Samstag, 31. März 2018

1990: ALS REUTLINGEN 900 JAHRE FEIERTE,...





... gab es überall Festumzüge. So auch in
Rommelsbach für den gesamten Nordraum, der erst seit den siebziger
Jahren des 20.Jahrhunderts zu der ehemaligen Reichsstadt gehört. Aber es
war ja nicht die Stadt die alle zu dem Fest vereinte, sondern es waren
die Bempflinger Verträge, mit denen 1089/1090 das Erbe "zwischen den
beiden Brüdern und Grafen Kuno von Wülflingen († 1092) und Liutold von
Achalm († 1098) einerseits und ihrem Neffen Graf Werner IV.
von Grüningen andererseits" geregelt wurde. So heißt es in der
Wikipedia, die uns allen in allen wichtigen Fragen sofort mit einer
Antwort zu Diensten ist. Auf jeden Fall sind damit viele der rund 54
betroffenen Orte erstmals urkundlich erwähnt worden. Wieder Nordraum
1990 feierte, seht Ihr in diesem mit einer Schmalfilmkamera
aufgenommenen Streifen. (RV)


 Besonders für:Altenburger, Degerschlachter, Oferdinger, Rommelsbacher und Sickenhäuser.

Freitag, 30. März 2018

2002: Bilder eines Jahrhunderthochwassers...

 ... in Altenburg...
 ... das inzwischen...
 ... sehr viel besser...
 .. geschützt ist...
 ... vor den Fluten...
 ... des Klimawandels...
 ...hier weiß man...
 ... seit Altersher...
 ... dass mit dem Wetter...
 ... nicht zu spaßen ist ...
 ... und vor bösen Überraschungen...
 ... niemals gefeit ist...
 plötzlich steht alles...
 ... unter Wasser...
 ... und nur noch ein Dächlein schaut hervor...
 ... am ende ist es dann...
 auch noch eine Schlammschlacht...
 aber irgendwann still ruht der See...
 ... und auf der Brücke sieht man das Treiben der Fluten...
und die Feuerwehr, die zur Wasserwehr wird. 
Bildertanz-Quelle: Bernhard Strehl, der das Hochwasser 2002 filmte und eine Kopie an Hans Weimar weitergab, aus der wir dann diese Bilder zogen.Bernhard Strehl starb vor einem Jahr. Er war ein leidenschaftlicher Filmer.

Samstag, 17. März 2018

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 3): Die Stadt als Kunstwerk


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Alter Stadtplan von Reutlingen

2018: »Wer wird beim Wettlauf zwischen der menschlichen Intelligenz der Gesellschaft und der Künstlichen Intelligenz des Staates auf Dauer siegen?«

Frage in der FAZ zur Situation in China, sie könnte auf Dauer aber auch auf Reutlingen zutreffen[1]

Vorbemerkung: Wer diesen Beitrag liest, sollte davon ausgehen, dass sich die Zahl der Nettigkeiten sehr in Grenzen hält. 

Städte sind nicht nur die größten künstlichen Geschöpfe des Menschen, sie sind auch die intelligentesten, die größte Ansammlung von Wissen, Denken und Kreativität. Hier funktioniert alles. Nach Plan. Hier ist alles geregelt. Nach Vorschrift. Hier ist alles Menschenwerk. 
Vor allem aber ist die Stadt ein Kunst-Werk. Wirklich?

"Nach zwanzig Jahren Wiederaufbau regen sich in der Bundesrepublik leise Zweifel, ob die Gleichung 'Neu = Gut' wirklich immer ohne Rest aufgeht", schrieb 1974 die Wochenzeitung "Die Zeit".[2] Wenige Monate später fragte sich in dem selben Blatt der SPD-Politiker Frank Dahrendorf, ob "unsere Städte" überhaupt noch "regierbar sind?" Er bejaht dies deutlich, aber er weiß auch: "Bis weit in die sechziger Jahre hinein waren in vielen Städten die Bürgermeister die prägenden Persönlichkeiten. Ihre Autorität war unbestritten." 
Oberbürgermeister Kalbfell und Bundespräsident Theodor Heuss
In der Tat - die Herrschaften bestimmten alles. Auch in Reutlingen, das mit Oskar Kalbfell einen lange Zeit sich völlig unumstritten wähnenden und dabei durchaus selbstherrlichen Oberbürgermeister (1945-1973) besaß.

