Montag, 25. Januar 2021

2009: EINE SELTSAME BEGEGNUNG

Heute ist in diesem Lokal ein moderner Italiener. Doch am 21. November 2009 war da noch die alte Wirtin, deren Namen ich mir nicht notiert hatte. Mit einem Freund war ich in Bad Cannstatt. Im "Rappen", einem Haus, das unter Denkmalschutz steht. Nach 37 Jahren würde sie jetzt aufgeben, erklärte sie uns. Und dann, während ich sie filmte, zeigte sie uns einen seltsamen Apparat... Vielleicht gab es den auch bei uns in Reutlingen. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Und da wir ja eine weltoffene Stadt sind, lade ich Euch ein nach Bad Cannstatt. Irgendwie hätte dieser Film auch in Reutlingen entstanden sein können. Raimund Vollmer

Montag, 18. Januar 2021

HEUTE VOR 150 JAHREN: DAS KAISERREICH (und der Reutlinger Friedrich List)

Das "Reich der Hohenzollern" - würde der Bundespräsident das Deutsche Kaiserreich nennen, das sich heute vor 150 Jahren nicht auf der Burg Hohenzollern, sondern im Spiegelsaal von Versailles gründete. So schreibt heute die 'FAZ'. Dazu fand ich in meinem Archiv folgenden, von mir mal zusammengestellten und verfassten Text. Ist vielleicht für den ein oder anderen ganz interessant - vor allem vor dem Hintergrund, dass der große Sohn Reutlingens, Friedrich List, hätte er noch gelebt, bestimmt auch nicht zur Proklamation eingeladen worden wäre, obwohl er es war, der maßgeblich an der Einigung des Deutschen Reiches beteiligt gewesen war. Hier nun mein Text (geschrieben irgendwann Ende der neunziger Jahre, immer wieder überarbeitet.) Raimund Vollmer

Der Entstehung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 war ein »tech­ni­scher« Einigungsprozeß vorausgegangen. Davor war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Gebilde gewesen, das aus 314 souveränen Territorien und Städten bestand. Hinzu kamen 1475 freie Reichsritterschaften. Er war in sich zersplittert und po­litisch höchst fragil. »Jeder Teilstaat hatte das verbriefte Recht, sich mit ausländischen Mächten gegen einen anderen deut­schen Staat zu verbünden«, schreibt Wolfgang Zank 1991 in der Wo­chen­zeitung Die Zeit. »Der politischen Zersplitte­rung ent­sprach die wirtschaftliche. Die deutschen Münzsysteme, Maßeinheiten und Rechtssysteme bildeten ein unüberschaubares Mo­saik, und etwa 1800 Zollschranken behinderten in Mitteleuropa den Handel.« So war es kein Wunder, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem »Kaufleute, Fabri­­kanten und Bankiers« darauf drängten, »die wirtschaftliche Zersplitterung zu beseitigen. Die Märkte waren noch klein und von­einander abgeschottet, aber industrielle Pro­duk­tion wurde erst bei größeren Stückzahlen ren­tabel. Je mehr die in­dustrielle Revolution voranschritt, desto mächtiger und ein­fluß­rei­cher wurde die Bourgeoisie, die allein schon aus wirt­schaft­lichen Gründen ein einiges Deutschland an­strebte.«[1]

Unser Friedrich an seinem Stammsitz


 

Es kam 1834 zum Deutschen Zoll­verein, dem 1842 bereits 28 der 39 Staaten des Deutschen Bundes angehörten. Und ein Jahr später, 1835, startet die erste deutsche Eisen­bahn zu ihrer Jungfernfahrt von Nürnberg nach Fürth.

