Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
2018: »Städte, in denen nur noch kontrollierter und natürlich auch wirtschaftlich kontrollierter Raum existiert, sind ein Albtraumvorstellung.«
Esther Kinsky (*1956), deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin
Es ist Dienstag. Fünf Menschen sitzen dichtgedrängt in einem Auto, und bei der kurzen Fahrt
entwickelt sich ein Gespräch über die just gestartete Online-Befragung zum
Markenbildungsprozess der Stadt Reutlingen. In deren ersten Paragraph fordern
die Markenforscher den Bürger auf zu sagen, was man spontan mit Reutlingen
verbindet. Und schon hast Du das Gefühl, dass Du bei einem Psychater auf der Couch liegst.
Der Autor dieser Zeilen, der sich sofort dem Fragebogen
gestellt hat, weiß, dass es wirklich darauf ankommt, dass man das sagt, was einem
spontan, als erster Gedanke, durch den Kopf gegangen ist. Er hat seine Antwort
eingetippt, und er steht dazu. So outet er sich und gibt zähneknirschend zu,
dass es "die Stadthalle" gewesen sei. So hätte er es auch auf dem
elektronischen Formular angegeben. Die anderen - inklusive Fahrer - schauen ihn
für einen kurzen Moment erstaunt an. Sie hätten in ihrem ersten Gedanken eine
andere Assoziation gehabt, ja, sie hätten gar ein Urteil gefällt. Ein Urteil,
das besagte, dass ihnen Reutlingen früher besser gefallen habe. Natürlich sähe
heute alles sehr viel schöner aus, ungleich sauberer, aber auch klinischer. Natürlich
sei die Luft heute erheblich besser als in den fünfziger oder sechziger Jahren,
als überall noch Schlote das Stadtbild prägten. Heute sei alles gepflegter.
Es ist in der Tat eine fast schon vollendet künstliche Welt,
die sich da vor uns aufgebaut hat. Und dafür stand bei mir "die
Stadthalle". Sie steht für eine Welt, die der Philosoph Arnold Gehlen als
Beweis heranziehen würde für die Behauptung, dass der Mensch nicht primär durch
seine natürlichen Anlagen definiert sei, sondern durch die künstliche Welt der
Kultur, eine Welt, die er sich selbst geschaffen hat.
Eigentlich - so müsste man meinen - ist das Reutlingen von heute eine ideale
Welt für uns Menschen.
Und doch behaupten die Mitfahrer: Reutlingen sei vor 50
Jahren ein viel heimeligeres Städtchen gewesen, quicklebendig und in seiner
bruddeligen Art viel freundlicher, nicht so kalt, nicht so fremd. Es wäre eben ihre
Stadt gewesen, sagen sie mit einem Hauch von Sentimentalität. Es sei die Stadt der
Bürger gewesen, der Menschen, die hier lebten, arbeiteten, sich engagierten.
Ja, sie seien samstags häufig mit vollgepackten Einkaufstaschen nach Hause
gefahren, wenn's ging mit dem eigenen Auto, ansonsten auch mit der Straßenbahn
oder mit dem Bus. Und für manchen sei das meiste in der Stadt auch noch
fußläufig erreichbar gewesen. Nach einer Weile geben sie dann zu: "Wir
waren ja auch noch jung" - und sparten das Geld für Bus und Bahn, fuhren
mit dem Fahrrad oder machten sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt und zurück.
War also das Jungsein der Grund dafür, dass den Menschen hier
die Stadt von gestern besser gefiel als die von heute? Spielt uns die
Erinnerung vielleicht einen Streich?
Was war das für eine Stadt - in den ersten beiden
Jahrzehnten nach dem Krieg? Reutlingen hatte es in den letzten Monaten des 2.
Weltkrieges doch noch ziemlich erwischt. Die Stadt war heftig bombardiert
worden, die Menschen wurden von Tieffliegern beschossen - und war schließlich
von den Franzosen besetzt worden. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein gab es
noch Trümmergrundstücke, Ofenheizungen verpesteten die Luft. Kohle und Koks. Es
war stickig und staubig, die Straßen waren in einem miserablen Zustand, die
Wohnungen klein und hoffnungslos überbelegt. Es war alles eng und manches bestimmt
auch engstirnig.
