schien Reutlingen eine historische Stadt zu bleiben. Man errichtete Gartenstädte, stampfte Wohnfabriken aus dem Boden, tat alles, um den Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden. Auch das Auto wurde voll akzeptiert, bekam seine breiten Straßen und Parkplätze. Stadt und Bürger pulsierten im Gleichtakt.

Alles, was irgendwie mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts assoziiert wurde, landete auf dem Sperrmüll, der an seinen Feiertagen die Bürgersteige blockierte. Es war sehr modern, sehr modern zu sein. Nur die Soziologen, die damals für den Zeitgeist verantwortlich waren, ahnten, dass diese Zwangsprogressivität nur von kurzer Dauer sein würde und sehr schnell umschlagen könnte in eine Nostalgiewelle. Und die kam dann ja auch mit den siebziger Jahren. Bundeskanzler Willi Brandt (1969-1974) sprach von "Lebensqualität" - und nach der strebte man nun überall, ebenso nach "mehr Demokratie". Und irgendwie hatte man das Gefühl, dass von nun an, alles möglich sei. "Anything goes", hieß - nach einem Song des Musical-Komponisten Irving Berlin - der Wahlspruch überall in der westlichen Welt. Alles geht.
Aber jetzt drifteten Rationalität und Emotionalität auseinander. Umstritten war der Bau des neuen Rathauses, er spaltete die Stadt. Das war 1966 der Anfang. Man rückte ins Zentrum vor, in das Herz der historischen Stadt. Mitten hinein pflanzte man etwas ganz anderes, etwas, das reine Vernunft mit kalter Schönheit zu verbinden suchte.
Der von den Verwaltungstrakten separierte Ratssaal erhob sich gar auf stolzen Stelzen über die Köpfe der Bürger. Auch der Abbruch von Klein-Venedig befremdete viele Bürger. Häuser mit großer geschichtlicher Bedeutung wie der Zwiefalter Hof mussten in den siebziger Jahre Funktionsbauten wie einem Parkhaus weichen. Dessen Bau war mächtig umstritten - und erhitzt heute noch die Gemüter.
Dazu passt auch das Ende der geliebten Straßenbahn, die an ihrer prominentesten Stelle, der Wilhelmstraße, dem ganzen Arrangement der historischen Stadt die Krone aufsetzte. Ihre Abschaffung war - nach Aussage vieler Bürger - "die größte Sünde" überhaupt. Mit dem Ende der Straßenbahn verlor diese Stadt endgültig ihre Komposition als dynamisches Gesamtkunstwerk. Die alte, den Menschen inspirierende Künstlichkeit schwand dahin. 
 
Die Marienkirche - hier ahnt und atmet man das andere Reutlingen

Heute ist die Wilhelmstraße in ihrem unteren Teil nur noch eine Hitparade der Ladenketten. Und die obere Wilhelmstraße, nach wie vor ein Kleinod, kämpft um ihre Existenz. Hier, wo Reutlingen am schönsten ist, ist unsere Stadt vor allem Kleinstadt, in der nach wir vor die Kirche das größte und wichtigste Gebäude ist. Wie die Marienkirche mit ihrem stillen Stolz, die sich weder durch das Weindorf noch durch den Weihnachtsmarkt beirren lässt. Sie erträgt es auch gnädig, wenn sich nun der Weibermarkt mit weiteren Events an sie heran kuschelt. Sie ist eine künstliche Oase, alles an ihr und in ihr ist menschengemacht. Und vielleicht der kommunikativste Ort in der Stadt überhaupt. Wer je ein Konzert in ihr besucht hat, den überkommt eine unglaubliche Vertrautheit mit dieser Stadt und ihren Menschen. Er ahnt das andere Reutlingen.
Seit den siebziger Jahren wurde die Kluft zwischen der Rationalität und der Emotionalität immer tiefer. Es war der Konflikt zwischen dem System Stadt und dem Leben Stadt, zwischen der Stadtmaschine und dem Stadtmenschen. Je perfekter dabei das System, die Maschine, wurde, desto maroder wurde das Leben, der Mensch.
Obere Wässere: mehr rational als emotional 
"Es ist bestürzend, dass man derzeit in Deutschland wie irrsinnig danach trachtet, den Bewohnern der Städte eine menschenfeindliche Modernität aufzudrängen", beschreibt 1992 Eberhard Zeidler, ein hoch angesehener Architekt, einen Trend, der bis heute anhält. Dabei ist es heute wichtiger denn je, den Städten einen neuen Geist einzuhauchen - einen Geist, der nicht mehr stur den stumpfsinnigen Pfaden des technischen Fortschritts und der Wirtschaftskraft folgte, sondern sich von den Ansprüchen eines menschenwürdigen Gemeinwesens leiten lässt. 