Büste im Reutlinger Rathaus


Ende der sechziger Jahre setzte dann im Nord­deutschen Bund eine liberale Gesetzgebung unter Kanzleramtschef Rudolf von Dellbrück ein, der die Zollpolitik weitertrieb, das Wirtschaftsrecht vereinheitlichte, das Postwesen reformierte und das Maß‑ und Gewichtssystem vereinfachte. Das Dezimalsystem wur­de eingeführt, sämtliche gesetzlichen Zinsbeschränkungen wurden abgeschafft und »vor allem die Gewerbe‑ und Koalitionsfreiheit durchgesetzt«, erinnert 1990 Wolfram Weimer in der Frank­furter Allgemeine Zeitung an diese Phase.[2] So wurde wirt­schaft­lich vorbereitet, was politisch noch nachvollzogen wer­den musste: die Einigung des Landes. Es wurden die technischen Standards für ein in­du­striel­les Zeitalter gesetzt, die die Gründung des Deutschen Reiches erleichterte, wenn nicht gar erst ermöglichte. Die Wissens­­elite hat­te einen erheblichen Anteil.

In Berlin - Ehrung eines Ehrenbürger


Als jedoch am Mittwoch, 18. Januar 1871, im Spiegelsaal von Ver­sailles der König von Preußen Wilhelm I. feierlich zum Kaiser pro­klamiert wur­de, waren nur der Hochadel und das Militär anwe­send, aber »kein Fabrikant oder Eisen­bahn­ingenieur war ge­la­den, ob­wohl sie es waren, die das Reich zuvor materiell verbunden hat­ten. Schulmeister und Dichter hatten Deutsch­land kulturell zu­sam­men­ge­fügt, aber nicht einer von ihnen war in Versailles dabei«, erinnert Zank an die Geburtsstunde.[3]

Tafel im Technischen Museum in Berlin


 

Als vierzig Jahre später, im Februar 1912, der britische Kriegsminister Richard Bourdon Viscount Haldane nach Deutschland kam, um hier mit der Regierung über die überzogenen Flottenrüstungsprogramme zu verhandeln, besuchte der Staatsmann, der in Göttingen Philosophie studiert hatte, auch die Gräber von Hegel und Fichte. Sie waren reichlich verwahrlost. Als er an der Hoftafel Kaiser Wilhelm II. darauf ansprach, erwiderte Seine Majestät spitz: »Ja, in meinem Reiche ist für Kerle wie Hegel und Fichte kein Platz.« Was zählte, nannte Christian Graf von Krockow 1998 so: »Ingenieursmacht, Maschinengewalt statt Philosophie.« [4] 


Ein Schwabe in Berlin: Friedrich List, Büste im Technischen Museum in Berlin

[1] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«

[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.90, Wolfram Weimer: »Gründerzeit statt Gründerkrise«

[3] Die Zeit, 18.1.1991, Wolfgang Zank: »Die Welle trug«

[4] Die Welt, 28.3.1998, Christian Graf von Krockow: »Admiral Tirpitz hat die See nicht verstanden«

[5] Nation im Widerspruch, Hamburg 1963, Egon Schwarz (Hrsg); Salvador Madariaga: „Porträt Europas“

 

Bildertanz-Quelle:Klaus Bernhardt (Postkartensammlung), Raimund Vollmer (Fotos und Text)

Donnerstag, 14. Januar 2021

Buchbesprechung: Reutlingen - eine Stadt im brutalen Wechsel


Es war die Zeit des Umsturzes, sagen noch heute alle spontan, die das Kriegsende miterlebt haben. Der Begriff „Befreiung“ wurde erst später, in den achtziger Jahren, und dann mit sehr viel Nachdruck von unserem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker unserem Gedenken auferlegt. Wer den wunderbaren Bildband des Reutlinger Journalisten Thomas Deuschle über die 40er Jahre in unserer Stadt, das „grausigste Jahrzehnt“, wie der Autor schreibt, in die Hand nimmt, wird genau in diesen Zwiespalt hineingeworfen. Umsturz war es ebenso wie Befreiung. Dass es der Autor und der Verlag gewagt haben, dieser fürchterlichen Epoche ein Bildband zu widmen, muss man sehr hoch anrechnen. Aber der Thomas kann’s auch einfach. Das „Wir“, mit dem er, der selbst kein Kind dieses Jahrzehnts ist, seine Texten in unsere eigene Befindlichkeit hineinzieht, macht den kompletten Wandel durch, den Umsturz und die Befreiung.  Und die vielen Bilder, die einen ebenso anheimeln wie befremden, ja bestürzen, zeigen uns ein Reutlingen, in dem sich Welt- und Ortsgeschehen gleichermaßen spiegeln. Wie eine Geisterstadt kommt einem da unsere Stadt mitunter vor, dann wieder ist man fasziniert von dem Leben in Reutlingen. Am meisten imponierte mir die Geschichte von Europas größtem Telepathen, von Nena Kara, der 1949 durch die Lande tingelte und die Reutlinger zu einem ganz besonderen Stadtrundgang einlud. Aber hier wird jeder etwas finden, was ihn irgendwie zutiefst berührt. Und zwar als Überraschung. (Ich wurde übrigens ein paarmal überrascht, möchte aber dazu nicht viel verraten, weil das der eigentliche Genuss dieses Buches ist.)  

