Samstag, 29. Oktober 2016

STADT IM ZEITBRUCH: Wie es zum Parkhotel kam



 Es war einst das modernste Hotel Südwürttembergs



 

Bildertanz-Quelle: Foto-Näher: Der Festsaal


Bildertanz-Quelle: Foto-Näher: Blick ins Zimmer
 
"Die Zerstörung von drei Hotelgebäuden in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes mit 72 Fremdenzimmern und 106 Betten sowie vier weiteren Gaststätten mit 53 Fremdenzimmern und 67 Betten, zwang in den Nachkriegsjahren viele Besucher Reutlingens außerhalb der Stadt zu übernachten. Dies trat ganz besonders bei den zahlreichen Tagungen sehr unangenehm in Erscheinung. Da es sich zeigte, dass ein Einzelunternehmer nicht in der Lage ist, ein großes, gutes Hotel allein zu erstellen und zu unterhalten, erklärte sich die Reutlinger Industrie auf Betreiben der Industrie- und Handelskammer im Jahre 1952 bereit, im Zusammenwirken mit der Stadt ein Hotel in Bahnhofsnähe zu errichten und zu diesem Zweck eine Hotel-AG zu gründen. Planung und Entwurf wurden auf Grund eines Wettbewerbs an die Architekten Gebr. Beck, Reutlingen, übertragen. Das im Jahre 1954 fertiggestellte Hotel kann heute als das modernste Haus Südwürttembergs bezeichnet werden. Es besitzt 71 Betten, 30 Zimmer mit Bad, ein Restaurant, einen Festsaal, Konferenz- und Tagungsräume, eine Kellergaststätte, Café und Konditorei und Hotel-Bar."
Aus: "Aufbau im Kreis Reutlingen"

Freitag, 28. Oktober 2016

Prüfet die Anfänge! Wie hierzulande die Zukunft geplant wird...



Es geht um ein Gewerbegebiet zwischen Altenburg und Kirchentellinsfurt, es geht um alles oder nichts! Gestern im Gemeinderat von Kirchentellinsfurt