Die städteplanerischen Fragen von damals waren zwar dieselben wie heute, doch sie wurden in der Tendenz so beantwortet, dass sie der Vergangenheit widersprachen. Weg mit dem Alten, dem Hergebrachten! Alles neu! 
Mitte der siebziger Jahre waren die Antworten jedoch nicht mehr so klar, fragten die Fragen sich in Alternativen. Dahrendorf: "Wie soll der immer wieder angeführte Lebensraum der Bürger aussehen? Soll lieber in die Höhe gebaut werden oder in die Breite, lieber auf der grünen Wiese oder in der inneren Stadt? Wünschen wir uns eine autogerechte Stadt, oder wollen wir öffentliche Verkehrsmittel bevorzugen? Welches Schulsystem ist richtig und welche Zahl von Hochschuleinrichtungen? Soll eine Stadt der Industrie oder des Handels oder der Dienstleistungen entstehen?" [3]

Alles gute Fragen - aber wir, in deren Namen sie gestellt wurden, durften niemals eine Antwort darauf geben. Das taten andere, das taten die, die uns verwalteten, nicht mehr autokratisch, sondern technokratisch.  Diese Technokraten, vor denen alles gleich ist, waren vornehmlich "die Skeptiker, die ästhetisch Unempfindlichen, die phantasieverachtenden Pragmatiker, die auf Zuwachsraten programmierten Ökonomen, die von der Rezession geschockten Kämmerer", schreibt 1975, im Jahr des Europäischen Denkmalschutzes, Hartwig Beseler, Landeskonservator von Schleswig-Holstein. "Sie sind nicht böse, sie sind oft gebildet, sie sind gelegentlich freundwillige Gesprächspartner."[4] Sie sind damals wie heute die Menschen mit Macht. Was sie wollen, geschehe! Was sie dulden, bleibe! 
Ein Oligopol trat an die Stelle des Diktators. Und nun kommt die Informatik.

Dem Oberbürgermeister nachkriegszeitlicher Prägung stand anfangs noch der Stadtbaumeister zur Seite, eine ähnlich allmächtige Figur, deren ästhetischem und künstlerischem Urteil sich der Stadtrat respektvoll beugte. Doch schon bald konkurrierte eine neue Planungsgeneration mit diesem Dinosaurier und besetzte die Schalthebel der Gestaltungsmacht. Sie konzentrierte ihr Wissen nicht mehr in einem Kopf, sondern verlangte das Zusammenspiel vieler Fachrichtungen. Die Stadt wurde interdisziplinär verplant. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf: die Entdeckung der grünen Wiese:  "Hochhäuser, auf dem Kartoffelacker zehn Stockwerke hinauf in den Himmel gebaut, Einfamilienwohnheime, tausendfach einfältig wie zum Aufmarsch in einst liebliche Täler gesetzt, Autoschlangen und ganze Gebirge von Bürogebäuden, die dem Leben in den Städten den Atem nehmen", beschrieb ebenfalls 1975 die prominente Journalistin Sybille Krause-Burger den Wandel, der sich mit den sechziger Jahren endgültig seine Bahn gebrochen hatte. Architekten mussten fortan "gemeinsam mit dem Verkehrsingenieur, mit Volkswirten und Soziologen, mit Landschaftsgestaltern, Klimatologen und Verwaltungsfachleuten um vernünftige und machbare Konzeptionen" ringen.[5] Das Ergebnis sehen wir überall. Nicht nur in Reutlingen. Die Städte hörten auf, Kunstwerke zu sein. Die Funktion übernahm endgültig nicht nur die Form, sondern auch jegliche Form von Individualität und Kreativität. 
Reutlinger Hochhäuser im Morgennebel

Der belgische Historiker Henri Pirenne machte vor vierzig Jahren auf etwas aufmerksam, was mit Sicherheit im Mittelalter nicht nur für das reiche Flandern galt, sondern auch für unsere Region. Städte seien untereinander kettenartig verbunden, nicht mehr als zwanzig oder dreißig Kilometer entfernt, was damals einem Tagesmarsch entsprach. Und es waren nicht Großstädte, sondern eher kleine Städte, bei denen, wenn man die eine verlässt, bald die andere am Horizont auftaucht. Es war ein Netzwerk voller künstlicher Welten, Knotenpunkte des Fortschritts und Zentralpunkte der Bürgerlichkeit.
"Deutschland und ganz Europa sind mit Hunderten dieser kleinen Orte übersät", deren Ursprünge bis in die Jungsteinzeit zurückgehen - bis in die Zeit vor 12.000 Jahren. "Sie waren innen in Straßen organisiert, die die Engländer für englisch, die Franzosen als ihrem eigenen mathematischen Sinne gemäß, die Deutschen als 'echt deutschen Typ' besonders in der ostdeutschen Kolonialstadt empfanden", meint der Kulturkritiker und Philosoph Eberhard Schulz (1929-2010).[6] Jede Stadt war ein eigenes Kunstwerk, bestimmt von der "Kunst der Überraschung" (Schulz), die sich bei jedem Gang durch die verwinkelte Stadt immer wieder zeigte und nicht mit dem "steinernen Meer der Großstadt", in der alles verschwindet, zu vergleichen war. In den Kleinstädten blieb über alle Gestaltungsebenen hinweg das "menschliche Element" erhalten. Heute hat man oftmals den Eindruck, dass dieses Element verschwunden ist - aus Kunst wurde Künstlichkeit. 


