Freitag, 8. Mai 2020

Corona und der Tag der Befreiung



1990: »Ich glaube aber, wenn Sie von politischer Macht sprechen: Der muss man sich rigoros entziehen.«

Rolf Liebermann (1910-1999), Schweizer Komponist und Intendant[1]


Vielleicht nicht ganz so unzeitgemäße Betrachtungen von Raimund Vollmer


Heute ist der 8. Mai 2020. 75 Jahre nach Kriegsende, das ich um sieben Jahre verpasst habe. In den fünfziger Jahre deuteten allenfalls noch ein paar aufgeräumte Trümmergrundstücke und versandete Bombentrichter auf die Bombardierungen hin. Wir Kinder genossen in dieser Zeit eine beispiellose Freiheit. Man ließ uns allein. Und da es genug von uns gab, haben wir uns gegenseitig erzogen - was fehlte, wurde uns mit elterlicher Strenge und Güte beigebracht. Zu sehr war den Erwachsenen bewusst, durch welches Unheil sie hatten in den zwölf Jahren Nationalsozialismus haben gehen müssen. Angerichtet hatte es vor allem die Generation unserer Großeltern, die durch zwei Weltkriege marschieren mussten.

Ich habe eine wunderbare Kindheit und Jugend erlebt, auch wenn wir lernen mussten, mit der Bombe zu leben. Und wenn ich mich mit meinen Altersgenossen unterhalte, egal, aus welcher Gegend Westdeutschlands, dann ist es ihnen sehr ähnlich gegangen. Ein Atomkrieg war zwar jederzeit vorstellbar, aber doch abstrakt. Auf jeden Fall war die Welt der Kinder deutlich getrennt von der Welt der Erwachsenen, die genau damit beschäftigt waren, das Leben zu meistern. "Atomkrieg" haben wir nie gespielt. Mein Vater gönnte mir noch nicht einmal Spielpistolen, die man doch als Cowboy dringend benötigte. Er ließ mich mit leeren Cowboygürtel herumlaufen (bis es ihm selbst zu dumm wurde).

Um mehr als 60 Prozent war 1945 die Wirtschaft geschrumpft. "Wir hatten nichts, gar nichts", sagte mir gestern ein befreundeter alter Herr, der das Ende des Krieges in Stuttgart als damals sechsjähriger Bube erlebte. (Bevor sich irgendjemand aufregt: wir haben telefoniert.) Ich wollte von ihm wissen, was er davon hält, wenn unsere Bundeskanzlerin von dem stärksten Eingriff seit 1945 spricht. Die Situation war überhaupt nicht vergleichbar, was ja unsere Kanzlerin auch nicht behauptet hatte. 1945 war für sie und ist es auch für uns eine Zäsur, in das, was folgte, wurde meine Generation der Babyboomer und des Wirtschaftswunders hineingeboren. Die Epoche, in der wir aufwuchsen, Eltern und jetzt Großeltern wurden, neigt sich nun ihrem Ende entgegen. Es war eine Zeit, in der es - was meine Generation anbelangt - doch so etwas wie Urvertrauen zu Staat und Gesellschaft gab. Kritik, auch schon einmal heftig und leidenschaftlich formuliert, gehörte dazu.

Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, in Freiheit zu leben. Ganz, ganz selten - und umso erschrockener war ich dann auch - habe ich kalte Macht gespürt. Sie kam dann stets aus dem Verborgenen, nannte nicht ihre wahren Beweggründe. Sie versteckte sich, tarnte sich. Als Mensch, der es gewohnt war mit offenem Visier zu kämpfen, war ich dann fassungslos - und ich glaube, es hat mich auch schwer verletzt.

Was sehr und wie wenig ich darauf vorbereitet war, habe ich dann vor genau zehn Jahren erfahren. Am 9. Mai 2010 wurde ich für fast drei Wochen in ein künstliches Koma gelegt. Die Erinnerungen an die Zeit des Wiederaufwachens und der Genesung gehören heute zu den kostbarsten Erfahrungen meines Lebens. Ich habe mehrere Lektionen lernen müssen. Mir wurde sehr nachdrücklich bewusst, wie wichtig mir Freiheit ist. Meine Pfleger haben mir zu verstehen gegeben, dass ich diesem Freiheitsgefühl auch im Koma sehr stark Ausdruck gegeben hätte. Die Menschen im Universitätsklinikum Tübingen habe ich in allerbester Erinnerung. Sie waren für mich niemals das Gesundheitssystem, das nun im Rahmen der Corona-Pandemie als besonders schützenswert gilt, sie waren einfach Menschen. Sie waren Menschen, die nichts anderes taten, als anderen Menschen zu helfen.