Ein Feature von Raimund Vollmer, der hier Partei ist

Der Kollege schaute voller Respekt und durchaus mit einem Schuss Neid in den Ratssaal der Gemeinde Kirchentellinsfurt. "Wie bei Arturs Runde", staunte er in die Tafel-Ellipse, die sich fast über die gesamte Länge des hochgiebligen Dachgeschosses des Rathauses ausbreitete. In der Tat - das Ambiente imponierte. Hier am Tisch war jeder wichtig - und gestern abend ganz besonders.
Der Schreiber dieser Zeilen, also ich, gehörte wie der Kollege zu einer Abordnung von  sieben Altenburgern, die am äußersten Rande des Saales auf einer langen Bank saßen und dem Gremium voller Spannung zuschauten und zuhörten. Irgendwie kleingehalten fühlte man sich auf dieser Bank, die einen mit ihren schrägsteil emporragenden Dachwand zu einem Gartenzwerg schrumpfen ließ. Ja, wie einer der sieben Zwerge kam man sich vor - vielleicht auch deshalb, weil da gestern eine große Sache über den Ratstisch hin und her gezogen wurde: Verhandelt wurde die Erweiterung des bestehenden Industriegebietes zwischen Altenburg und Kirchentellinsfurt um rund 15 Hektar. 
Nein, nein - darum ging es nicht. Eigentlich ging es nur darum zu prüfen, ob man prüfen soll, was vielleicht mal genutzt wird, wenn ein Bebauungsplan erstellt worden ist, der als Voraussetzung einen Flächennutzungsplan benötigt, der dann für dreißig bis vierzig Jahre gilt. Also, um es präzise zu formulieren: Gestern ging es um Nichts. Aber wenn man dieses winzige Prüf-Nichts, um das gestern gekämpft wurde, nicht in die Welt setzte, dann wäre auf Dauer alles verloren.
So argumentierte die eine Seite, vor allem vertreten vom Bürgermeister von Kirchentellinsfurt. Er hatte die kompetentesten Fachleute an seiner Seite, die ihn äußerst eloquent unterstützten. "Wir wissen nichts", hatte der Bürgermeister gesagt und darauf verwiesen, dass erst zukünftige Gremien, ja, Generationen, darüber entscheiden würden, was denn tatsächlich mit dem Gewerbegebiet geschehen werde. Es ging also wirklich um nichts, wobei man ehrlicherweise zugeben muss, dass dieses Nichts mehr war als  gar nichts. Denn es sollte dieses Nichts geprüft werden, ob nicht doch etwas darin steckte.
"Wer prüft, baut auch", verweigerte sich die andere Seite, die von dem Prüfantrag gar nichts hielt. Für sie war eine Prüfung bereits der Einstieg in den Einstieg. Der Wortführer der Neinsager saß genau gegenüber, an der anderen stumpfspitzigen Seite des Ellipsentisches. Hinter sich und neben sich nur die kahlen Wand mit der Saaltür, während der Bürgermeister auf seiner Seite eine Fensterfront hinter sich weiß - und den Hochaltar einer Leinwand, die allein ihm und seinen Experten gehörte. Perfekt inszeniert. Und doch war alles so durchsichtig, dass man sich auf seiner langen Bank ein wenig fremdschämte. Das alles hätte man auch charmanter machen können. Durch die Kreide hörte man doch die Stimme des Wolfes hindurch.
Und wir, wir die Bürger aus Altenburg, kamen uns denn auch vor wie die sieben Geißlein. Wir wurden mit Haut und Haar verschlungen.
Dass wir an diesem Abend nichts zu sagen haben würden, war uns, die wir im Zuschauerraum vor allem den Bezirksgemeinderat von Altenburg repräsentierten, natürlich bewusst. Das war sogar irgendwie sehr, sehr angenehm. Denn wer nichts zu sagen hat, kann viel, viel aufmerksamer zuhören. Aber dass wir auch außerhalb des Kirchentellinsfurter Ratsaals, auf unserem eigenen Turf nichts zu sagen hätten, das zu hören, das tat weh - vor allem, wenn es einer sagt, der selbst bis vor gar nicht so langer Zeit selbst Bezirksgemeinderat, also Ortschaftsrat, war. Um uns. um Altenburg, ging es nicht, sondern um eine "wirklich große Stadt" (das hat er wirklich gesagt!) ging es. Es ging um Reutlingen. Deren Gemeinderat hat das Sagen, er allein war auf derselben Augenhöhe wie der von Kirchentellinsfurt.
Wir, die wir aus dem kleinen Örtchen Altenburg kamen, fühlten uns auf unserer langen Bank, auf die wir uns in diesem emporragenden Ratssaal abgeschoben sahen, um weitere zehn Zentimeter geschrumpft. Wir sind zwar die allerengsten Nachbarn des Gewerbegebietes, waren aber doch so unbedeutend, dass wir uns, um uns zu retten, am besten im Uhrenkasten verstecken sollten. Andernfalls würden wir ganz einfach verschlungen.
Nun wissen wir ja alle, wie das Märchen ausging und der Wolf am Ende nur Steine in seinem Bauch hatte, aber gestern ging es nicht um das Ende, sondern um den Anfang.
Und der heißt Flächennutzungsplan. Das sei der "vorbereitende Bauleitplan", heißt es auf der Homepage des Nachbarschaftsverbandes Reutlingen-Tübingen, deren Vorsitzende momentan die Oberbürgermeisterin von Reutlingen ist. "Bauleitplan" - für die Altenburger ist das ein Zauberwort, denn in den Verträgen, die vor langer Zeit die Errichtung des Gewerbegebietes erst möglich gemacht hatten, steht sinngemäß drin, dass ohne die Zustimmung durch den Bezirksgemeinderat von Altenburg eigentlich gar nichts entschieden werden darf. Und diese Geißlein haben 2015 ihr Veto eingelegt. Einstimmig. Und das muss nun mehrstimmig und machtvoll übertrumpft werden - durch die Stimmen von echten Gemeinderäten, von Leuten, die wirklich etwas zu sagen haben.
Das macht man mit einer Raffinesse, die einem schon Respekt abverlangt Die Gemeinderäte, die wirklich etwas zu sagen haben, entscheiden momentan nicht darüber, ob das Gewerbegebiet in einen zukünftigen "vorbereitenden Bauleitplan" aufgenommen soll, sondern nur darüber, ob es überhaupt aufgenommen werden könnte. Man untertunnelt also den "vorbereitenden Bauleitplan". Clever.
Damit nicht genug, man verbindet diesen Tunnel mit dem Ganzen. Wenn diese Prüfung nicht gestattet wird, dann kann das potenzielle Gewerbegebiet auch nicht Teil des Flächennutzungsplans werden. Dann ist die Zukunft schon im Keim erstickt. Und zwar für die nächsten vier Jahrzehnte. Denn so alt ist bald der alte Flächennutzungsplan. Er stammt aus dem Jahr 1979.
So wurde gestern ein Druck aufgebaut, bei dem zu keinem Zeitpunkt eine Rechtsvorschrift genannt wurde, die all diese Schritte begründete - auch nicht die Laufzeit eines Flächennutzungsplans. Kein einziger Paragraph wurde genannt, der die Legitimität dieses Planes wenigstens ansatzweise umriss. Und man fragte sich, ob der Nachbarschaftsverband, der da gestern mit am Tisch saß, nicht hätte diese Vorab-Prüfung schon längst durchführen lassen müssen - aus eigenem Selbstverständnis heraus. Schon wegen der Selbstachtung. Immerhin sind doch seit 2014 renommierte Gutachter eingeschaltet, die das alles nicht zum ersten Mal machen.
Von denen war aber keiner mal bei uns im Altenburger Bezirksgemeinderat. Wären sie vorbeigekommen, hätten wir ihnen erklärt, warum das - nach welchen Kriterien auch immer -  vorausgewählte Gewerbegebiet ziemlich untauglich ist. Den Rat hätten sie von uns, den Zwergen aus dem Altenburgerland, kostenlos bekommen.Es wäre ein sehr, sehr ehrlicher Rat gewesen.
Gut. Es kann sein, dass das den Prüfauftrag gefährdet hätte. Seit gestern haben ihn die Gutachter sicher. Denn der Gemeinderat von Kirchentellinsfurt stimmte mehrheitlich dafür. 

