Von Raimund Vollmer
Ich war damals Schüler. 16 Jahre alt, ging in Düsseldorf zur
Schule. Die Landeshauptstadt von NRW war keine Hochburg der
Studentendemonstrationen, aber über das Fernsehen kamen sie damals überallhin.
Da war es egal, ob man in Düsseldorf oder in Reutlingen wohnte. Ich erinnere
mich, dass ich mit meinem Vater über die Forderungen der Studenten diskutierte.
Er war treues CDU-Mitglied, konservativ durch und durch, und ich hatte mit
allem gerechnet, nur nicht damit, dass er volles Verständnis für den Protest
der Studenten hatte. Die Szene werde ich mein Lebtag nicht vergessen, wie ich
im Türrahmen zum Wohnzimmer stand und mein Vater auf dem Sofa saß, um mir seine
Ansicht zu schildern. Er, der uns strikt verboten hatte, "Scheiße" zu
sagen, ein Ausdruck, der damals aufkam und der ihm dann nicht viel später
selbst fluchend entfuhr.
Was haben wir damals alles diskutiert! Mit den Eltern, mit
den Lehrern, mit den Pfarrern und Religionslehrern - vor allem aber natürlich
untereinander. Wenn Rudi Dutschke mit schneidender Stimme im Fernsehen auftrat,
habe ich ihm zwar zugehört, aber verstanden haben ich ihn nicht. Ich wusste
nur, dass er etwas Wichtiges sagte - und ihm ein gewisser Franz-Josef Strauß
antwortete. Das waren die beiden Pole, zwischen denen sich in der (guten) alten
Bundesrepublik alles Ideologische abspielte. Ideologie war überhaupt wichtig,
auch "die Gesellschaft". Und unsere Hohepriester waren die
Soziologen, die alles wissenschaftlich erklärten, verklärten und wohl auch verkehrten, was
damals irgendwie nach Protest roch. Achja, "der Verfassungsschutz"
spielte auch immer irgendwie eine Rolle. Er stand für die Angst des Staates vor
uns, die außer Diskutieren und Phrasendreschen sowie Haarewachsenlassen gar
nichts tat.
Einmal habe ich auf Drängen eines Freundes an einer Demo
teilgenommen. Ich glaube, es ging um Nix - "In der Rüstung sindse fix, für
die Bildung tunse nix". Als wir über die "Kö" marschierten, habe
ich mich verabschiedet. Ich kam mir blöd vor. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Zahl 1968 nicht mehr für ein Kalenderjahr stand, sondern für eine Aufbruchstimmung, von der ich genau so erfasst war wie die meisten meiner Freunde. Der Geist von "1968" hat uns, die Babyboomer, irgendwie alle erfasst. Und ohne ihn wäre das, was ich zu erzählen habe, nie geschehen.
Bein einem Schulstreik
mitzumachen, das hat mir zum Beispiel sehr gefallen und mich viel gelehrt - über sogenannte Autoritäten. Und das kam so:
Wir hatten einen Mathelehrer, der nach einem Autounfall irgendwie
nicht mehr ganz richtig tickte. Ich sag das so, wie wir es damals empfunden
haben. Wir hatten schon Mitleid mit ihm, aber wir drifteten auch Richtung Abitur.
Und sein Unterricht wurde unerträglich. Wir haben dann einen Studenten
angeheuert, auch bezahlt, der uns Matheunterricht nach Schulschluss gab. War
doch eigentlich eine gute Sache, oder?
Ich war auf einem reinen Jungengymnasium, das heute nicht
mehr existiert, sondern eine Gesamtschule wurde, die den Namen des Düsseldorfer
Dichters Heinrich Heine trägt. Ob dieser unruhige Geist mit diesem alles
vereinenden Schulkonzept einverstanden gewesen wäre, weiß ich nicht, glaube ich
aber nicht, wir, die pubertierenden "Jung-68er" waren es bestimmt
nicht. Wir wollten eine Oberstufenreform, dafür kämpften wir, wir wollten mehr
Auswahl in den Hauptfächern und dabei neue Angebote. Und wir wollten die
Schülerselbstverwaltung mit Raucherzimmer, die ganz schnell in
Schülermitverwaltung umgewandelt wurde und das Rauchen auf eine Ecke auf dem
Schulhof verbannt wurde.
Jedenfalls ließen wir uns von den Lehrern nicht mehr gerne
irgendetwas vorschreiben, ohne dass wir nicht vorher dazu in irgendeiner Form
gefragt wurden. Dass wir schulische Leistung erbringen mussten, habe wir schon
eingesehen, aber uns - wie alle Schüler vor und nach uns - gefragt, ob das, was
wir lernten, wirklich wichtig fürs Leben war. (War es natürlich doch, aber das
erkennt man erst sehr viel später.)