Mit der Industrialisierung und dem endgültigen Fall der Stadtmauern im 19. Jahrhundert nahmen die Kommunen eine Größe an, die zum Beispiel im Ruhrgebiet alle Abstände zwischen den Kleinstädten aufhoben. Die Stadt wurde zum Moloch, zur Megapolis, der nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg jede Chance genommen wurde, einen neuen, eigenen Charakter zu entwickeln. Dem blieb als letztes Reservat nur noch der Fußball, der Gelsenkirchen oder Dortmund jeweils zur "verbotenen Stadt" erklärte. Ansonsten sind die Städte austauschbar. Sie verloren ihre individuelle Bestimmung.

Und Reutlingen? Der kommissarische Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, Chef aus Gnaden der Franzosen, ergriff 1945 die Chance, um mit der Vollmacht einer Besatzungsmacht das Stadtgebiet um Pfullingen, Eningen, Unterhausen und um all die Dörfer ringsum zu erweitern. 1949 zerbrach zwar wieder dieses Gebilde am Widerstand der alten, selbständigen Kommunen, aber heute wäre dieses Reutlingen mit rund 160.000 Einwohnern längst ein eigener stolzer Stadtkreis. Niemand hätte da irgendwelche Zweifel. Reutlingen wäre sich selbst genug.

Tübingen wird bestimmt von den Lehrenden und Lernenden, Metzingen von Handelnden und Kaufenden, Bad Urach von Pflegenden und Genesenden - alles, was um uns herum ist, hat irgendwie seine Bestimmung gefunden. Stuttgart als Landeshauptstadt sowieso, das sich virtuell, wirtschaftlich und funktional alle Kleinstädte rundum einverleibt hat. Stuttgart wirkte - bis "Stuttgart 21" - komplett selbstbestimmt. Doch da musste es erleben, dass andere bei der Planung und dem Bau des Jahrhundertbahnhofs mitbestimmten - nicht nur Regierungen, die in der Hauptstadt ihre Residenz haben, sondern die Bürger aus ganz Baden-Württemberg. Seitdem wirkt Stuttgart nicht mehr sehr selbstsicher, eher unbestimmt. Wie unsere Stadt. Wie Reutlingen.

Württembergische Philharmonie: Bei der Einweihung der Stadthalle am 5. Januar 2013

Reutlingen hat keine Bestimmung. Sie galt mal als die Stadt der Millionäre, aber das ist ja keine Bestimmung, sondern allenfalls ein Ergebnis. In Bad Homburg mag es Bestimmung sein, Millionär zu sein, um dort als Bürger überhaupt leben zu können. Reutlingens Bestimmung war mal die Arbeit, das Schaffen, das Handwerkliche, das Gewerbliche. Daraus bezog es seine Kraft, auch in der Weigerung, sich vom Nationalsozialismus einfach schlucken zu lassen. Heute wirkt alles eher ungewiss. Und so probiert sie dies, und so probiert sie das. Mal versteht sie sich mit ihrer Stadthalle und ihrer neuen "Tonne" und besonders mit ihrer Philharmonie als Kulturstadt. Aber das ist sie nicht, keiner kommt von weit her wegen der Kunst, allenfalls die darstellenden Künstler selbst. Wegen des Geschäfts. Auf Tournee. 
SSV: Aus größeren Zeiten

Kulturstadt ist Reutlingen allenfalls gemessen an ihrer eigenen Entwicklung, was natürlich fast schon - zugegeben - eine boshafte und arrogante Bemerkung ist. Ein Technologiezentrum möchte unsere Stadt auch sein - mit Bosch als Magnet. Doch dieses Großunternehmen findet inzwischen Dresden attraktiver, eine Tatsache, die wir zu verdrängen suchen und nach anderen "hidden champions" forschen. Dann möchte sich Reutlingen als Hochschulstadt profilieren, rühmt sich irgendwelcher Ranglisten, die Freunde von mir aus anderen Städten veranlassten, mir spöttische Botschaften zu schicken. (Es waren übrigens keine Tübinger.) Mich hat's geärgert, dass mir bei einem Versuch, die Hochschule zu verteidigen, sehr schnell die Argumente ausgingen. Ach ja, da ist noch der SSV. Beim Fußball ist die Geschichte größer als die Gegenwart. Leider.

Da kann man durchaus verstehen, dass sich diese Stadt nun bemüht, aus sich eine Marke zu kreieren. Aber diese Marke, wie immer sie aussehen mag, gibt der Stadt noch keine Bestimmung. Doch bei aller Kritik an der Oberbürgermeisterin Barbara Bosch muss man ihr eins zugutehalten: sie besitzt den Mut, dieses heiße, heikle Thema anzupacken, auch wenn sie es falsch verpackt. Es geht nicht um die Marke und Marketing, es geht um Bestimmtheit und Bestimmung. Es geht um Identität. Das ist - mit Verlaub - ein Jahrhundertprojekt, das lässt sich nicht einfach in wenigen Monaten brandmeyern. Wie so oft in dieser Zeit, geht dieser unbedingte Wunsch, modern sein zu wollen, genau an der Sache vorbei, derer man sich eigentlich annehmen wollte. Das Marketing ist dafür da, Marketing zu verkaufen - ohnehin schon eine Perversion.  Aber so ist vieles. Und das ist es, was es so schwierig macht, Identität zu stiften. Eine Stadt ist vor allem ein Kunstwerk - ohne dass man es großartig erwähnen muss. Gutem Marketing sieht man auch nicht an, dass es Marketing ist. 