Egal, wie alt Sie sind, ob sie die vierziger Jahre miterlebt haben oder nicht (wie wohl die meisten von uns), dieses Büchlein werden Sie lieben: Nicht nur wegen der vielen Geschichten und Bilder aus allen Aspekten des Lebens. Es zeigt auch die ganze Zerrissenheit, die wir in diesen coronalen Monaten, inzwischen auch an uns selbst erleben. So hat Thomas recht, wenn er gerne in die „Wir“-Form übergeht. Dieses Buch geht uns auf sehr edle Weise ganz persönlich an. Eine hohe Kunst – angesichts der äußerst schwierigen Thematik.

Raimund Vollmer

 

Bildertanz-Quelle:

Montag, 4. Januar 2021

Reutlingen – Gegen die Biederkeit

 


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

»Ich stelle mir die Stadt der Zukunft als ein Archipel von Stadtvierteln vor, die wie kleine autonome Dörfer funktionieren und in dem man auf kleinstem Raum alles findet, was man zum Leben braucht: Schulen, Büros, Geschäfte, Restaurants, Gesundheitsversorgung.«

Stefano Boeri (*1956), italienischer Star-Architekt[1]  

 Es ist ein doppelt doppelter Vorwurf: "Früher war's besser, und Reutlingen macht alles falsch". So liest man es häufig in Kommentaren auf unserer Facebook-Seite, wenn wir die Stadt in alten Bildern wieder aufleben lassen. Das sei – sagt dann die Gegenseite in ihrer mildesten Form – „etwas zu kurz gefasst". Wir seien die Bruddler, die Miesepeter, denen man nichts recht machen könne. Solche Aussagen gibt es in allen möglichen Variationen. Als Autor dieser Seite ärgern sie mich in beide Richtungen, denn sie sind in beide Richtungen Killerargumente. Für die, für die früher alles besser war, und für die, die meinen, dass heute alles besser sei. Ende der Diskussion. Zwei Positionen stehen einander unversöhnlich gegenüber. Zwei Seiten, die sich doch sehr viel zu sagen hätten – und zwar in eine gemeinsame Richtung: in Richtung Stadtgesellschaft. Aber dann folgt meistens nur noch Häme untereinander. Und unsere Stadt kann sich weiterhin ihrer Biederkeit ergeben.

Ja, Biederkeit. Das war der Ausdruck, der mir in den Sinn kam, als ich jetzt die Gedanken unserer gewählten Stadtpolitiker im Reutlinger General-Anzeiger zum  Neuen Jahr las. Und dann folgte der Gedankenblitz: Genau das ist es, was wir uns nicht mehr leisten können: Biederkeit. Denn sie hat uns bisher nichts eingebracht – am wenigsten an Steuern. Da liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt der anderen Großstädte.

