Freitag, 24. Juli 2020

Unser Rathaus – Baustelle als Stadtbildprägung



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Damals – um das Jahr 2009 herum – sollte die Grundsanierung des Reutlinger Rathauses 30 Millionen Euro kosten. Zwischenzeitlich waren es dann 60 Millionen. Jetzt sind es 100 Millionen, gestreckt bis in das Jahr 2040, also – wenn es denn jetzt losginge - jedes Jahr fünf Millionen Euro. Der eigentliche Start wäre aber erst 2025, heißt es. Da sich angesichts der Kostenvorstellung von 2009 und der von heute eine Verdreifachung ergeben hat, wagt man gar nicht daran zu denken, auf welche Summe der tatsächliche Preis der Sanierung bis 2040 wohl noch steigen wird. Sind wir mal knauserig, sagen wir 200 Millionen. (Bekanntlich wird alles immer doppelt so teuer wie angenommen. Das gilt selbst, wenn mal diese Regel bereits zuvor eingepreist hat.)

Großbaustelle Rathaus Reutlingen vor der Rathausstraße

Offensichtlich wird im Rathaus in solchen Dynamiken nicht gedacht. Denn diese 100 Millionen, verteilt auf 20 Jahre, sind natürlich angenehmer zu verkraften als ein Neubau, der – zum selben Preis von 100 Millionen – innerhalb von fünf Jahren aus dem Boden des Rathausplatzes gestampft werden kann. Diese Summe ist einigermaßen realistisch (wegen des Zeithorizonts), die andere ist fiktional. Sie wird getragen von der Intention, die das Rathaus im Kopfe hat. Es will sanieren. Koste es uns, was es, die Stadt, wolle.

Da wird mit Zahlen jongliert, eine Pari-Situation zwischen Sanierung und Neubau konstruiert, die so tut, als hätte der Gemeinderat eine schwierige Entscheidung zu treffen, um dann die bürgermeisterliche Lieblingsidee durch die zeitliche Streckung der Finanzierung als einen Aufwand darstellen zu können, der sich gleichsam aus der Portokasse selbst bezahlt.

Wir alle lieben diese Wunder, weil es so leicht ist, die Tricks dahinter zu durchschauen. (Sie sollen ja auch mit einiger Wollust beim Bau der Stadthalle angewandt worden sein. Man muss nur mal mit den eingeschalteten Handwerkern  reden.)

Nun soll – wie unser getreuer GEA berichtet – eines der wichtigsten Argumente für den Erhalt des Rathauses in seiner jetzigen Gestalt dessen „stadtbildprägende“ Erscheinung sein. Der Denkmalschutz steht dahinter – und er zeigt sich über das Innere des Rathauses tolerant, nur bei der Fassade ist er unduldsam. Wer gerade der großzügige Denkmalschutz ist, wurde nicht genannt im GEA-Bericht. Die Ernennung zum Baudenkmal erfolgte 2014 – durch das Regierungspräsidium in Tübingen. Ist es nun immer noch zuständig oder wurde es an die untere „Denkmalschutzbehörde“ delegiert, die – so ist meine Erinnerung – nach einer Neuverteilung der Kompetenzen an die Stadt Reutlingen berichtet, oder sind es übergeordnete, nicht an die Stadt weisungsgebundene Instanzen?

Ich weiß nicht, ob das gestern diskutiert worden ist. Auf jeden Fall könnte man den Begriff „stadtbildprägend“, das Hauptargument für den Unterschlupf unter den Denkmalschutz, für die nächsten 20 Jahre auch ganz anders interpretieren. In den nächsten zwei Jahrzehnten wird dieses Stadtbild geprägt von einer Baustelle. Und der Autor dieser Zeilen wäre dann 88 Jahre alt.

Es ist in diesem Jahr 50 Jahre her, dass ich Reutlingen erstmals besuchte. Nach einem Gang durch die quicklebendige untere Wilhelmstraße, nachdem ich zuvor am Bahnhof den begrüßungsbildprägenden Springbrunnen bewundert hatte, wurde ich plötzlich mit dem Marktplatz konfrontiert, dessen hinterer Teil von einem Betonklotz geschmückt wurde. Vorne der Spitalhof, der mich sehr beeindruckt hat, hinten das Rathaus, das mich schockierte. Das hatte ich nicht erwartet, in NRW ja, aber nicht in Baden-Württemberg.