Ein Ausbund der Trostlosigkeit: Der Zentrale Omnibus-Bahnhof 
Aber stattdessen wurde und wird auch Reutlingen weiterhin umstellt von kalten Funktionsbauten und Funktionsplätzen wie dem ZOB, dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, einer hochsubventionierten Fehlkonstruktion. Vielleicht ist es das neue Theater "Die Tonne", abseits auf ihrem entlegenen Berg und ausgestattet mit einem eigenen Ensemble, von wo aus eine solche Botschaft kommen könnte. Die Stadthalle verhält sich in ihrer leicht arroganten Distanziertheit wie das Programm, das sie zwischen den Aufführungen der Württembergischen Philharmonie durchleidet - als Gastspiel. Richtig angekommen ist sie hier noch lange nicht, vielleicht auch deshalb, weil ihre Belegung eklektisch ist, zusammengewürfelt aus Programmbausteinen, die von außen kommen.
Nichtsdestotrotz ist Reutlingen immer noch schöner als viele, viele andere Städte in Deutschland. Und diese Stadt ist es wert, dass man über sie redet - auch und gerade in einer Weise, wie es denen nicht gefällt, die nach klinischer Vollkommenheit streben, nach einer Niemandsstadt. 
Hie und da brucht noch das Unvollkommene durch - eine Brache, die noch ihrem Ende zustrebt. 
Die große Hannah Arendt, Publizistin und politische Theoretikerin (1906-1975).  meinte einmal: "Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist." Und dieses Gespräch darf nicht einseitig sein, bestimmt von einer Elite, ob sie nun im Rathaus sitzt oder im Ratssaal, ob in den Großorganisationen der Wirtschaft und des Handels oder in Redaktionsstuben, ob in Regierungspräsidien, Kreistagen oder Landtagen.
Dieses Gespräch gehört uns.
Freunde der Zahnradbahn - hier kann jeder Fachmann sein. Hier funktioniert das Gespräch. Und die Umgebung ist alles andere als perfekt. Aber sie hat ungemeine Qualität.Hier entsteht das Neue aus dem Alten...

"Erstaunlich finde ich auch das Schweigen einer Bevölkerung, die hier nicht ihren Wünschen Ausdruck gibt. Sie scheint vor dem Geschrei der sogenannten 'Fachleute' zu verstummen", meinte 1992 der Architekt Zeidler. Und wenn die Bürger dann doch ihre Stimme erheben, müssen sie damit rechnen, dass sie gleich als Bruddler abgestempelt werden.  
Zeidler zitiert er den Schriftsteller T.S. Eliot, der 1948, also vor 70 Jahren mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Kunst müsse immer neu sein, um Kunst sein zu können, jedoch um neu zu sein, muss sie im Bewusstsein der Vergangenheit stehen. So referenziert Zeidler den Dichter.
Ohne Geschichte entsteht nichts Neues. In diesem Geiste ist 2004 der Bildertanz entstanden. Dessen Konzept hat die Stadt bis heute nicht verstanden. Das will sie auch gar nicht. Hier entsteht viel zu viel Neues aus dem Alten. 

Für immer in ein nonverbales Gespräch vertieft. Kein Kind, das nicht einmal hier verharrte. 