Nach den Plänen wollte Reutlingen im vergangenen Jahr 386 Millionen Euro an Einnahmen erzielen. Sagt der alte Haushaltsplan – und der hätte dann ein „ordentliches Ergebnis“ von plus 12 Millionen ausgewiesen. Das wären – im Vergleich zu 2017 - 40 Millionen Euro mehr an Einnahmen gewesen, allerdings drei Millionen weniger an „ordentlichem Ergebnis“, also Überschuss. So der Plan. Warum so wenig Überschuss? Dass die Personalaufwendungen um 15 Millionen auf 103 Millionen steigen werden, war eine der Ursachen für den verminderten Ertrag, so wie er 2018 noch unter Oberbürgermeisterin Barbara Bosch erwartet wurde. Sie verabschiedete sich-

Aber dann – schon vor Corona – ahnten der neue Oberbürgermeister Thomas Keck und der Gemeinderat, dass stattdessen die Einnahmen derart schrumpfen würden, dass am Ende des Jahres 22 Millionen fehlen werden. Nun musste gespart werden – auf Teufel komm raus. Doch ob das, was dann dabei herauskommt an Planung und Finanzierung für das Jahr 2021, vom Regierungspräsidium genehmigt wird, kommt „einem Gnadenakt“ gleich, sagt unser Oberbürgermeister in einem ansonsten unkommentiert gebliebenen Interview zum Jahresende im Reutlinger ‚General-Anzeiger‘. „Uns geht es am dreckigsten“, resümiert Keck mit Blick auf die anderen Großstädte im Ländle.

So weit sind wir also schon – ein Gnadenakt muss her, der unseren Haushalt billigt. Es sei denn, die Regeln werden so geändert, dass die Stadt, die pro Kopf die niedrigsten Gewerbesteuern unter den Großstädten im Ländle hat, zumindest ihr Gesicht wahren kann. Aber es liegt ja nicht nur an den Gewerbesteuern. Die Einnahmen sind grundsätzlich niedrig. So die Zahlen von 2018.

-         Die Steuereinnahmen pro Kopf liegen in Reutlingen mit 1303 Euro um 700 Euro niedriger als im 40 Kilometer entfernten Stuttgart.  

-         Heilbronn, die Stadt, mit der wir uns gerne vergleichen, hat 1700 Euro je Bürger, sogar Pforzheim schafft mehr. Tübingen liegt – auf der Basis von 2018 – um 14 Euro unter dem Ergebnis für Reutlingen. Wie’s 2020 aussieht, werden wir auch noch erfahren. Vorstellbar ist jedoch, dass dann Tübingen an uns vorbeizieht.

-         Metzingen, wie Tübingen keine Großstadt, toppt übrigens alles: 2544 Euro brachte dort – umgerechnet – 2018 jeder Bürger an Steuereinnahmen.

-         Gemessen am durchschnittlichen Steueraufkommen pro Kopf im Regierungsbezirk Tübingen lag Reutlingen um 150 Euro niedriger.

Nicht gut. Das liegt nicht nur an der Gewerbesteuer. Wir sind als Bürger insgesamt nicht sehr ergiebig. Wir sind auf dem Niveau jener Städte im Westen, auf die wir, die „wir im Süden“ (so eine Schwabenhymne) sind, so gerne herabblicken.

Wuppertal, keineswegs eine reiche Stadt, hat so viel Pro-Kopf-Steuereinnahmen wie Reutlingen. Ebenso Mönchengladbach. Berlin hat 1200 Euro, Dortmund 1250 Euro, Bremen 1600 Euro, Düsseldorf 2350 Euro und München 2850. In der Tendenz hat Reutlingen das Niveau der Ruhrgebietsstädte, allerdings immer noch einen guten Abstand zu den Städten in den neuen Bundesländern. Aber Reutlingen ist eine Stadt, die bei allem Strukturwandel nicht diese brachialen Brüche zu durchleben hatte, wie dies im Ruhrgebiet oder im Osten der Fall war.

Nun könnte man ja nach den Gründen suchen, warum es strukturell der Stadt an Steuereinnahmen gebricht. Das liegt vielleicht ganz einfach daran, dass man zu viel erwartet. Beim jetzt beendeten Doppelhaushalt stimmt dies auf jeden Fall. Es wurden Erwartungen formuliert, die man offensichtlich brauchte, um jene Ausgaben zu rechtfertigen, die da so geplant waren. Man projizierte sich in eine Zukunft, die einfach nicht stattfand, aber bei der man so tat, als sei sie schon da. Davor gewarnt haben, so war zu erfahren, Leute aus dem engsten Kreis um Frau Bosch. Sie wollte offenbar nichts davon wissen.