Ein solches Kunstwerk, wie es eine Stadt ist und einzigartig macht, kann man nicht einfach zu Ende denken. Es übersteigt in seinem Werden alle Amtszeiten eines einzelnen Oberbürgermeisters. Vielleicht ist dies der Grund, dass man dann auf das Instrument der Künstlichkeit zurückgreift. Diese lässt sich herstellen. Die Stadt als  Kunstprodukt, kein Kunstwerk. 
Es ist wie bei der Intelligenz, die neuerdings dann hoch im Kurs ist, wenn sie künstlich ist - und nicht menschlich.

Umweltschutz ist, obwohl es vorgibt, die Natur im Auge zu haben, nichts anderes als ein probates Kunstprodukt. Man kann hier alles wissenschaftlich begründen, alles lässt sich messen und vergleichen. Ja, man kann ihm sogar mit Gesetzen und Vorschriften zur Herrschaft verhelfen - zur Herrschaft über alles. Wir basteln am Pflichtenheft der Zukunft, die wir dann nur noch programmieren müssen - eine Fertigkeit übrigens, von der unsere Politiker meinen, dass sie zur Bildung gehört. Welch ein Zynismus! 


Auf jeden Fall ist der Umweltschutz heute ein Feld, auf dem man eine neue Form von Herrschaft wunderbar ausprobieren kann.
Schon deshalb gilt er auf fatale Weise als modern. 

Neuerdings könnte man meinen, dass sich Stuttgart und Reutlingen  durch diese neue Welt, durch den Umweltschutz, zu definieren versuchen. Beide Städte kommen aus dem Dreck, den keiner sieht, aber den die, die formal mehr Autorität besitzen als diese Städte selbst, minutiös gemessen zu haben erklären. Die Städte sind die Sünder, die sich nun in Engel verwandeln dürfen. Sie müssen nur gehorsam sein.

Beide Städte flüchten so mehr oder minder gerne unter eine geliehene, auf reiner Wissenschafts gründende Autorität, um Dinge durchzusetzen, die der Bürger offenbar nicht versteht, geschweige denn beurteilen kann. Und das lässt man ihn spüren - obwohl man ja selbst nichts anderes ist als gehorsam: gegenüber der EU-Kommission, gegenüber dem Regierungspräsidium, übrigens einer Institution, die auf Ernennung basiert, nicht auf Zustimmung durch die Beherrschten. Die, die uns zu beherrschen behaupten, sind selbst nur Befehlsempfänger. Ein trauriges Bild, das sie mit drakonischen Maßnahmen zu verdecken versuchen.

So scheint dass, war vordergründig wie eine Demonstration von Macht wirkt, in Wahrheit eine Demonstration von Ohnmacht zu sein. Wenn man dann bedenkt, dass alles, was heute getan wird, uns seit vierzig Jahren beschäftigt, nur dazu geführt hat, uns mit noch mehr Vorschriften zu konfrontieren, dann wird man sehr nachdenklich. Wenn wir uns heute gar am Rande des Fahrverbots bewegen, dann könnte man sich fragen, wohin das alles noch führen wird. Geht es wirklich nur um den Umweltschutz? Oder wird da etwas ganz anderes eingeübt?

Die Reaktion auf ein paar freche Bildertanz-Plakate auf Facebook lassen da Zweifel aufkommen. Die Maßnahmen werden von den Lesern als unsinnig und unglaubwürdig empfunden. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es darum geht, uns - die Bürger - nur noch als Einwohner wahrnehmen zu lassen. Und indem wir nicht mehr wählen gehen, bestätigen wir dies auch noch. Wir nehmen unsere eigenen Rechte nicht mehr wahr.

Denken wir uns als Einwohner einmal zu Ende!

Dann sind wir nur noch dumme Untertanen, eingebettet in eine Welt voller Vorschriften zu allem, was wir tun. Eine Welt der Vorschriften ist wie geschaffen für Software, für die Welt der Algorithmen und Befehlssätze. So entsteht der Verdacht, dass genau daran gearbeitet wird. Vor allem in Kombination mit der Künstlichen Intelligenz.

Wie keine andere Lebenswelt ist es die Stadt, die sich als Experimentierfeld anbietet. Sie war Kunstwerk, sagen die Historiker. Sie ist heute nur noch Künstlichkeit, sagen die Stadtplaner. Sie ist morgen Künstliche Intelligenz, verheißen händereibend die Informatiker. Ihnen wächst alle Macht zu - um dann in völlig fremde Hände überzugehen.