Völlig überkreuz mit der Schulleitung und dessen Kollegium
kamen wir, als man uns den Klassenlehrerin wegnehmen wollte, weil wir mit dem
Mathelehrer nicht mehr klarkamen. Es war ohnehin schon sensationell, dass wir
als reine Jungenklasse eine Klassenlehrerin hatten, die sich - selbst noch sehr
jung -unglaublich tapfer ihrer Aufgabe stellte. Manchmal glaube ich, dass die
wirklich guten Lehrer nie mitbekommen, wie sehr wir, die Schüler, sie schätzen.
Man spürt einfach, dass sie es ehrlich mit uns meinen. Mehr Pädagogik braucht
man eigentlich nicht. Und wenn das Thema nicht so heiß wäre, würde ich sagen,
dass die viele Reformpädagogik, die dann in den siebziger Jahren über die
Schulen hinweg donnerte, eigentlich nur dazu diente, die anderen Lehrern zu unterstützen.
Aber das ist natürlich eine sehr gewagte Theorie, die - sollte sie angefeindet werden
- natürlich komplett missverstanden wurde. Das ist die Natur der Schule, hier
gibt es immer Missverständnisse.
Und ein Missverständnis war es, dass man uns die
Klassenlehrerin wegnahm, weil wir mit dem Mathelehrer (der von uns übrigens nie
gemobbt wurde) nicht klarkamen. Nach dem pädagogischen Übermotto, dass nicht
sein kann, was nicht sein darf, war aber der studentische Nachhilfeunterricht,
der ja mehr ein Ersatzunterricht war, ein Angriff auf das "Lehrmonopol"
des Staates. (Das gibt's natürlich nur unterschwellig.) So meinte man, dass
unsere Klassenlehrerin uns nicht im Griff hatte. Sie müsse weg.
Da wurden wir aber richtig sauer. Kurzerhand trommelten wir
die gesamte Schülerschaft nach der vierten Stunde in die Aula zusammen (wie wir
das geschafft haben, ist mir bis heute ein Rätsel) und spielten Rudi Dutschke.
Die Bild-Zeitung kam, die Rheinische Post, die Westdeutsche Zeitung. Sogar die in Düsseldorf erscheinende
"Deutsche Volkszeitung", ein prominentes kommunistisches Blatt, kam,
um zu erfahren, was uns plagte.
Im Allerheiligsten, dem Lehrerzimmer, das zu betreten uns
bei Todesstrafe verboten war, soll es mucksmäuschenstill gewesen sein. Das war
Revolution. Die Klasse 11b - sollte exkommuniziert werden. Man drohte mit
Schulverweis. Ja, man beschloss ihn.
So wurden wir wenige Tage später aufgefordert, uns dem
höchsten Gericht, dem Lehrerkollegium zu stellen. Was wurden wir niedergemacht!
Die ganze Autorität, die eine Schule formal besaß, wurde gegen uns aufgefahren.
So ging das eine ewige Stunde lang. Bis schließlich unser Deutschlehrer, den
wir sehr schätzten, auch wenn gesagt wurde, dass er Parteimitglied gewesen sei,
seine Stimme erhob und seine Kollegen fragte: "Wenn wir diese Jungen
wirklich von der Schule verweisen, dann blamieren wir uns in der Öffentlichkeit
bis auf die Knochen. Wollen Sie das?" Plötzlich war Ruhe im Karton. An den
PR-Effekt hatte keiner seiner Kollegen gedacht. Unsere Klassenlehrerin, die
übrigens Jahre später völlig frustriert für immer den Schuldienst quittierte, hatte
sich mächtig für uns eingesetzt. Immer sachlich. Nur als einer der älteren Kollegen
sie gönnerisch "Uschi" nannte, was ihr Vorname war, wurde sie richtig
stinkig. Sie habe nichts dagegen, wenn wir, die Schüler, ihren Vornamen als
Spitznamen nehmen würde, aber für die Kollegen sein sie immer noch mit dem
Nachnamen anzusprechen oder zu benennen. Die Frau war einfach super.
Das Ergebnis war übrigens, dass man uns den Mathelehrer
wegnahm, der Direktor der Schule selbst den Unterricht übernahm und uns ein
neuer Klassenlehrer präsentiert wurde, dem eine weitere Karriere versprochen
worden war, wenn es ihm gelingen würde, uns in den Griff zu bekommen.
Ich gebe zu: er hat uns geschafft. Ob mit fairen Mitteln
oder nicht, möchte ich nicht beurteilen (obwohl es mich schon juckt). Auf jeden
Fall hat er uns ein halbes Jahr vor dem Abi verlassen. Seine Karriere forderte
dies.
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