Metzgerstraße - wenn man genau hinschaut, dann überrascht die Vielfalt - und sie berührt einen seltsam.
Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, diese Stadt von
damals schöner oder gar heimeliger zu finden als die von heute.
Andererseits: Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, der
fortgesetzten Industrialisierung, die mit ihrer ungebremsten Dynamik das
Stadtleben intensivierte. Hier waren die Arbeitsplätze. Hier waren Wohnungen.
Hier waren die Kaufhäuser. Hier waren die Treffpunkte. Hier war das Vergnügen.
Hier war die Kultur. Die Stadt wurde noch als eine räumliche und soziale
Ganzheit verstanden. In ihr spiegelte sich alles. Bürokratie und Bürger verstanden
sich zwar durchaus als Antagonisten, die einen standen für Rationalität, die
anderen für Emotionalität, aber die Herrschenden hatten sich noch nicht zu Tode
gesiegt. Das Rennen war noch offen.
Ein Sammelsuriumder Stile - um das sich noch nie jemand gekümmert hat. Alles künstlich, aber bestimmt nicht künstlerisch. Profanbauten wie sie jede Stadt hat.
Reutlingen hatte sich trotz aller Veränderungen über eine
lange Zeit seinen schwäbisch-provinziellen Charme erhalten, seine
Gemütlichkeit, war irgendwie immer noch "heile Welt". Nichts war
Masche oder Marke, hatte also jene überkünstelte Form, die möglicherweise das
Menschsein nicht mehr erschafft, sondern erstickt. Reutlingen war eine Stadt
voller Schrullen und Schrammen. Es herrschte eine natürliche Spießigkeit, die jemand,
der damals aus einer ganz anderen Gegend Deutschlands kam, fast schon meinte,
greifen zu können. Das ist heute nur noch in Resten spürbar, in aufflackernden
Momenten, die nichts, aber auch gar nichts mit den Gebäuden und Plätzen zu tun
haben, sondern nur mit den Menschen. Diese Momente haben nichts mehr mit der
Stadt zu tun - jedenfalls nichts mit der Stadt, wie sie sich in den letzten
zwanzig Jahren entwickelt hat.
Es kam die Zeit der Jugendrevolten, die überall in der
westlichen Welt schon ein paar Jahre vor 1968 angesetzt hatte und irgendwann
auch Reutlingen in ihren Bann nahm. Es war die Zeit des Jugendkults, der
Befreiung von überkommenen Moralvorstellung, des gesellschaftlichen Aufbruchs.
Es war die Zeit einer geradezu berauschenden Fortschrittsgläubigkeit. Hinweg
mit dem Alten, her mit dem Neuen. Das Rationale und das Emotionale waren sich
nicht spinnefeind, sondern verstanden sich als die zwei Seiten derselben
Medaille. Endlich besaß Reutlingen mit der Eröffnung des Kaufhauses Merkur eine
Rolltreppe.
Das Hochhaus wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Kein Stern leuchtet hier mehr.
Sogar das Hochhaus an der nach dem Krieg deutlich verbreiterten Karlstraße,
auf dessen Dach ein stolzer Mercedes-Stern sich drehte, entzückte die Bürger. Aber
das Moderne, dem man durchaus zujubelte, hatte eher seinen Platz an der Peripherie,
nicht in der Altstadt. In ihrem Zentrum schien Reutlingen eine historische
Stadt zu bleiben. Man errichtete Gartenstädte, stampfte Wohnfabriken aus dem
Boden, tat alles, um den Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden. Auch das Auto
wurde voll akzeptiert, bekam seine breiten Straßen und Parkplätze. Stadt und
Bürger pulsierten im Gleichtakt.