Die Zukunft der Gutachter ist gesichert. Wer braucht da noch Bezirksgemeinderäte?  
 

Bildertanz-Quelle:R.V.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

STADT IM ZEITBRUCH: Die Listhalle





Im Krieg war sie völlig zerstört worden. Doch drei Jahre später hatten die Reutlinger mit dem Wiederaufbau begonnen. Und als 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, wurde sie wieder der wichtigste Versammlungsort in der Stadt. Jahrzehntelang diente sie den Bürgern treu und brav. Doch gegen dann kam die "Halle für alle" - und kurz darauf hieß es hier im Bildertanz: Die Listhalle ist alle.
Bei reiner Bestuhlung bot sie 1600 Menschen Platz, wurde sie bewirtschaftet und zu den Stühlen kamen auch Tische, dann redizierte sich das Angebot auf 1200 Plätze. Die Halle war teilbar, so dass auch ein kleinerer Saal mit 600 bis 850 Menschen Fassungsvermögen möglich war. Sie war Theatersaal und Konzertsaal, sie diente als Ausstellungsraum und als Versammlungshalle. Sie war eine Halle für alles. Boxveranstaltungen, wie sie jetzt auch mal in der "Stadthalle" stattfanden, gab es ebenfalls in der Listhalle. Nach der Einweihung der Stadthalle in 2013 wurde die Listhalle bald darauf abgerissen. Den letzten Bewohner der Halle, eine Maus, haben wir noch 2012 gefilmt. Es war eine Maus. Und dann war Aus-die-Maus.(Raimund Vollmer)

Wenn man genau hinsieht, erkennt man die Maus.