Darf man sich bei den Steuereinnahmen in wirtschaftlich gesunden Zeiten tatsächlich um 20 Millionen irren? Da war wohl der Wunsch der Vater der Planung – sozusagen ein Theaterstück mit dem Titel: „Der Haushalt – eine Wunschvorstellung.“

Keck hat es nun auszusitzen. Aber auch er war zuvor Stadtrat und sogar Bezirksbürgermeister. Warum haben die Stadträte diesen Fehleinschätzungen nicht Einhalt geboten? Der Haushalt ist doch des Rates „Königsdisziplin“! Daran misst er sich und seine Macht.

Nun kam Corona und verschärfte alles in einem unerträglichen Maße, dass das kollektive Versagen gar nicht mehr zur Sprache kommt. Mit einer Pandemie konnte niemand rechnen – schon gar nicht die Haushaltsexperten und erst recht nicht wir, die Bürger. Auch die Stadträte sind da außen vor. Kommen nach Corona die guten Zeiten wieder? Wir hoffen es, aber erwarten dürfen wir es nicht. Vor allem werden es andere Zeiten sein.

Genau darin liegt das Problem. Unsere von Amtswegen autorisierten Bürokratien sind es gewohnt, alles vorherzusehen und vorher zu planen. Und dann hat es auch so zu kommen. Sie betreiben einen immensen Aufwand, auch buchhalterisch, um sich selbst und uns im Griff zu behalten. Und wenn die Zahlen nicht so sind, wie man sie braucht, dann weiß man tausend Tricks, um sie dennoch zu bändigen. Ja, man hat manchmal den Eindruck, dass der Aufwand, eine Fehlentwicklung zu tarnen, höher ist als der Schaden selbst. Das funktioniert nicht mehr. Und da Corona ohnehin an allem schuld ist, braucht’s das ja auch nicht mehr.

Wir Bürger versuchen, das alles zu verstehen. Gelingt uns aber nicht, weil – welches Zahlenwerk auch immer wir uns anschauen (wie ich das eingangs getan habe) – am Ende ist man noch verunsicherter als vorher. Es sind Machwerke, die in sich plausibel erscheinen – und aus denen man spätestens bei der dritten Abstraktion intellektuell aussteigt. Das Prinzip von „Check & Balances“ ist ziemlich wenig ausbalanciert. Die Bürokraten aller Länder und Gemeinden können uns viel erzählen.

Sie verkaufen uns eine in sich geschlossene Welt. Sie sind von ihrer eigenen Argumentation derart überzeugt, dass sie „narret“ werden, wenn eine doch wegen der Umweltbelastung gesperrte Fahrspur in einer Satiresendung landet. Frage: Wo denn sonst? Für die Stadt mag es um die Umwelt gegangen sein (und die rechtlichen Konsequenzen), wir haben es anders interpretiert. Für uns ging es einzig und allein darum, die Daten einer Messstation zu beeinflussen. Und es ist ja auch so: Wenn die Ergebnisse am Ledergraben entscheidend sind, um die durchschnittliche Belastung zu bestimmen, dann ist es ein Zeichen dafür, dass Zahlen und Wirklichkeit wenig miteinander zu tun haben.

Wir haben es hier mit einem delikaten Phänomen zu tun. Wir haben – um unser Dasein zu bewältigen – für all unsere Kümmernisse und Bedürfnisse Institutionen errichtet. Die Krankenhäuser gehören aber nicht uns, sondern dem Gesundheitssystem. Die Schulen gehören nicht uns, sondern dem Bildungssystem. Die Straßen gehören nicht uns, sondern dem Verkehrssystem, das auch die anderen Verkehrsarten unter sich summiert – vor allem die Konkurrenz, den ÖPNV. Die Steuern gehören nicht uns, sondern dem Staat, der im Rahmen seiner Gesetze, die er zu 90 Prozent aus Vorschlägen der Exekutive heraus definiert (und in selbstbestimmten Verordnungen umgesetzt werden), machen kann, was er will. Auch die Umwelt gehört nicht uns, sondern längst den Regierungen, die die Klimakatastrophen ausrufen, damit die Herrschenden mit uns machen können, was sie wollen. Sogar ein Oberbürgermeister muss jetzt um Gnade bitten.

