Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Zwei Jahrzehnte lang investierte die Stadt Reutlingen vor
allem in ihre Kernstadt, dem Teil also, der für Großstadt steht. Mit einer
Wahlbeteiligung von 25 Prozent in der Stadtmitte zeigte sich einmal mehr, dass es keine
Investition in mehr Bürgernähe war - in mehr Nähe der Bürger zu ihrer Stadt und
deren Gemeinwesen.
Immer dann, wenn "panem et circenses" angeboten
werden, Brot & Spiele, ist die Stadt voll. Dann strömen die Massen in die
Stadt - und sie kommen dann auch von überall her. Mehr innere Verbundenheit,
Identität gar, schafft dies nicht. Am Ende sind es nur Fleißkärtchen fürs
Stadtmarketing - ein Existenznachweis. Ob es den Einzelhandel rettet, ist
fraglich. Mit Sicherheit nicht die eigentümergeführten Geschäfte. Die geben mehr
und mehr auf. Ketten übernehmen deren Verkaufsräume. Eine Stadt anonymisiert
sich. Von 51.213 wahlberechtigten Einwohnern in der Stadtmitte gingen nur 28,3
Prozent gestern zur OB-Wahl. Ein erbärmliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass
hier - in diesem so umworbenen urbanen Umfeld - 60 Prozent der Menschen unserer
Stadt leben. Hier leben Menschen, für die so vieles, was sie für ihr tägliches Leben
brauchen, eigentlich fußläufig zu erreichen sein müsste. Das ist es aber wohl eher
nicht. Vorbei die Zeiten, in denen es in der Wilhelmstraße "Kaiser's
Kaffeegeschäft" gab oder man gar beim "Horten" im Untergeschoss
noch eine Lebensmittelabteilung hatte.
Die Zielgruppe, auf die doch vom
Markenkern bis hin zum Stadtkreis, von der Stadthalle oder "Tonne" bis
hin zu neuen Hochhausgestalten alles ausgerichtet war, wird nicht erreicht. Und
wenn einer der Bewerber um das Amt des OBs sagt, dass er möchte, dass die
Verwaltung den Bürger als Kunden behandelt, dann hat er das bestimmt gut
gemeint, aber auch seine Denke verraten: er sieht den Bürger nicht als Bürger,
sondern nur als Käufer, als Empfänger. Und so haben sich die Wähler gestern bei
dem ersten Wahlgang zur Kür unseres neuen Oberbürgermeisters verhalten. Sie verstehen
sich als Kunden.
Das sollte unserem zukünftigen Oberbürgermeister, den wir
nun am 24. Februar ermitteln werden, sehr, sehr zu denken geben. Bleibt der noch
unbekannte Neue bei der Linie, die vor allem in der Ära Bosch/Hotz/Hahn
eingeschlagen wurde, dann wird Reutlingen für viele Menschen zwar ein Zuhause
sein, aber niemals Heimat. Sie werden kommen und bleiben wegen des Jobs, nicht
aus Zuneigung und Zuwendung. Bürgernähe entsteht so nicht. Diese zu erzeugen
wäre die vornehme Aufgabe auch eines Stadtmarketings - gerade angesichts der
Tatsache, dass dessen Budget mächtig aufgewertet wurde. Masse statt Klasse ist
hier die Devise. Und auch unsere Stadthalle wirkt mit ihrem Programm nicht
wirklich identitätsstiftend.
In den Außenbezirken, den Stadtteilen, in unseren Dörfern,
ist dem Schreiber dieser Zeilen keine Aktion erinnerlich, in der das
Stadtmarketing seine Energie eingebracht hat. Entweder gab es solche
Initiativen gar nicht, oder sie hinterließen keine bleibende Gedächtniswirkung.
Auf Dorffesten habe ich jedenfalls noch kein bewusstes Auftreten des
Stadtmarketings registriert. In Reutlingen gibt es da nur Stadtfeste, mit denen
sich die Vereine aus den Dörfern in ihrem Engagement wiederum mehr und mehr schwertun.
Reutlingen ist nicht die Stadt der Dörfer. Und wir alle
vermuten, dass dies auch nie ein Konzept war. Was ist sie dann?
Das fragen sich mit Sicherheit nun jene 40 Prozent der
Wahlberechtigten, die hier wohnen und die bislang ein im Vergleich zur
Stadtmitte erheblich höheres Wahlengagement gezeigt haben. Je weniger Menschen
in einem dieser Dörfer wohnen, je kleiner es ist, desto größer die Wahlbeteiligung. Sehr seltsam,
oder?
Je weiter vom Stadtkern entfernt, desto stärker die
Bürgernähe - also die Nähe der Bürger zu ihrer Stadt. Umgekehrt wird daraus
aber noch lange kein Schuh. Am liebsten möchte man diese
"Stadtbezirke" (ein Begriff, der den an Eigenständigkeit erinnernde
Begriff "Dorf" meidet) in Quartiere umbenennen und umdeuten - also in
Versorgungseinheiten. Die Menschen, die sich hier noch als Bürger fühlen (und
auch deshalb zum Wählen gehen), werden in einem schleichenden Prozess zu Kunden
degradiert.
Ist die Anonymisierung und Passivierung der Lebensverhältnisse
der große Trend, den auch ein
Oberbürgermeister nicht stoppen kann, weil er von allen getragen wird, als
unausweichlich gilt angesichts immenser Überbelastungen, dann schauen wir traurigen
Zeiten entgegen. Dann haben wir alle resigniert.
Das kann nicht sein. Am 24. Februar zeigen wir uns selbst,
wie nah uns diese Stadt ist - und gehen zur Wahl.
Bildertanz-Quelle:Sammlung Bildertanz
5 Kommentare:
Wer die Wahl hat, hat die Qual!
Besser die Qual haben als keine Wahl....
Grippewelle in Reutlingen?
Oder grassiert der Novovirus??
Oder aber herrscht Schockstarre vor der Bürgermeisterwahl???
Man weiß es nicht - aber der Blog ruht sanft...
Offenbar herrscht Wahlkrampf!
Aus dem Herzen geschrieben.
Auch aus unserem.
Wem "gehört" das Rathaus, die Verwaltung?
Der Bürger ist nicht dessen "Kunde".
Er ist der Besitzer und der Geldgeber.
Dem sollte man mit gebührenden Respekt entgegen treten.
Dem sollte man "Rechnung" tragen.
S. Ott
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