So verdichtet sich mehr und mehr der Verdacht, dem die Stadtgestalter Reutlingens ausgesetzt sind. Sie planen ohne Geschichte, sie streben die totale Zeitlosigkeit an, die absolute Vollkommenheit. Kein Wunder, dass im Bürgerpark die Bäume nicht gedeihen wollen. Kein Wunder, dass die Listhalle innerhalb kürzester Zeit abgerissen wurde. Kein Wunder, dass das  Industriemagazin bis heute ein Aschenputteldasein fristet, obwohl hier nun wirklich zentrale Geschichte festgehalten wird - eine Geschichte, die niemals zu Ende ist, die nie vollkommen sein kann, eine Geschichte, die immer Gesprächsthema sein muss, um das Neue kreieren zu können.  
Die Stadt muss Stadtgespräch sein. Ob dies die Befragung zum Markenbildungsprozess leisten kann, werden wir nicht daran sehen, wie viele sich daran beteiligt haben, hier sind ja der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Wir werden es auch nicht daran sehen, welche Antworten wir gegeben haben. Wir werden es daran sehen, wie die Stadt diese Antworten interpretiert.
Meine erste Antwort auf die Frage, was mir zu Reutlingen spontan einfällt, war - wie gesagt: die Stadthalle. Es war eine ehrliche Antwort, vor der ich selbst erschrocken war. Aber diese Antwort war nicht unbedingt als Kompliment gemeint, schon gar nicht als Marke. Die Stadthalle ist ein reines Marketingprodukt - wie ein Marke. Beide sind in ihrem Anspruch auf Perfektion programmiert, wir, die Bürger, sind es nicht. Wir wollen leben.
Zugegeben: Unsere Gesellschaft befindet sich keineswegs in einem gesunden Zustand, obwohl wir in Reutlingen weit entfernt von den sozialen Zuständen anderer Städte sind. Auch wir spüren den Wandel der Werte: "Männer sind nicht mehr unbedingt Väter, Väter nicht mehr unbedingt Alleinverdiener, Alleinverdiener oft nicht mehr Ehemänner. Während in früheren Generationen soziale Schicht, Einkommenslage, Beruf, Ehepartner und politische Einstellung meist aus einem sozialen Guss waren, zerfällt dieses biographische Paket jetzt in seine Bestandteile", formulierte 1990 der Soziologe Ulrich Beck einen Trend, der sich seitdem verschärft hat. Er meinte: "Die moderne Gesellschaft spaltet sich auf in ein in den Institutionen geltendes Selbstbild, das die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen der Industriegesellschaft konserviert, und in eine Vielfalt lebensweltlicher Realitäten, die sich immer weiter entfernen".
Was Beck uns damit sagen wollte: Je mehr sich ein System wie die Stadt auf sich selbst bezieht, möglichst noch im Namen von Fortschritt, Wissenschaftlichkeit, Wirtschaft(lichkeit) und Vernunft als treibende Kraft, desto weniger entspricht sie den Lebenswirklichkeiten. Die Menschen spüren, dass sie mehr und mehr in die unterschiedlichsten Wirklichkeiten zerrissen werden, ihre Identität eigentlich gar nicht mehr sichern können, ihre Widersprüche ungeklärt aushalten müssen, sie vielleicht schon gar nicht mehr bemerken. Sie haben kaum noch eine Chance, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Dafür scheint das Selbstbildnis einer Stadt umso strahlender darzustellen. Dabei reduziert sich das einstige Gemeinwesen, was ja die historische Stadt war, auf das Niveau einer Marke, dem Tor in die Zeitlosigkeit - und zumeist von einer Banalität durchdrungen, die einen sprachlos macht.
Die "Rheinische Post" aus Düsseldorf hat solche Slogans mal zusammengestellt. Hier ein paar Sprüche: "Bochum macht jung" - "Sei Stadt, sei Wandel, sei Berlin" - "Wo jeder jemand ist" - "Jena Lichtstadt" - "München mag Dich" - "Bielefeld bewegt" - "Bonn. Die Stadt" (Ein Spruch, der mir für Reutlingen gefallen würde - im Unterschied zu "Reutlingen. Der Kreis") "Stuttgart - Motor Deutschlands" - "Chemnitz - Stadt der Moderne" - "Freiburg - Green City"
Humor spielt jedenfalls nirgendwo eine Rolle. Waren das noch Zeiten, als das Land Baden-Württemberg ganz Deutschland mit seinem Slogan amüsierte: "Wir können alles. Außer Hochdeutsch."
Aber selbst da wurde die System-Neurose sichtbar: der Glaube an die eigene Perfektion. 
Perfektion aber ist das Gegenteil von Qualität.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

So fremd-so nah. Aber immer wieder überraschend.