Diese Systeme entstehen, indem sie sich planen. Sie gehen ihrer Bestimmung nach, die sich in erschreckender Weise nur noch in Selbstbestimmung äußert. Was wir mal für uns ausgedacht und gewünscht haben, wird uns mit der Zeit entfremdet. Alles ist darauf ausgerichtet, dass alles auch bestimmt wird. Wir leben in einer Exekutiv-Demokratie. Schon lange ist das so – und es beunruhigt inzwischen nicht nur Philosophen, sondern auch sehr prominente Staatsrechtler.

Und dann fällt Corona über uns her – etwas völlig Unbestimmtes. Keiner hat Corona geplant. Plötzlich war alle Planung Makulatur. Das Ungeplante bestimmte alles. Wer sich aber die vergangenen drei Jahrzehnte anschaut, wird feststellen, dass nach dem Fall der Mauer dieses Unbestimmte längst unser Dasein „bestimmt“. Dies ist das „New Normal“, das Neue Normale, nicht erst seit Corona. Und dieses Unbestimmte kommt neuerdings aus der Luft – von Nine-Eleven über Klimakatastrophe und Hagelstürme bis hin zu Corona. 

„Wir haben Millionen in das Stadtbuskonzept gesteckt und in eine veränderte Mobilität“, berichtet der Oberbürgermeister. Man zeichnete das, was entstand. Corona torpediert dieses Konzept in seiner Selbstbestimmung. Mit den „Quartiersbussen“ wollte man ein Signal setzen. Gibt’s nicht mehr, ob’s wiederkommt, fraglich. Alles muss nun in das „New Normal“ eingepasst werden. Nicht einfach: Die Bekämpfung von Corona verlangt ja nicht nach neuen Kollektiven (Busfahren), sondern Abstand halten, Maske tragen, zuhause bleiben. Corona ist das Gegenteil zu allem, was war, aber – wie wir ahnten – nicht mehr so bleiben konnte.

Wir haben eine Innenstadt, in der in städtebaulicher Selbstbestimmung alles getan wurde, um sie äußerlich attraktiver erscheinen zu lassen, damit Menschen und Betriebe zu uns ziehen, die die Steuereinnahmen verbessern. Hat bisher nicht funktioniert, stattdessen hat die Stadt in ihrem Innern einiges an Charakter verloren. Die Menschen halten Abstand zur Stadt. Wer den Kommentaren hier auf Bildertanz gefolgt ist, hat dies längst spüren können. Die Stadt wurde den Bürgern entfremdet, ohne sich in eine neue Heimat zu verwandeln. Und man könnte sogar behaupten: die lange Zeit gepflegte Unfähigkeit, dies zu erkennen, zeigt, wie sehr sich die Handelnden selbst von uns entfremdet haben. Sie sind inzwischen selbst so viele, dass sie sich durch gegenseitiges Schulterklopfen ihre Richtigkeit und Wichtigkeit permanent bestätigen konnten. Kritik hatte da keinen Platz.

Vielleicht erscheint dies dem einen oder anderen übertrieben. Wer indes den GEA in den letzten Wochen las, wird festgestellt haben, dass er mehr denn je in seinen journalistischen Arbeiten seine Leser mit ihren kritischen Äußerungen zu Worte kommen lässt (in den Leserbriefen haben sie ja schon seit eh und je eine Gegenposition behauptet). Die heile Welt existiert nicht mehr. Für niemanden. Wir müssen uns dem Unbestimmten stellen. Daran sollten fortan vor allem die denken, die über uns bestimmen wollen.

Noch nie war Kritik so „not“-wendig wie jetzt. Denn in der Kritik geht immer schon die Zukunft schwanger.