"Soft Artificial Intelligence ist plötzlich überall", eröffnete im November 2014 das US-Magazin Vanity Fair einen Grundsatz-Artikel über KI. Der Autor, Kurt Andersen, beschreibt darin eine Zukunft, in der wir, die Menschen, von Maschinen abgelöst werden, von Maschinen, die intelligenter sind als wir. Wann das geschehen wird, ist unklar - und doch irgendwie zeitlich umrissen: in den nächsten 20 bis 100 Jahren. Dabei ist nicht nur entscheidend, wann Maschinen intelligenter sind als wir, sondern auch der Zeitpunkt, von dem aus sich die Künstliche Intelligenz ohne unser Zutun selbst verbessern kann. 
Warum aber sollen wir überhaupt diesen Weg gehen? Um eine  Antwort zu finden, müssen wir 200 Jahre zurückblenden. 

"Im XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die große Crisis zu: die moderne Cultur", erkannte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr ausgerichtet sei. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz. Die "moderne Cultur" hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung. Jetzt siegt das Profane, das Professionelle. Alles werde "zum bloßen business", meint Burckhardt, "wie in America". Die Wirtschaft, also die neue auf Konsum gerichtete millionenfach entfesselte Kultur, übernimmt mehr und mehr den Staat.[7] Mit dieser Entwicklung rückt das Individuum in den Vordergrund - aber nur in seiner erbärmlichsten Gestalt: als Konsument, als Verbraucher. Dabei müssen wir feststellen, "dass wir der Frage nicht länger ausweichen können, was wir hier auf Erden tun und wie wir die erdrückende Last der Dingwelt ertragen können, nachdem wir jegliches tiefere Schicksalsbewusstsein verloren haben", bemerkte einmal der große französische Schriftsteller Eugène Ionesco (1909-1994).[8]

Es ist also die Kommerzialisierung aller Lebensverhältnisse, die uns auf diesen Weg zu zwingen scheint. Aber ist der Konsum wirklich das Thema, das uns vollkommen beherrscht? 
Dies ist kein Votum gegen die Wirtschaft, kein Votum gegen den Konsum, es ist auch kein Votum gegen die Technik, sondern gegen deren Monopolansprüche. Die Stadt hat sich immer durch den Menschen definiert. Hier wurde er frei. Sie ist heute aber der Ort, an der er - durchaus selbstverschuldet - am ehesten diese Freiheit verlieren könnte. Und zwar genau durch die Instrumente, die ihn heute in die Stadt locken: die Wirtschaft und die Technik.

Und damit nähern wir uns der entscheidenden Frage: Sind wir die Herren der Welt, oder haben unsere Schöpfungen längst das Kommando über uns übernommen - in einem Prozess, der vor 200 Jahren begann und der in diesem Jahrhundert seinen Kipppunkt erfahren wird? Ist gar nicht die Unumkehrbarkeit des Klimawandels und damit die drohende Vernichtung der Erde unser größter Problemfall, sondern die Informatik, vor der Übermacht sich die Menschheit retten muss?

Vielleicht müssen wir, die wir in der Stadt leben, nur zwei Schritte zurückgehen und die Stadt wieder als ein Kunstwerk verstehen - als die größte von Menschen geschaffene Schöpfung. Diese Schöpfung basiert auf Vordenken, nicht - wie die Computer - auf Vorschriften.

Anders formuliert: Machen wir uns die Computer untertan. 
Gerade weil die Bestimmung und Bestimmheit unserer Stadt so wenig festgelegt ist, könnte sie diese Chance nutzen, sich selbst und ihren Bürgern die Souveränität zurückzuerobern. 
Reutlinger sind rebellisch, urteilten dereinst Könige. Wahrscheinlich bleibt dies unsere Bestimmung.


[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2018: "n=Xi2
[2] Die Zeit, 29. März 1974, Horst Bieber: "Bataille um eine Brücke"
[3] Die Zeit, 15. November 1974, Frank Dahrendorf: "Die Autorität zählt nicht mehr"
[4] Die Zeit, 17. Januar 1975, Hartwig Beseler: "Die Zukunft der Vergangenheit"
[5] Die Zeit, 2. Oktober 1975, Sybille Krause-Burger: "Teamwork ist das Gebot der Stunde"
[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni 1975, Eberhard Schulz::"Die Internationale der Kleinen Städte"
[7] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 1998, Peter Dietrich: "Die große Macht ist die Gesellschaft"
[8] Martin Esslin, 1965, "Das Theater der Absurden", Seite 111, danach zitiert
 
SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen

Mittwoch, 14. März 2018

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 2): Die Maschinenstadt

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Amsterdam - Schaubild im Stuttgarter Hauptbahnhof: Stadt ohne Autos?
 »Ich behaupte dreist: Jede Industrie im Staate,
die der Staat nicht selbst lenkt,
ist der Beginn des Untergangs dieses Staates selbst.«

Friedrich List (1789-1846), Reutlingens berühmtester Sohn



Riesige Parkanlagen umsäumen die Stadt. Es ist das Jahr 2040. Reutlingen ist endlich ein eigener Stadtkreis - und diese Parkanlagen stehen genau dafür. Sie wirken wie ein gewaltiger Stadtgraben, plattgemacht zwar, wie zwei Jahrhunderte zuvor der Ledergraben. Aber diese Parkgürtel hat dieselbe Schutzfunktion wie dereinst der Ledergraben. Statt Feinde wehrt er Feinstaub ab.