Bildertanz-Quelle:Julius Akermann, R.V., Sammlung Bert Wagner

Dienstag, 25. Oktober 2016

STADT IM ZEITBRUCH: Der Pendler-Busbahnhof

Am 19, Oktober 1954 war der Fernbusbahnhof eingeweiht worden. Zuvor waren für die Pendler, die aus der Region jeden Tag nach Reutlingen kamen, die Haltestellen ihrer Fernbusse überall in der Stadt verteilt gewesen. Doch dann erwarb die Stadt Grundstücke auf dem vom Krieg völlig zerstörten Gelände in der Nähe des Hauptbahnhofs und der Endhaltestelle der Straßenbahn. Sie errichtete hier einen neuen Busbahnhof, der bis heute besteht. Von fünf Bahnsteige aus ging der Busverkehr ab - ohne besondere Aufsicht und ohne Fahrdienst. 60.000 Einwohner zählte damals die Stadt. Viele Menschen kamen jedoch täglich aus der Umgebung, um hier zu arbeiten oder zu lernen. Reutlingen war das Zentrum ihrer Welt. 45 Buslinien steuerten täglich den Busbahnhof an, 17 Busunternehmen waren hier engagiert.
Bildertanz-Quelle: Aufbau im Kreis Reutlingen/ Sammlung Dieter Bertsch

Montag, 24. Oktober 2016

Anonyme Gedanken zu einem Bauwerk, das wir Rathaus nennen und ein Denkmal ist...

... gab es jetzt zu einem Bild, das wir im März 2016 veröffentlicht haben. Es ist eine kleine Liebeserklärung, in der uns leider der Name des Autors verschwiegen wird. Fast schon wehmütig der Unterton, schon deshalb wert, dass der Text nicht nur in einen Kommentar untertaucht zu einem Blogeintrag, der schon eine Weile zurückliegt. Auf jeden Fall ist er es wert, dass wir ihn goutieren. Danke, lieber Anonymos. Das Foto ist von Richard Wagner.(DER URSPRÜNGLICHE BEITRAG: HIER)


"Man kann über das Rathaus ja denken, was man möchte. Auf jeden Fall ist es einfach und wohlfeil, seine Architektur, seine Größe, seine Schlichtheit oder - je nach Gemütslage - Hässlichkeit zu kritisieren und zu verspotten. Auch mag es populär sein, die ehemals vorhandenen Gebäude zu vermissen und zu beklagen, die dem Neubau weichen mussten. Alles gut so weit. Ich jedoch gestehe freimütig: Ich möchte das Rathaus nicht missen. Nein, schön im eigentl
ichen Sinne ist es nicht. Aber das sind auch das Centre Pompidou, der Eifelturm und mach andere Wahrzeichen nicht. Aber was ist schön? Gerade dieses Foto zeigt, was das Rathaus faszinierend mach, seine geradlinige Konstruktion, die nicht s versteckt und nichts vorgibt was sie nicht ist. Eine Architektur, die zeigt, was im Inneren vor sich geht, die die Struktur der Arbeit nach außen hin verdeutlicht. Die transparent ist, nichts Protzerisches hat, die vor allem den Zeitgeist ihrer Entstehung versinnbildlicht. Einer Epoche, in der der Fortschrittsglauben unbändig war, in der - später zwar - auch möglich erschien, in Mittelstadt ein Atomkraftwerk zu errichten. Architektur muss auf die Zukunft hin angelegt sein, das ist klar. Insofern muss sie - auch - ein wenig visionär sein. Nur weiß niemand, wie die Zukunft aussieht. Schaut man sich das an, was in den Sechzigern als futuristisch galt, wird man erkennen, dass sich vieles niemals erfüllt hat, gar ganz anders gekommen ist. Darum müssen wir auch damit leben, dass manches, das visionär geplant und ausgeführt wurde, heute als daneben empfunden wird. Und können es dennoch, aus dem Kontext der Entstehung heraus, schön finden. Und immerhin hat Reutlingen damit einen weithin sichtbaren Gegenentwurf zu den allenthalben aus dem Boden schießenden und leidlich dahinvegetierenden Shopping Malls. Einen denkmalgeschützten obendrein."