Was die Menschen spüren, ist, dass die Veränderungen, die diese Stadt vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts gesehen hat, wie aufgesetzt wirken. Sie sind nicht authentisch, nicht originär, Nachahmerprojekte. Danach aber sehnen wir uns insgeheim, nach dem Echten, dem Ureigenen. Nein, früher war nichts besser, vergessen wir dieses Argument! Was die Kommentare, die in diese Richtung gehen, in Wirklichkeit sagen wollen, ist, dass es authentischer gewesen ist. Ob’s stimmt oder nicht, kann ich nicht objektiv beurteilen, das kann wahrscheinlich keiner. Aber dieses Gefühl, dass die Veränderungen ein Mehr an Authentizität gebracht hätten, ein Mehr an Identifikation und Kommunikation, das kann ich nicht bestätigen. Insofern sind diese Veränderungen leer und inhaltlos.

Die große Frage wäre demnach: Wie kann man dieses Angebot, mit dem wir ja nun leben müssen und viel Geld gekostet hat, mit Inhalten füllen, mit Identifikation und Kommunikation? Die Antwort müssen wir – vermute ich – selbst geben.

Es hat ja diesen netten Versuch gegeben, den Markenkern unserer Stadt herauszuarbeiten. Ein mausetotes Top-down-Projekt, das auch ein sehr geschätzter Comedian nicht zum Leben erwecken konnte. Warum? Haben wir tatsächlich keinen Markenkern?

Doch. Wir sind über alle Jahrhunderte hinweg das Tor zur Alb (und nie das Tor zu Stuttgart!!!) gewesen. „Tor zur Alb“ - das war mal der Slogan unserer Stadt, mehr als das – es war ein Bekenntnis, ein Alleinstellungsmerkmal gar, weil keine andere Stadt damit reüssierte. Und damit kann sich jeder identifizieren, der Altenburger ebenso wie der Betzinger, der Gönninger, der Sondelfinger oder der Ohmenhausener. Das erfüllt einen irgendwie mit Stolz. Ein Portal zu sein, ein Tor zur Welt (um es einmal ins fast unerträglich Übertriebene hoch zu steigern) ist eine Einladung an alle, ganz einfach mitzuwirken. Das gilt für die, die bereits da sind, und natürlich auch für die, die man doch gerne hier haben möchte, wo immer sie herkommen. Eine Stadt, die in sich ruht, souverän ist, an ihre einstige Reichsunmittelbarkeit als Reichsstadt erinnert! Es könnte sogar sein, dass auch die Nachbarn diesem alten Titel mit sehr viel Sympathie huldigen. Es wäre eine Verbeugung vor der Vergangenheit, zugleich aber auch ein Bekenntnis zu Gegenwart und Zukunft. Reutlingen muss sich nicht neu erfinden. Reutlingen muss sich nur neu finden. In seiner Tradition und in seiner Ambition. Der Spruch hat allerdings einen Nachteil: er ist von gestern. Und eine Möglichkeit, ihn gegen die Gutachter, Berater, PR-Agenten, Stadtmarketiers, gegen das gesamte Herrschaftsgefolge durchzusetzen, ist gleich Null. Die wollen ihr eigenes Logo draufsetzen. Ein altes Logo ist für sie ein „No-Go“.

Die Möglichkeiten, Einspruch zu erheben, Vorschläge durchsetzungsstark einzubringen, sind in Reutlingen (wie in allen Bürokratien) bestimmt durch die vordefinierten Wege, die, indem sie vorgezeichnet wurden, bereits jeglicher Spontaneität, Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, Kreativität entkleidet wurden. Das ist ihre heimliche Aufgabe, es ist der Weg der Unterwerfung und der Gnade, nicht der Offenheit und Freiheit. Es ist der Weg der Bürokratie. Da kommen die alten Reflexe durch, gegen die keine Obrigkeit gefeit ist. Was ihr formal nicht genügt, hat auch gar nicht stattgefunden. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat Recht, wenn er schon vor Jahren sagte, dass wir „in postdemokratischen Zuständen“ leben.

Das ist das Dilemma, vor dem wir Bürger stehen. Wir werden nur gehört, wenn wir den engen Verwaltungsweg einhalten, oder wenn wir das vorbehaltlos loben, was an Neuerungen diese Stadt in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren geschaffen hat.