Alles, was irgendwie mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
assoziiert wurde, landete auf dem Sperrmüll, der an seinen Feiertagen die
Bürgersteige blockierte. Es war sehr modern, sehr modern zu sein. Nur die
Soziologen, die damals für den Zeitgeist verantwortlich waren, ahnten, dass
diese Zwangsprogressivität nur von kurzer Dauer sein würde und sehr schnell
umschlagen könnte in eine Nostalgiewelle. Und die kam dann ja auch mit den
siebziger Jahren. Bundeskanzler Willi Brandt (1969-1974) sprach von
"Lebensqualität" - und nach der strebte man nun überall, ebenso nach
"mehr Demokratie". Und irgendwie hatte man das Gefühl, dass von nun
an, alles möglich sei. "Anything goes", hieß - nach einem Song des
Musical-Komponisten Irving Berlin - der Wahlspruch überall in der westlichen
Welt. Alles geht.
Aber jetzt drifteten Rationalität und Emotionalität
auseinander. Umstritten war der Bau des neuen Rathauses, er spaltete die Stadt.
Das war 1966 der Anfang. Man rückte ins Zentrum vor, in das Herz der
historischen Stadt. Mitten hinein pflanzte man etwas ganz anderes, etwas, das reine
Vernunft mit kalter Schönheit zu verbinden suchte.
Der von den Verwaltungstrakten separierte Ratssaal erhob
sich gar auf stolzen Stelzen über die Köpfe der Bürger. Auch der Abbruch von
Klein-Venedig befremdete viele Bürger. Häuser mit großer geschichtlicher
Bedeutung wie der Zwiefalter Hof mussten in den siebziger Jahre Funktionsbauten
wie einem Parkhaus weichen. Dessen Bau war mächtig umstritten - und erhitzt
heute noch die Gemüter.
Dazu passt auch das Ende der geliebten Straßenbahn, die an
ihrer prominentesten Stelle, der Wilhelmstraße, dem ganzen Arrangement der historischen
Stadt die Krone aufsetzte. Ihre Abschaffung war - nach Aussage vieler Bürger - "die
größte Sünde" überhaupt. Mit dem Ende der Straßenbahn verlor diese Stadt endgültig
ihre Komposition als dynamisches Gesamtkunstwerk. Die alte, den Menschen
inspirierende Künstlichkeit schwand dahin.
Die Marienkirche - hier ahnt und atmet man das andere Reutlingen
Heute ist die Wilhelmstraße in ihrem unteren Teil nur noch
eine Hitparade der Ladenketten. Und die obere Wilhelmstraße, nach wie vor ein
Kleinod, kämpft um ihre Existenz. Hier, wo Reutlingen am schönsten ist, ist
unsere Stadt vor allem Kleinstadt, in der nach wir vor die Kirche das größte
und wichtigste Gebäude ist. Wie die Marienkirche mit ihrem stillen Stolz, die
sich weder durch das Weindorf noch durch den Weihnachtsmarkt beirren lässt. Sie
erträgt es auch gnädig, wenn sich nun der Weibermarkt mit weiteren Events an
sie heran kuschelt. Sie ist eine künstliche Oase, alles an ihr und in ihr ist
menschengemacht. Und vielleicht der kommunikativste Ort in der Stadt überhaupt.
Wer je ein Konzert in ihr besucht hat, den überkommt eine unglaubliche
Vertrautheit mit dieser Stadt und ihren Menschen. Er ahnt das andere Reutlingen.
Seit den siebziger Jahren wurde die Kluft zwischen der
Rationalität und der Emotionalität immer tiefer. Es war der Konflikt zwischen
dem System Stadt und dem Leben Stadt, zwischen der Stadtmaschine und dem Stadtmenschen.
Je perfekter dabei das System, die Maschine, wurde, desto maroder wurde das
Leben, der Mensch.
Obere Wässere: mehr rational als emotional
"Es ist bestürzend, dass man derzeit in Deutschland wie
irrsinnig danach trachtet, den Bewohnern der Städte eine menschenfeindliche
Modernität aufzudrängen", beschreibt 1992 Eberhard Zeidler, ein hoch
angesehener Architekt, einen Trend, der bis heute anhält. Dabei ist
es heute wichtiger denn je, den Städten einen neuen Geist einzuhauchen - einen
Geist, der nicht mehr stur den stumpfsinnigen Pfaden des technischen
Fortschritts und der Wirtschaftskraft folgte, sondern sich von den Ansprüchen eines
menschenwürdigen Gemeinwesens leiten lässt.
Ein Ausbund der Trostlosigkeit: Der Zentrale Omnibus-Bahnhof
Aber stattdessen wurde und wird auch
Reutlingen weiterhin umstellt von kalten Funktionsbauten und Funktionsplätzen
wie dem ZOB, dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, einer hochsubventionierten Fehlkonstruktion.
Vielleicht ist es das neue Theater "Die Tonne", abseits auf ihrem entlegenen
Berg und ausgestattet mit einem eigenen Ensemble, von wo aus eine solche
Botschaft kommen könnte. Die Stadthalle verhält sich in ihrer leicht arroganten
Distanziertheit wie das Programm, das sie zwischen den Aufführungen der
Württembergischen Philharmonie durchleidet - als Gastspiel. Richtig angekommen
ist sie hier noch lange nicht, vielleicht auch deshalb, weil ihre Belegung eklektisch
ist, zusammengewürfelt aus Programmbausteinen, die von außen kommen.
Nichtsdestotrotz ist Reutlingen immer noch schöner als
viele, viele andere Städte in Deutschland. Und diese Stadt ist es wert, dass
man über sie redet - auch und gerade in einer Weise, wie es denen nicht
gefällt, die nach klinischer Vollkommenheit streben, nach einer Niemandsstadt.
Hie und da brucht noch das Unvollkommene durch - eine Brache, die noch ihrem Ende zustrebt.
Die große Hannah Arendt, Publizistin und politische
Theoretikerin (1906-1975). meinte einmal:
"Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen
hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr
die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs
geworden ist." Und dieses Gespräch darf nicht einseitig sein, bestimmt von
einer Elite, ob sie nun im Rathaus sitzt oder im Ratssaal, ob in den
Großorganisationen der Wirtschaft und des Handels oder in Redaktionsstuben, ob
in Regierungspräsidien, Kreistagen oder Landtagen.
Dieses Gespräch gehört uns.
Freunde der Zahnradbahn - hier kann jeder Fachmann sein. Hier funktioniert das Gespräch. Und die Umgebung ist alles andere als perfekt. Aber sie hat ungemeine Qualität.Hier entsteht das Neue aus dem Alten...
"Erstaunlich finde ich auch das Schweigen einer
Bevölkerung, die hier nicht ihren Wünschen Ausdruck gibt. Sie scheint vor dem
Geschrei der sogenannten 'Fachleute' zu verstummen", meinte 1992 der
Architekt Zeidler. Und wenn die Bürger dann doch ihre Stimme erheben, müssen
sie damit rechnen, dass sie gleich als Bruddler abgestempelt werden.
Zeidler zitiert er den Schriftsteller T.S. Eliot, der 1948,
also vor 70 Jahren mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Kunst
müsse immer neu sein, um Kunst sein zu können, jedoch um neu zu sein, muss sie
im Bewusstsein der Vergangenheit stehen. So referenziert Zeidler den Dichter.
Ohne Geschichte entsteht nichts Neues. In diesem Geiste ist
2004 der Bildertanz entstanden. Dessen Konzept hat die Stadt bis heute nicht
verstanden. Das will sie auch gar nicht. Hier entsteht viel zu viel Neues aus dem Alten.
Für immer in ein nonverbales Gespräch vertieft. Kein Kind, das nicht einmal hier verharrte.
So verdichtet sich mehr und mehr der Verdacht, dem die Stadtgestalter
Reutlingens ausgesetzt sind. Sie planen ohne Geschichte, sie streben die totale
Zeitlosigkeit an, die absolute Vollkommenheit. Kein Wunder, dass im Bürgerpark
die Bäume nicht gedeihen wollen. Kein Wunder, dass die Listhalle innerhalb
kürzester Zeit abgerissen wurde. Kein Wunder, dass das Industriemagazin bis heute ein Aschenputteldasein
fristet, obwohl hier nun wirklich zentrale Geschichte festgehalten wird - eine
Geschichte, die niemals zu Ende ist, die nie vollkommen sein kann, eine
Geschichte, die immer Gesprächsthema sein muss, um das Neue kreieren zu können.
Die Stadt muss Stadtgespräch sein. Ob dies die Befragung zum
Markenbildungsprozess leisten kann, werden wir nicht daran sehen, wie viele
sich daran beteiligt haben, hier sind ja der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
Wir werden es auch nicht daran sehen, welche Antworten wir gegeben haben. Wir
werden es daran sehen, wie die Stadt diese Antworten interpretiert.
Meine erste Antwort auf die Frage, was mir zu Reutlingen
spontan einfällt, war - wie gesagt: die Stadthalle. Es war eine ehrliche
Antwort, vor der ich selbst erschrocken war. Aber diese Antwort war nicht unbedingt
als Kompliment gemeint, schon gar nicht als Marke. Die Stadthalle ist ein reines Marketingprodukt - wie ein Marke. Beide sind in ihrem Anspruch auf Perfektion programmiert, wir, die
Bürger, sind es nicht. Wir wollen leben.
Zugegeben: Unsere Gesellschaft befindet sich keineswegs
in einem gesunden Zustand, obwohl wir in Reutlingen weit entfernt von den
sozialen Zuständen anderer Städte sind. Auch wir spüren den Wandel der Werte: "Männer
sind nicht mehr unbedingt Väter, Väter nicht mehr unbedingt Alleinverdiener,
Alleinverdiener oft nicht mehr Ehemänner. Während in früheren Generationen
soziale Schicht, Einkommenslage, Beruf, Ehepartner und politische Einstellung
meist aus einem sozialen Guss waren, zerfällt dieses biographische Paket jetzt
in seine Bestandteile", formulierte 1990 der Soziologe Ulrich Beck einen
Trend, der sich seitdem verschärft hat. Er meinte: "Die moderne
Gesellschaft spaltet sich auf in ein in den Institutionen geltendes Selbstbild,
das die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen der
Industriegesellschaft konserviert, und in eine Vielfalt lebensweltlicher
Realitäten, die sich immer weiter entfernen".
Was Beck uns damit sagen wollte: Je mehr sich ein System wie
die Stadt auf sich selbst bezieht, möglichst noch im Namen von Fortschritt, Wissenschaftlichkeit,
Wirtschaft(lichkeit) und Vernunft als treibende Kraft, desto weniger entspricht
sie den Lebenswirklichkeiten. Die Menschen spüren, dass sie mehr und mehr in die
unterschiedlichsten Wirklichkeiten zerrissen werden, ihre Identität eigentlich
gar nicht mehr sichern können, ihre Widersprüche ungeklärt aushalten müssen,
sie vielleicht schon gar nicht mehr bemerken. Sie haben kaum noch eine Chance,
mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Dafür scheint das Selbstbildnis einer Stadt umso strahlender
darzustellen. Dabei reduziert sich das einstige Gemeinwesen, was ja die
historische Stadt war, auf das Niveau einer Marke, dem Tor in die Zeitlosigkeit
- und zumeist von einer Banalität durchdrungen, die einen sprachlos macht.
Die "Rheinische Post" aus Düsseldorf hat solche Slogans mal
zusammengestellt. Hier ein paar Sprüche: "Bochum macht jung" - "Sei
Stadt, sei Wandel, sei Berlin" - "Wo jeder jemand ist" -
"Jena Lichtstadt" - "München mag Dich" - "Bielefeld
bewegt" - "Bonn. Die Stadt" (Ein Spruch, der mir für Reutlingen
gefallen würde - im Unterschied zu "Reutlingen. Der Kreis")
"Stuttgart - Motor Deutschlands" - "Chemnitz - Stadt der
Moderne" - "Freiburg - Green City"
Humor spielt jedenfalls nirgendwo eine Rolle. Waren das noch
Zeiten, als das Land Baden-Württemberg ganz Deutschland mit seinem Slogan
amüsierte: "Wir können alles. Außer Hochdeutsch."
Aber selbst da wurde die System-Neurose sichtbar: der Glaube
an die eigene Perfektion.
Perfektion aber ist das Gegenteil von Qualität.
Perfektion aber ist das Gegenteil von Qualität.
SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen
1 Kommentar:
So fremd-so nah. Aber immer wieder überraschend.
Kommentar veröffentlichen