Es gab noch kein Alexandre. Der Ratssaal, den man – so wie er ist, nicht wie er ursprünglich war - wirklich erhalten sollte, wirkte zumindest damals mit seinen Stelzen etwas abgehoben. Und man muss ja auch bis heute eine steile Treppe meistern, um in den wichtigsten Raum unserer Stadt zu kommen. 
Auferstanden aus Ruinen: Vor 75 Jahren wurde das frühere Rathaus zerbombt, zwanzig Jahre später...

In den nächsten fünf Jahren wird alles so bleiben wie es ist. Wir haben also eine Schonfrist, in der wir jeden Tag diese Stadtbildprägung in uns hineinwirken lassen können. Unser Real-Lifestream-Museum. Denn anschließend wird eine Dauersanierung diese Stadtbildprägung bestimmen. Wir sehen jeden Tag die Veränderung dieser Stadt. Am besten über eine Webcam.15 Jahre lang. Unglaublich, wenn man daran denkt, dass der Bau des Rathauses in den sechziger Jahren nur fünf Jahre gedauert ha!!!

Und wenn es dann fertig ist, werden wir – oder die Überlebenden unter uns – sehen, dass die meisten Räume leer stehen. Dank Corona. Nicht etwa deshalb, weil das Virus sich ganz besonders auf Beamte und Verwaltungsangestellte pandemisch ausgewirkt hat, sondern weil es den Mitarbeitern und deren Chefs das Homeoffice schmackhaft gemacht hat. Man braucht die Räume gar nicht mehr.

Aber daran hat man sicherlich gestern im Rathaus auch schon gedacht. Und diese Entwicklung wurde bestimmt auch intensiv diskutiert – so fortschrittlich, wie unsere Stadt ist…

Vielleicht hätte ich diese Sitzung besuchen sollen, dann hätte ich zu diesen Punkten ganz bestimmt jede Menge Neues erfahren.

Mist, bin wohl nur ein Einwohner.

Bildertanz-Quelle:Richard Wagner

9 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Raimund,

Danke für die Bilder, hatte damals auch immer gern "ins Loch" geschaut und auf der Lederstrassen-Allee das Musterbüro bewundert.
Leider ist dein erstes Bild spiegelverkehrt.

Gruß aus Lichtenstein
Michael Staiger

Raimund Vollmer hat gesagt…

Danke, ich falle jedesmal darauf rein. Wird korrigiert.

Anonym hat gesagt…

Einwohner ja - aber kein Ureinwohner. Da gibt es auch in Reutlingen noch filigrane Unterschiede. Nur ein Reigschmeckter :-)))))

Raimund Vollmer hat gesagt…

Das stimmt. Ich habe nur gelernt, dass sich die Neigeschmeckten weitaus häufiger für das Gemeinwohl engagieren als die Ureinwohner. Denen ist alles viel zu selbstverständlich. :-)))))

Anonym hat gesagt…

"Sag amol Vaddr, schdammad mir wirglich vom Affa ab?" - "Du vielleichd, i nedd!"

Raimund Vollmer hat gesagt…

Schöner Witz (habe ich sogar verstanden, ohne dass ein Ureinwohner ihn mir erklärt hat...)

Anonym hat gesagt…

Als Mitarbeiter der Stadt Reutlingen muss ich Ihnen leider recht geben, es ist gerade für uns katastrophal, seit Jahren Formaldehyd und Kakerlaken ausgesetzt zu sein, und dann die Aussicht auf jahrelang Schmutz und Baulärm, erst vor 4 Jahren war die Sanierung der WCs, die sich über Monate hinzog. Die letzten Wochen die Rathausstraße, in Planung die Marktplatzsanierung... Mir graut es jetzt schon... Ein rascher, moderner Neubau wäre die beste Lösung - eventuell Postareal? Ehemaliges MaxMoritz Gelände? Aber nein, man musste ja das hässliche Ding unter Denkmalschutz stellen...

Raimund Vollmer hat gesagt…

Ja, manchmal könnte man an den Entschweidungen und Überlegungen unserer Stadt irre werden - wobei das vielleicht sogar weniger etwas mit den Menschen zu tun hat, sondern mit deren Position. Die verändert alles - und es sit äußerst schwer zu sich selbst zurückzufinden. Aber ich glaube, alle Felentscheidungen lassen sich auf die Position, nicht auf die Person zurückführen. Früher nannte man dies die noprmative Kraft des Faktischen,aber das mit dem Fakltischen ist längst eine eigene Sache geworden. Danke für Ihren Kommentar, lieber Mitarbeiter. Ich denke, Sie sind mit sder Meinung nicht allein.#

Raimund Vollmer hat gesagt…

Und meine Schreibfehler bitte ich auch zu entschuldigen. Ich habe eine neue Tastatur...