Vielleicht irre ich mich ja.

Die grüne Wiese, die aus dem Untergang des alten Bruderhauses entstand und die ich in einem kleinen Film festgehalten hatte, war doch eine Einladung gewesen, diese Idee, „das Tor zur Alb“ zu sein, kreativ zu erneuern. Doch aus dem Brachland der Geschichte wurde ein Niemandsland. Aus der Bruderhaus-Idee wurde ein Ort der Beliebigkeit. Dabei lag es doch auf der Hand, diesen Platz als Tor zur Alb zu inszenieren, als Tor zu einem Biosphärengebiet, zu einem Ort der Phantasie, der Geschichte, der Kultur, des Lebens in dieser Stadt. Rund um dieses Thema hätte man sehr, sehr viel entwickeln können (und kann man immer noch). Ich kann mir vorstellen, dass unser Prunkstück, die Philharmonie, einen Riesenspaß daran hätte, das alles zu begleiten. Denn unsere Philharmonie ist alles andere als bieder. Nur mal so: Wenn jeder der Schnurbäume einen Musiker als Paten hätte, dem er einmal im Monat ein Ständchen bringen müsste, dann wäre dies eine kleine Geste, die zeigen würde, wie sich unsere Stadt – ohne großen Aufwand – neu vernetzt. Oder auch abwechselnd mit den Schauspielern der Tonne, die ihrem Schnurbaum ein Gedicht, einen Dialog oder sonst wie einen kleinen Vortrag darbieten würden, wäre ein Ansatz, um zu zeigen, wie unsere Stadt durch die Kultur wiederbelebt wird. Auch unser bildenden Künste, die Maler, die Bildhauer, die Performance-Künstler, all die vielen kleinen und großen Genies und Begabungen in unserer Stadt etwas bewirken. Ohne viel PR. Aus sich heraus. Ganz tief aus ihrer Seele, die danach schreit aus der Biederkeit der Gegenwart befreit zu werden, würde sich diese Stadt erneuern. Unendlich viele Kleinprojekte, auch in der gesamten Innenstadt, würden dieser Stadt etwas Einzigartiges geben können. Kein Riesenrad, sondern viele kleine Rädchen. Ein Symbol dafür, wie das große Ganze aus dem ganz Kleinen kommt.

Vielleicht sind diese Vorschläge abstrus, vielleicht lassen sie diejenigen, die stattdessen etwas anderes dahingestellt haben, nur die Nase rümpfen, aber all das ist besser als gar kein Vorschlag.

Der Bürgerpark, um ihn als ein Symbol für die Biederkeit zu nehmen, ist heute ein Niemandsland. Er hat keine Botschaft – weder in die Vergangenheit, noch in die Zukunft.  Auf ihm haben es nicht nur die Bäume schwer.

Wirklich belebt habe ich ihn noch nie gesehen. Gäbe es das Echazufer nicht, so hätte dieser Platz gar keine Bedeutung – noch nicht einmal die, die der Architekt der Stadthalle damit verband. Er wollte Distanz schaffen, um die Erhabenheit der Kultur zu demonstrieren. Kultur ist nie erhaben, sondern mitten unter uns. Aber nun hat Corona auch die Kultur vertrieben.

Es wird Zeit, dass sie zurückkehrt. Nicht als Stein, sondern auf zwei Beinen. „Es muss ein Bewusstsein und den Willen geben, aktive Bürger eines Ortes zu werden, sonst wird sich nichts an dem Ungleichgewicht ändern“, meint der italienische Architekt Stefano Boeri. Er sieht die Stadt der Zukunft vernetzt durch ihre Dörfer, in ihrer Kleinteiligkeit. Reutlingen aber dürstetr schon zu lange und zu sehr nach dem großen Wurf. Befreien wir uns doch von unserer Biederkeit!

 

 



[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Januar 2021, Karen Krüger: „“‘Die Stadt als Archipel‘“

Bildertanz-Quelle:Dimitri Drofitsch (Foto)