STADT IM ZEITBRUCH: Kreidefelsen über dem Tal

Mögen sich die Städte noch so sehr verändern, wir belieben unerschütterlich - ein Fels in der Brandung der Zeit. 
Bildertanz-Quelle:Juliuas Akermann

Sonntag, 23. Oktober 2016

STADT IM ZEITBRUCH: Hinaus aufs Land


Als noch Sommer war - und nicht nur dann - zog es die Bürger Reutlingens hinaus und hinauf auf die Alb. Und wenn ich mich nicht gewaltig täusche, wartet da im Hintergrund der Überberger Hof auf die Familie Akermann
Bildertanz-Quelle:Julius Akermann

Freitag, 21. Oktober 2016

Reutlingen 2030: Die verschachtelte Stadt



Wird Reutlingen bald nur noch aus Schachteln bestehen? Wie hier an der Oberen Wässere? 


Von Raimund Vollmer*

Warum es in Reutlingen um mehr geht als nur um Stadtplanung und Stadtentwicklung

Es klingt ziemlich weit hergeholt. So war es auch. Im obersten Fach meines Archivs fand ich eine Schachtel mit Zeitungsartikeln eines vor elf Jahren verstorbenen Herrn, eines Jahrhundertmenschen, den ich sehr bewundert habe. Eine Stunde später wusste ich wieder warum. Und ich glaube, dass das, was so etwas wie sein Testament war, uns in unserer Stadt eigentlich sehr interessieren müsste...

Eine Schachtel wird besichtigt

Er war Österreicher, weltberühmt wurde er als Amerikaner. Er gilt als der größte Management-Lehrer des 20. Jahrhunderts. Sein Name: Peter F. Drucker, 1909 geboren, gestorben 2005. Ein Mann, dessen Lebenszeit noch die Kaiserreiche gestreift hatte, der zwei Weltkriege durchlebte, der als junger Mann über den Börsenkrach von 1929 berichtete, der miterleben durfte, wie zwei seiner Arbeitgeber - darunter eine Bank - Bankrott gingen, der wiederholt Adolf Hitler interviewt hatte und der dann in den USA die einzigartige Chance bekam, das über Jahrzehnte hinweg größte Unternehmen der Welt, General Motors, zu durchleuchten.
Er war der Mann, der Management aus unmittelbarer Nähe beobachtet hatte und dieser Species ein Selbstverständnis gab, einen Berufsethos, der sich auf einen einzigen Begriff reduzieren lässt: Bescheidenheit - die völlige Zurücknahme seiner selbst angesichts der immensen Aufgabe, sei es nun in Staat oder Wirtschaft. Und er warnte davor, dass immer dann, wenn die Welt nach Superstars verlangt, der Zeitpunkt gekommen war, in dem sich die Führung in einer ernsten Krise befand.
Warum ein solch langer Einstieg, wenn es doch hier nur um Reutlingen geht? Dazu müssen wir die anderen Schachteln auch noch öffnen.

Braucht Reutlingen einen Superstar?

Unsere Stadt steht nun wirklich nicht im Verdacht, dass ihre Bürger nach einem Superstar verlangen. Sie brauchen ihn auch gar nicht. Die Menschen in Reutlingen pflegen eher zu viel Bescheidenheit als zu wenig. Hier hält man nichts von Großmannssucht.  Hier hat man keine überzogenen Erwartungen an sich selbst und an andere. So sind sie hier. Das wurde in den letzten 70 Jahren durch den Zuzug von Menschen, die nicht des heimischen Dialektes mächtig sind, eher gestärkt als geschwächt. Das liegt an der Luft. Wer hierher kommt, will das Unaufgeregte, die Schönheit der Alb, das gemütliche Beisammensein, kurzum: das Bürgerliche.
Für uns ist Reutlingen allenfalls ein Großstädtle - so belanglos und bedeutungslos wie die anderen Metropölele wie Pforzheim, Heilbronn, Ludwigsburg und Esslingen im Umkreis der Landeshauptstadt Stuttgart.

Wir haben Kretschmann - und der ist in Stuttgart.

Stuttgart ist wie wir. Hier wird geschafft. Ansonsten weiß man auch nicht so genau, was man mit sich anfangen soll. Trotz immenser Wirtschaftskraft reicht's im Fußball momentan nicht einmal zu einem Erstligaverein. Wenigstens ist die Staatsoper nach zehn Jahren wieder zur Oper des Jahres gewählt worden. Mit dem Superprojekt "Stuttgart 21" ist man derweil dort so beschäftigt mit sich selbst und der Finanzierung, dass für jegliche andere Form von Größenbahn weder Zeit noch Plan ist. Stuttgart ist mit Zukunft völlig ausgelastet. Im Unterschied zu Reutlingen, das da noch viel freier ist. 
Wir haben absolut keine Management-Probleme. Wir haben keine Superstars. Wir haben Kretschmann. Der sitzt in Stuttgart. Ob's genügt? Wir wissen es nicht, interessiert uns auch nicht.
Wir haben uns selbst komplett unter Kontrolle. Und Bescheidenheit - die pflegen wir, wenn's sein muss auch mit einem Quantum Überheblichkeit. Wir im Süden. Da singt es sich froh: "Wir haben nicht die längste Theke der Welt, wir haben sie nur hergestellt." Nur, damit das klar ist. (Als jemand, der seine Jugend in der Stadt mit der längsten Theke verbracht hat, also Düsseldorf, ist das natürlich blanker Spott, den er großzügig akzeptiert.)

Lieber eine Stunde näher an Budapest als an Reutlingen

Bleiben wir in Stuttgart, diese sich gerade völlig neu verschaltende Stadt.  "Stuttgart 21" - da haben sich die Landeshauptstädter einmal ganz, ganz weit nach vorne gewagt, prompt sind sie fürchterlich auf die Nase gefallen. Sie haben endlich der Welt laut sagen lassen, was sie meinen könnten, wenn sie etwas wollen dürften. Sie haben einem Konjunktivsatz ein fettes Ausrufezeichen gegeben! Weil sie sich da vielleicht zu weit aus dem Fenster gelehnt haben könnten, haben sie dem Ganzen den notwendigen Nachdruck gegeben, indem sie ihre Idee mit einem gigantischem Protest begleitet haben. Der war dann alles andere als bescheiden. Der war von Weltruf, bestens gemanagt, echte schwäbische Qualitätsarbeit. Das war von solcher Dialektik, das sich noch heute der alte Hegel und der Architekt Paul Bonatz auf dem Wolkensteig 7 jeden Montag mit einem Viertele gegenseitig zuprosten.
Es ist ja auch toll, dass Budapest endlich eine Stunde näher an Stuttgart rückt. Das war schon immer im gesamten Schwabenland der allergrößte Geheimwunsch. Ansonsten halten wir alles andere um uns auf Distanz - bis hin zu massiven Auskreisungswünschen, wie sie die Stadt Reutlingen äußert. (Unter uns: In Wahrheit haben wir Berührungsängste, sonst besäßen wir doch die längste Theke und nicht die Düsseldorfer Altstadt. Und in Reutlingen müsste man nicht immer wieder solch ein Gedöns - das ist rheinisch für unnötigen Aufwand - machen, um die Leute in die heimischen Lokale zu locken.)
So - nun kommt allmählich der alte Herr aus Kalifornien ins Spiel.

Reutlingen, das globale Dorf und die Next Society

Vier Jahre vor seinem Tod machte er sich in einem 20 Druckseiten langen Artikel Gedanken über unsere Gesellschaft, genauer über die "nächste Gesellschaft". Da hatte er das Jahr 2030 und folgende im Visier. Seine Analyse war simpel, wie all seine Gedankengänge waren sie nicht so verschachtelt wie dieser Artikel, der mich immer wieder von einer Denkschachtel in die andere springen lässt.
Jedenfalls hatte er den demographischen Wandel vor Augen vor dem Hintergrund von Management und Stadtentwicklung. Ein Dreisatz.
Wenn wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten. Klar. Das ist ein No-Brainer - vor allem vor dem Hintergrund, dass wir nicht genügend Kinder in die Welt gesetzt haben. Wenn wir länger arbeiten, werden wir dies aber nicht unbedingt jeden Tag zwischen 9 und 17 Uhr tun, sondern individuell abgestimmt. Und wenn wir schon beim Abstimmen sind, dann werden wir, also die Älteren, die übrigens genauso dringend von den Jüngeren gebraucht werden wie umgekehrt, das auch nicht unbedingt in irgendwelchen Bürotürmen oder anderen Großraumschachteln tun. Entweder werden wir zuhause arbeiten, was nicht jedem gefällt, oder in Nachbarschaftsgebäuden - eine Idee, die aus einer anderen Schachtel kommt. 1980 hatte sie der Zukunftsforscher Alvin Toffler formuliert. In diesen leicht und bequem zugänglichen Gebäuden wird nicht nur eine einzige Firma ihren Sitz haben, sondern da werden sich etliche Unternehmen zusammentun, um ihren Leuten - das sind, hoffentlich, nicht nur wir Ältere - Arbeitsplätze einzurichten. Diese Gebäude müssen ja keine hässlichen Schachteln sein, sondern könnten sich wunderbar einpassen in die Umgebungen der Vororte und der Kernstädte. Es wäre eine Verdichtung von Wohnen und Arbeiten, von gegenseitigen Dienstleistungen in einem globalen Dorf.

Stadtplaner - die Manager unseres Alters

Was immer man von dieser Vorstellung denken mag, es ist zumindest mal eine Idee, die unsere Stadtplaner doch mit uns diskutieren müssten. Sie sind die Manager unserer Zukunft, der Zukunft unserer Stadt, unseres Lebensraums. Sie genießen das unglaubliche Privileg, über den unmittelbaren Nutzen, den Profit, hinaus über das - vor allem laut und öffentlich - nachzudenken, was eine Stadt lebenswert macht. Selbst wenn ein Gedanke sich nicht als umsetzbar erweist, wir, die Bürger, nehmen das nicht übel. Was wir übel nehmen, ist, wenn die Zukunft unserer Stadt ohne uns verhandelt wird. Da werden wir richtig sauer, das können wir nicht akzeptieren. Da sind wir sogar zum Protest verpflichtet, weil wir hier leben - und zwar deutlich länger, als dies bei unserer Geburt vorstellbar war (und sich die damaligen Stadtplaner haben vorstellen können).

Alles verschachelt und geschachelt: sogar der Platz

Managen heißt versorgen  - das war gestern.

Nun blicken wir auf unsere Stadt. Und siehe da! Überall entstehen Schachteln, sie wirken wie Gemeinschaftsgebäude. Unser Rathaus - die verschachtelste Schachtel überhaupt - ist ja geradezu der Prototyp. Hier fließen alle Interessen zusammen. Die Stadthalle, Arbeitsplatz für Künstler aller Art und Herkunft, hat nicht minder Wucht. Die Markthalle mit ihren unterschiedlichen Läden. Passt. Überhaupt die gesamte Obere Wässere - ein Schachtelparadies. Passt. Ärztehaus am Albtorplatz. Passt. Der künftige, allerdings vergiebelte Katharinenhof. Passt (fast). Die rundliche Müller-Galerie. Passt (fast). Der gebeulte Kronprinzenbau. Passt (fast). Die Kaiserpassage. Passt (fast). Überall wenn nicht äußerlich, dann aber zumindest innerlich verschachtelte Gebäude!
Ja, man könnte da einiges zusammenrechnen. Nur mit dem demographischen Wandel, der mehr bedeutet als die Versorgung von älteren Bürgern, hat das wenig zu tun. Das gilt auch für all die neuen Schachteln, die erst noch geplant sind und sich sogar hochkantig auftürmen lassen.
Ein 
Es stimmt natürlich: Je besser das Angebot in der Innenstadt ist, desto mehr Menschen, vor allem ältere, wird es ins Zentrum ziehen. Die Betriebe, die kein Publikumsverkehr brauchen, drängt es nach außen, in die Vororte, die jetzt noch von alten Menschen in viel zu großen Häusern besetzt sind. Da zeichnet sich eine gewaltige Umwälzung ab, deren Objekte wir sind, niemand anders, jeder von uns. Das ist nicht weiter schlimm, denkt man. So etwas können unsere Beamte und Profis managen. Dafür haben wir in Staat und Wirtschaft die richtigen Leute. Niemand muss wirklich umdenken. Managen heißt versorgen.
Das Problem ist nur: Dies löst keines unserer Probleme, sondern vergrößert sie nur.

Reutlingen im Algorithmus der Zeit

Das ist der Punkt, wo einer wie Drucker angreift. Was wir brauchen, ist ein neues Verständnis von Management. Ihn interessiert dabei nicht der Managementstil, sondern die Inhalte stehen im Vordergrund. Das Was ist gefragt, weniger das Wie.Und da gehen alle wie die berühmte Katze um den heißen Brei herum.
Was muss ein Unternehmen tun, um ältere Mitarbeiter zu halten oder gar zu gewinnen (nicht, wie noch vor wenigen Jahren, um sie rauszuekeln)? Dazu gehört zuallererst das Eingeständnis, dass man auf diese älteren Mitarbeiter angewiesen ist. Ein noch so eleganter Algorithmus umfasst niemals das komplexe Wissen eines erfahrenen Mitarbeiters, kann ihn aber höchstproduktiv unterstützen. Das gilt für Beamte ebenso wie für Angestellte und Arbeiter, für Akademiker ebenso wie für Handwerker. Sehr zum Nutzen des Unternehmens. Übrigens war es Drucker, der das duale Ausbildungssystem in Deutschland immer wieder gelobt hat. Gerade in den USA, wo die Geschäftsprozesse vor allem auf ungelernte Arbeitskräfte ausgerichtet sind, hat man die Bedeutung bis heute nicht begriffen. Unser strategischer Wettbewerbsvorteil.
Was muss eine Stadt tun, um diesen Unternehmen zu helfen, Arbeitsplätze für Ältere und nicht nur für Jüngere zu schaffen? Es ist mehr verlangt als der Bau von Ärztehäusern, Pflegeheimen und Barrierefreiheiten. Das ist am wenigsten ein Sozialprogramm, das ist vor allem ein Thema der Wirtschaftsförderung, des gemeinsamen Denkens und Lenkens.
Alle Institutionen könnte man jetzt hier durch deklinieren - vor allem diese Organisationen und Agenturen, die für Arbeitende und Arbeit zuständig sind. Vielleicht ist dies sogar ein Thema, das die Älteren selbst in die Hand nehmen sollten. Mit Leidenschaft. Aber ohne Mitleidsschiene. Mit professionellem Engagement. Nicht als Beschäftigungstherapie.
Kurzum: Wir müssen über Arbeit reden. Und das ist keine Schande.

Ob es uns gefällt oder nicht:
Wir, die Alten von heute und von morgen, sind die Zukunft

Eigentlich müsste dies ein leichtes Spiel sein. Denn hier in Reutlingen wird gerne gearbeitet. Es wird gut gearbeitet. Und jeder weiß, was zu tun ist, kennt seine Grenzen, pflegt schon deshalb die Kollegialität. Hier ist sich jeder sein eigener Manager. Superstars braucht man hier nicht. Wahrscheinlicher ist, dass die Manager in Staat und Wirtschaft selbst nach dem Superstar rufen werden, weil sie mitten in der Krise stecken.
Wir, wir allein haben mit dem Geburtenrückgang der letzten 40 Jahre entschieden, dass wir die Zukunft sind, ob uns das nun gefällt oder nicht. Deswegen werden wir - und erst recht die, die heute jung sind - länger arbeiten müssen. Machen wir uns da nichts vor! Auch wenn die kriegsgeschwächten Jahrgänge ein sehr langes Rentnerdasein genießen durften und dürfen, sie sind zumeist sehr früh und unter weitaus widrigeren Umständen ins Berufsleben eingetreten als wir, die Nachkriegsgeneration, die Babyboomer. Viele von ihnen engagier(t)en sich bis ins hohe Alter ehrenamtlich. Wie oft waren sie ganz einfach froh, endlich schaffen zu können - ohne Manager.
Peter F. Drucker war es übrigens, der lange vor allen anderen erkannte, dass das Ehrenamt weltweit der größte Arbeitgeber ist (nicht sein wird). Es ist keine Beschäftigungstherapie. Es ist längst lebensnotwendig.
Unsere Stadt wäre längst tot ohne das Ehrenamt. So verschachtelt sind wir. Und das ist vor allem unser Verdienst, nicht der Manager.

*Zur Person: Raimund Vollmer (64) ist seit 1973 Journalist und lebt seit 1981 als freier Journalist in Reutlingen. Er ist dreifacher Vater und dreifacher Großvater.

Bildertanz-Quelle: RV