Damit kein Missverständnis entsteht: Es sind Parkanlagen zum Parken - und sie umgeben die Stadt in einem Abstand von fünf bis acht Kilometer von der alten Kernstadt. Die landwirtschaftlich genutzten Grüngürtel, die noch vor 20 Jahren die eingemeindeten Dörfer Reutlingens voneinander und zur Stadtmitte trennten, wurden alle bepflastert, aber so, dass immer noch üppiges Gras zwischen den schön ebenerdig verlegten Steinen wachsen kann. Hie und da sprießt sogar Löwenzahn. Aber lange kann er sich nicht halten. Denn morgens kommen aus dem Umland Tausende von Elektroautos angerollt, suchen sich vollautomatisch ihren Parkplatz, nachdem sie ihre Passagiere, Menschen wie Du und ich, an den Kleinbushaltestellen abgesetzt haben.

Alles funktioniert wie am Schnurbaumschnürchen. 

Privater Individualverkehr jeglicher Art ist innerhalb der Umwelt-Zone Reutlingens verboten. Alles, was sich hier elektrisch auf vier Rädern bewegt, ist öffentlich. Der RSV - der Reutlinger Selbstfahr-Verkehrsbetrieb - steuert alles. Per Satellit. Per Mobilfunk. Per Induktionsspur, die zum Beispiel in die Lederstraße hinein gefräst wurde. Wenn die Kleinbusse darüber fahren, werden ihre Batterien automatisch aufgeladen. Am Südbahnhof wurde sogar eine automatengesteuerte Akku-Austausch-Station eingerichtet. Das Ganze nennt sich REX (Robot EXchange). Bislang war die Stadtverwaltung noch nicht davon abgekommen, sich angelsächsischer Wortschöpfungen zu bedienen, nachdem man sogar innerhalb der Behörden begonnen hatte, Englisch als Geschäftssprache einzuführen. Allerdings mit einem deutlich hörbaren schwäbischen Akzent.

Englisch wird endlich schwäbisch. 
Wie alles begann: 2018


Dem RSV gehört alles, was sich durch die Stadt bewegt und durch das Strom fließt. Damit hat man den "Uber-Fall" elegant abgewehrt. Der Amerikaner wollte sich nämlich diese Pfründe ursprünglich sichern, wurde aber kartellrechtlich in die Schranken verwiesen. Der RSV allein hatte den Anspruch, als ein "natürliches Monopol" anerkannt zu werden. Der Grund: Nur so war garantiert, dass die Stadt über sich selbst die Kontrolle behalten konnte. Zu tief saß noch der Schock in manchen Kommunen, die ihre Infrastrukturen im "Sale & Lease-Back"-Verfahren an amerikanische Heuschrecken verkauft hatten und anschließend feststellen mussten, dass sie noch nicht einmal die kleinsten Veränderungen an ihren Bussen und Bahnen vornehmen durften, ohne vorher die Genehmigung des Leasinggebers in den USA oder auf den Cayman Islands einzuholen. Stadtkämmerer traten die Schweißperlen auf die Stirn, wenn sie von der Öffentlichkeit aufgefordert wurden, die Bedingungen zu erklären, unter denen man seine Infrastruktur ans Ausland verhökert hatte. Reutlingen war dies zum Glück erspart geblieben. Man muss ja nicht alle Dummheiten mitmachen.

Sogar der gesamte Zulieferverkehr wird vom RSV geregelt und zwar über eigene Elektro-Sprinter, die täglich die Logistikzentren am Rande der Stadt anfahren, um dort von Riesenlastern angelieferte und zwischengelagerte Waren abzuholen und in die City zu bringen. Natürlich basiert dies alles auf vollautomatisierten Verfahren. Menschen sind hier grundsätzlich Unbefugte. Software bestimmt alles. Autos, Roboter, Drohnen - sie alle gehören zusammen, bilden eine wunderbar funktionierende Stadtmaschine.

Reutlingen ist ein Vollautomat. Eine Stadt unter Strom. Eine ehemalige Reichsstadt, die sich endlich wieder selbst kontrolliert - zumindest gilt dies seit der Auskreisung.

Mehr noch: Endlich wurde ein uralter Traum erfüllt, obwohl er mehr ein Maschinentraum als ein Menschheitstraum war.

Alles, was in den letzten zwanzig Jahren in Reutlingen geschehen war, ließ sich auf die Philosophie von Friedrich List zurückführen. Irgendwie jedenfalls. Er musste für alles herhalten, was die Stadt tat. Aber eigentlich stand ein älterer Zeitgenosse des Schwaben hier Pate: Adam Smith, der Mann, der den Kapitalismus erfand. 