Nun erwacht die Welt gerade ebenfalls aus einer Art künstlichem Koma. Was folgt, ist dann das sogenannte Durchgangssyndrom, das mich auch voll erwischt hat und mir erschreckende, aber auch erheiternde Träume bescherte. Sie sind mit heute noch so gegenwärtig wie vor zehn Jahren.

Das Problem ist nur: Ich konnte damals nicht unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit war. Das voneinander zu trennen, war richtig harte Arbeit. Zum Glück hat mich die Wirklichkeit zurückgeholt - mitsamt meinen  Erinnerungen an eine wunderbare Kindheit, an ein Leben in Freiheit und Frieden.

Bevor es nun schnulzig wird, kehre ich zurück zu diesem 8. Mai 1945, dem offiziellen Kriegsende, jedenfalls aus westlicher Sicht.

Mehr als 40 Interviews habe ich seit zehn Jahren zum Thema Kriegsende und Nachkriegszeit geführt. Mit Menschen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, darunter waren auch damalige Soldaten. Unendlich viele Erzählungen und Gedanken habe ich mit meiner Kamera aufnehmen dürfen - von Menschen, die hier aufgewachsen sind oder die das Schicksal hierher verschlagen hat. "Tag der Befreiung" hat keiner den 8. Mai genannt, sondern - ganz ohne Arg - als "Tag des Umsturzes". Sie sprachen auch vom "Feind", nicht vom Befreier. In ihnen lebt in ihren Erzählungen eine ganz andere Zeit, eine ganz andere Prägung. Natürlich würde keiner von ihnen der Rede unseres damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes widersprechen, als er den 8. Mai zum "Tag der Befreiung" deklarierte. Denn im Nachhinein war es dies ja auch. Aber vor 75 Jahren war es vor allem "Umsturz", zwar nicht von uns selbst herbeigeführt, sondern von außen, durch die Alliierten. Man kann also sagen: Dass wir seitdem in Frieden und Freiheit leben dürfen, ist nicht unbedingt unser Verdienst.

Mir gehen diese Gedanken deshalb durch den Kopf (und ich hoffe, dass sie nicht als unbotmäßig angesehen werden), weil ich glaube, dass die Begrenzung auf das Jahr 1945 zu kurz greift, um die Pandemie zu erfassen, dass der Horizont doch deutlich weiter gefasst werden muss, eigentlich auf die letzten 250 Jahre, in der Abermillionen von Menschen ihr Leben gelassen haben, um uns dieses Leben in Freiheit zu ermöglichen. Diese Freiheit und die ihr zugrundeliegenden  Menschenrechte sind das größte Geschenk, das diese Menschen uns gegeben haben. Und dass sie dies getan haben, war bestimmt nicht für sie persönlich vernünftig, aber unglaublich wichtig für uns als Menschheit. Den Fortbestand eines Gesundheitssystems, überhaupt irgendeines Systems, hatten sie eher nicht im Sinn. Es ging ihnen um uns - als Menschen.

Wir haben in der Zeit der Corona-Pandemie geduldet, dass Freiheitsrechte eingeschränkt wurden, ob dies nun geschah, um uns vor uns selbst zu schützen oder das Gesundheitssystem vor uns, ist dabei gleichgültig. Tatsache ist, dass wir es getan haben und mit uns tun ließen. Nun hoffen wir darauf, dass diese Rechte im selben Maße wiederhergestellt werden, wie wir sie vor der Corona-Krise hatten. Das sind wir nicht nur uns schuldig, unseren Kindern und Enkelkindern, das sind wir all den Menschen schuldig, die ihr Leben gelassen haben dafür, dass wir in dieser Freiheit leben dürfen.

In diesen letzten sechs Wochen war jeder Tag eine Epoche. Alles geschah auf Sicht. Wir haben die Möglichkeiten und die Grenzen von Wissenschaft, Technik und Politik gesehen. Wir müssen das, was wir erlebt haben, nun in Perspektive setzen - persönlich und gemeinschaftlich. Vor allem aber souverän. Wir sind vor uns selbst voll in der Verantwortung.

Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung. Dahinter steht kein politischer Auftrag, sondern ein ganz persönlicher.



[1] Die Welt, 23. Juli 1990,

Bildertanz-Quelle: