Montag, 4. Februar 2019

OB-Wahl 2019: Eine andere Form der Bürgernähe


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer






Zwei Jahrzehnte lang investierte die Stadt Reutlingen vor allem in ihre Kernstadt, dem Teil also, der für Großstadt steht. Mit einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent in der Stadtmitte zeigte sich einmal mehr, dass es keine Investition in mehr Bürgernähe war - in mehr Nähe der Bürger zu ihrer Stadt und deren Gemeinwesen.

Immer dann, wenn "panem et circenses" angeboten werden, Brot & Spiele, ist die Stadt voll. Dann strömen die Massen in die Stadt - und sie kommen dann auch von überall her. Mehr innere Verbundenheit, Identität gar, schafft dies nicht. Am Ende sind es nur Fleißkärtchen fürs Stadtmarketing - ein Existenznachweis. Ob es den Einzelhandel rettet, ist fraglich. Mit Sicherheit nicht die eigentümergeführten Geschäfte. Die geben mehr und mehr auf. Ketten übernehmen deren Verkaufsräume. Eine Stadt anonymisiert sich. Von 51.213 wahlberechtigten Einwohnern in der Stadtmitte gingen nur 28,3 Prozent gestern zur OB-Wahl. Ein erbärmliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass hier - in diesem so umworbenen urbanen Umfeld - 60 Prozent der Menschen unserer Stadt leben. Hier leben Menschen, für die so vieles, was sie für ihr tägliches Leben brauchen, eigentlich fußläufig zu erreichen sein müsste. Das ist es aber wohl eher nicht. Vorbei die Zeiten, in denen es in der Wilhelmstraße "Kaiser's Kaffeegeschäft" gab oder man gar beim "Horten" im Untergeschoss noch eine Lebensmittelabteilung hatte. 

Die Zielgruppe, auf die doch vom Markenkern bis hin zum Stadtkreis, von der Stadthalle oder "Tonne" bis hin zu neuen Hochhausgestalten alles ausgerichtet war, wird nicht erreicht. Und wenn einer der Bewerber um das Amt des OBs sagt, dass er möchte, dass die Verwaltung den Bürger als Kunden behandelt, dann hat er das bestimmt gut gemeint, aber auch seine Denke verraten: er sieht den Bürger nicht als Bürger, sondern nur als Käufer, als Empfänger. Und so haben sich die Wähler gestern bei dem ersten Wahlgang zur Kür unseres neuen Oberbürgermeisters verhalten. Sie verstehen sich als Kunden.

Das sollte unserem zukünftigen Oberbürgermeister, den wir nun am 24. Februar ermitteln werden, sehr, sehr zu denken geben. Bleibt der noch unbekannte Neue bei der Linie, die vor allem in der Ära Bosch/Hotz/Hahn eingeschlagen wurde, dann wird Reutlingen für viele Menschen zwar ein Zuhause sein, aber niemals Heimat. Sie werden kommen und bleiben wegen des Jobs, nicht aus Zuneigung und Zuwendung. Bürgernähe entsteht so nicht. Diese zu erzeugen wäre die vornehme Aufgabe auch eines Stadtmarketings - gerade angesichts der Tatsache, dass dessen Budget mächtig aufgewertet wurde. Masse statt Klasse ist hier die Devise. Und auch unsere Stadthalle wirkt mit ihrem Programm nicht wirklich identitätsstiftend.

In den Außenbezirken, den Stadtteilen, in unseren Dörfern, ist dem Schreiber dieser Zeilen keine Aktion erinnerlich, in der das Stadtmarketing seine Energie eingebracht hat. Entweder gab es solche Initiativen gar nicht, oder sie hinterließen keine bleibende Gedächtniswirkung. Auf Dorffesten habe ich jedenfalls noch kein bewusstes Auftreten des Stadtmarketings registriert. In Reutlingen gibt es da nur Stadtfeste, mit denen sich die Vereine aus den Dörfern in ihrem Engagement wiederum mehr und mehr schwertun.

Reutlingen ist nicht die Stadt der Dörfer. Und wir alle vermuten, dass dies auch nie ein Konzept war. Was ist sie dann?

Das fragen sich mit Sicherheit nun jene 40 Prozent der Wahlberechtigten, die hier wohnen und die bislang ein im Vergleich zur Stadtmitte erheblich höheres Wahlengagement gezeigt haben. Je weniger Menschen in einem dieser Dörfer wohnen, je kleiner es ist, desto größer die Wahlbeteiligung. Sehr seltsam, oder?

Je weiter vom Stadtkern entfernt, desto stärker die Bürgernähe - also die Nähe der Bürger zu ihrer Stadt. Umgekehrt wird daraus aber noch lange kein Schuh. Am liebsten möchte man diese "Stadtbezirke" (ein Begriff, der den an Eigenständigkeit erinnernde Begriff "Dorf" meidet) in Quartiere umbenennen und umdeuten - also in Versorgungseinheiten. Die Menschen, die sich hier noch als Bürger fühlen (und auch deshalb zum Wählen gehen), werden in einem schleichenden Prozess zu Kunden degradiert.

Ist die Anonymisierung und Passivierung der Lebensverhältnisse der  große Trend, den auch ein Oberbürgermeister nicht stoppen kann, weil er von allen getragen wird, als unausweichlich gilt angesichts immenser Überbelastungen, dann schauen wir traurigen Zeiten entgegen. Dann haben wir alle resigniert.

Das kann nicht sein. Am 24. Februar zeigen wir uns selbst, wie nah uns diese Stadt ist - und gehen zur Wahl.
Bildertanz-Quelle:Sammlung Bildertanz

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wer die Wahl hat, hat die Qual!

Anonym hat gesagt…

Besser die Qual haben als keine Wahl....

Anonym hat gesagt…

Grippewelle in Reutlingen?
Oder grassiert der Novovirus??
Oder aber herrscht Schockstarre vor der Bürgermeisterwahl???

Man weiß es nicht - aber der Blog ruht sanft...

Anonym hat gesagt…

Offenbar herrscht Wahlkrampf!

Anonym hat gesagt…

Aus dem Herzen geschrieben.
Auch aus unserem.

Wem "gehört" das Rathaus, die Verwaltung?
Der Bürger ist nicht dessen "Kunde".
Er ist der Besitzer und der Geldgeber.
Dem sollte man mit gebührenden Respekt entgegen treten.
Dem sollte man "Rechnung" tragen.

S. Ott