Dieses Wirtschaftssystem, das Adam Smith sich ausgedacht hatte, nannte der britische Philosoph David D. Raphael einmal eine "imaginative Maschine".[1] Genau das war Reutlingen geworden. Die Stadt war längst eine Miniatur-Version des "Maschinenstaates", zu dem Friedrich der Große (1712-1786) sein Preußen umgestalten wollte. Reutlingen, diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Industriestadt, hatte sich bis 2040 sukzessive in eine "imaginative Maschinenstadt" verwandelt. Fortschritt total. Vor allem aber war RT ein Symbol für eine geniale "digitale Transformation" geworden. Eine Stadt, die sich in all ihren Tätigkeiten komplett auf einer Festplatte simulieren ließ - synchron zu den Ereignissen in der Realität, ihnen zumeist sogar vorauseilend, auf jeden Fall immer auf der Höhe der Zeit.

Der amerikanische Zukunftsdenker Raymond Kurzweil, der Mann, dessen Visionen weit in dieses Jahrhundert hineinragen, schrieb 1986: "Während des 18. Jahrhunderts wurden Wirtschaft und Gesellschaft durch die Einführung der Maschinen komplett umgestellt. Maschinen, die unsere natürlichen Begabungen erweitern, multiplizieren und aushebeln konnten. Daraus ward die Industrielle Revolution."[2]

Mit ihr durchdrang die Technologie fürderhin alles. Wirtschaft, Staat, Gesellschaft, Individuum - und Reutlingen.

2040 ist es soweit. Dann haben wir einen Punkt erreicht, der heute schon einen Namen hat: Singularity.

Aber das ist eine andere Geschichte, die aus der Zukunft kommt.



[1] Die Zeit, 17. Mai 1991, Nikolaus Piper: "Adam Smith war anders", danach zitiert
[2] Computerworld, November 3, 1986: "The Scond Industral Revolution"
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer


SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk 
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen

Dienstag, 13. März 2018

Solidarität mit der Lederstraße: Vorschlag für Aufkleber




Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer

Reutlingen - zu Ende gedacht (Teil 1): Eine Stadt ohne dich



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Karlsplatz vor 110 Jahren: Wird er eines Tages wieder so leer sein wie damals? Ein Sand-Platz für Kinder?


Früher, als ich noch glaubte, dass der Fortschritt ein Fortschritt sei, dachte ich, dass alles, was mich heute umgibt, in zehn oder zwanzig Jahren ein Museum sein werde. Und du, der du mitten im Leben standest, solltest deshalb jeden Augenblick genießen. Denn das könnte alles bald vorbei sein. Es wäre nur noch eine Erinnerung, irgendwie festgehalten in der unnatürlichsten aller Umgebungen - in einem Museum oder auf einem Bild, einem Foto. Beides kann niemals das Original sein, noch nicht einmal eine Nachahmung, sondern immer nur ein für alle Zeiten konservierter Ausschnitt.

Heute weiß ich, dass es genau anders herum ist. Ich bin es, mit dem es in zehn oder zwanzig Jahren vorbei ist. Ich bin der Ausschnitt, mich kann das Schicksal jederzeit herauslösen. Wohin, das weiß ich nicht. Ich wäre allerdings überrascht, wenn es kein Leben nach dem Tode gäbe.

So wird es auch mit dieser Stadt gehen, die ich am 5. Oktober 1970 zum ersten Mal sah, nicht weil ich da geboren wurde, sondern weil ich sie zum ersten Mal besuchte. Es war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal mit dem schönsten Museumsstück dieser Stadt fuhr - mit der Straßenbahn. Noch bevor ich dann im Juli 1975 ins Schwabenland zog, war Schluss mit der Elektrischen. In Reutlingen sollte nie wieder die Straßenbahn auftauchen - noch nicht einmal als Museumsstück. Das hatten sich die Pfullinger gesichert. Ausgerechnet die Pfullinger, die damals ihre Innenstadt komplett sanierten, hatten an die Zukunft der Vergangenheit gedacht - und sich einen Zugwagen nebst Anhänger gesichert. Der sanierte sich in einem ehemaligen Farrenstall still vor sich hin.

Damals ahnte ich nicht, dass ich es sein durfte - und darauf bin ich bis in die letzten Spitzen meiner nicht gerade geringen Eitelkeit stolz -, der 2012 die Straßenbahn zurück in die Innenstadt Reutlingens bringen durfte. Alles hatte ich organisiert. Das Geld. Das war vor allem die Volksbank. Den Wagen: der Brauchtumsverein Pfullingen. Den Transport: Kranverleih Vogel. Die Bewirtung: das Café Sommer. Es kam sogar zu einem Treffen zwei Bürgermeister. Der Hess auf Pfullingen und der Hahn aus Reutlingen. 
Die Straßenbahn ist da: 7. Juli 2012 - Bildertanz-Quelle: CBV

Und wie immer, wenn die Öffentlichkeit sich selbst herstellt, wenn aus einer guten Tat nichts anderes als PR wird, feierten sich die anderen, aber den, der die Idee hatte und durchsetzte, natürlich nicht. Man könnte ja auf falsche Gedanken kommen! Seitdem weiß ich, eitel dürfen immer nur die anderen sein. Für jemanden, der Eitelkeit als Motiv hat, eine bittere Lektion.

Ganz allmählich - und es hat wirklich lange gedauert, was eigentlich an mir selbst unüblich ist - dämmerte mir, dass ich all das, was ich tue, wo ich bin oder nur sehe, mir so vorstellen muss, als gäbe ich mich überhaupt nicht. Es sei also eine Welt ohne mich. Und je älter man wird, desto realistischer wird das. Denn du weißt einfach nicht, wie lange du noch lebst, geschweige denn, dass du den Tag kennst, an dem du stirbst. Aber - um einen Lieblingsspruch der Comic-Figur Snoopy zu benutzen - möchte ich sagen: "Eines Tages werden wir alle sterben, aber an allen anderen Tagen nicht."

Wie ist das nun mit Reutlingen? Können auch Städte eines Tages sterben - und an allen anderen Tagen nicht?

Eine gute Frage, eine blöde Frage! Ohne Frage, kein Politiker käme auf die Idee, sie zu stellen, außer aus dem Wunsch, seine eigene Großtaten und Absichten vor dem Hintergrund eines möglichen Untergangs umso deutlicher herauszustellen. 
Horrorvisionen sind nun mal die beste Kulisse für jede Form der Manipulation. Sie sind das stärkste Machtinstrument. Aber man muss sie auch gut in Szene setzen können. Weil das nur die wenigsten Politiker können oder sich trauen, gibt es noch einen Plan B. B wie Bürokratie. Und die hat bisher noch jede Situation zu Ende gedacht. Ja, das ist ihr genialer Trick, ihre Daseinsberechtigung: Alles, was sie tut, alles, was sie plant, betrachtet sie vom Ende aus - nur nicht ihr eigenes. Natürlich nicht. Denn die wichtigste Aufgabe jeglicher Bürokratie ist es, sich selbst zu erhalten. 
Staufrei, aber nicht staubfrei: der Ledergraben vor 110 Jahren

Nun stehst du da als Bürger dieser Stadt, einer von 120.000 Menschen in dieser Stadt, und denkst dich selbst zu Ende - nicht als Selbstmordgedanke, sondern als eine durchaus realistische Möglichkeit. Wie sieht diese Stadt aus - in zehn, zwanzig oder 30 Jahren, wenn es dich nicht mehr gibt. Das könnte doch ein spannendes Gedankenexperiment sein.

Schwuppdiwupp - stecke ich schon mitten in der Zukunft. Aber sie kommt als Vergangenheit daher, aus einer Zeit, in der es mich auch nicht gab. Noch nicht. Und Euch, liebe Leser, die ihr schon bis zu diesem Lesepunkt auf mich reingefallen seid, Euch gab es auch nicht. Noch nicht.

Ich sehe ein Bild for mir, dass Ihr alle kennt: den leeren "Karlsplatz", den es unter diesem Namen noch nie gab und wohl nie geben wird. Ich sehe den leeren Ledergraben. Ich sehe ein Welt ohne Autos. Sie sind verschwunden. Viele Menschen sind auch nicht unterwegs. Man spürt die Öde einer Stadt, die - egal, wie mondän und elegant die Häuser sein mögen, wie sehr die Schornsteine andererseits herumnoxen - stinklangweilig ist. Nichts ist da von der Urbanität einer mobilen, agilen Stadt, wie sie auf diesen Bildern ja erst noch werden soll.

Doch nun, nachdem Reutlingen zum erlauchten Kreis der verrauchtesten Städte Deutschlands gehört, soll der Verkehr solange verlangsamt werden, bis alles steht und dann - für manche der höchste Triumph - schließlich alles verschwunden ist. In zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Siehst du, denkst du, der Fortschritt ist doch ein Rückschritt - jedenfalls dann, wenn es eine Stadt ohne dich ist, so wie vor 120 Jahren, als es dich noch nicht gab.

Und damit deine Eitelkeit einen deutlichen Dämpfer bekommt, fällt dir ein, dass die Zeit, in der Reutlingen am lebendigsten war, in dem Augenblick zu Ende ging, als du erstmals hierher kamst und schließlich hierher zogst. Zwischen 1970 und 1975. Da fegte der Strukturwandel die gesamte Textilindustrie hinweg, Reutlingen fraß sich an den Eingemeindungen satt, die Straßenbahn verschwand, die Schmuddelecken wurden zu Tode saniert. Kurzum: Es wurde alles schöner und öder.

Vielleicht geht es Reutlingen am besten ohne dich. Du bist an allem schuld.
PS. So hatte ich mir das aber nicht gedacht. Ich habe das wohl nicht zu Ende gedacht. Am besten fängst du noch mal neu an mit dem Zuendedenken!

Bildertanz-Quelle:Fritz Haux (historisch)

SERIE: REUTLINGEN ZU ENDE GEDACHT
Teil 1: Stadt ohne dich
Teil 2: Die Maschinenstadt
Teil 3: Stadt als Kunstwerk 
Teil 4: Die Stadt und ihre Neurosen