Donnerstag, 12. November 2020

REUTLINGEN - Die Stadt, die wir meinen

1999: »Manche haben unser Geschäftsmodell immer noch nicht verstanden«

Jeff Bezos, Gründer von Amazon, in einer Überschrift der FAZ

 


Müdes Geschäft

 Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Weihnachten gibt es nicht wegen des Weihnachtsmarktes. Trotzdem inspiriert kein anderes Fest so sehr das Geschäft in den Innenstädten wie die Geburt Christi. „There is no Jesus like Show-Jesus“, sang vor bald 50 Jahren Lore Lorentz im Düsseldorfer „Kommödchen“. Das war zu einer Zeit, als das Kabarett noch von innen her kam, noch nicht die Wirkung die Ursache bestimmt, die Quote den Inhalt. Heute leben wir im Zeitalter der „Nullmedien“, wie es der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mal formulierte. Er meinte damit jene Medien, die sich selbst hypnotisieren – und dabei hatte er das Fernsehen im Blick. 


 Heute schreibt nun der Reutlinger General Anzeiger über „Stadtentwicklung“. Was man darunter zu verstehen hat, macht dann die Redakteurin Gabriele Küster ziemlich deutlich. Es geht um den Einzelhandel, der sich angesichts von Corona und Amazonisierung im Rückwärtsgang befindet. Die Pandemie ist dabei nur ein Brandbeschleuniger für einen Trend der sich über zwanzig Jahre entwickelt hat. Ein Gegenmittel ist niemandem wirklich eingefallen. Man hat immer geglaubt, dass die Wirkung die Ursachen definiert – ein Weihnachtsmarkt, ein Weinfest, ein verkaufsoffenes Wochenende, ein paar Dinosaurier, gefolgt von Riesen-Insekten und nun dem Riesenrad. Abgesehen davon, dass keine der Ideen originär aus Reutlingen kam, sondern alles Nachahmerprojekte waren, hat man im Grunde genommen nicht verstanden, dass der Aggressor wie Amazon & Co. genau umgekehrt vorgegangen sind.

 

Offen für Startups?

 

 

 

 

Die sogenannten Digitalkonzerne haben den Einkaufsprozess von grundauf verändert – mit einer weltweit spürbaren Wirkung. Sie haben die gesamten Prozesse im Umgang mit Kunden und Waren von der Produktion bis zur Auslieferung mit all ihren angeschlossenen Dienstleistungen studiert und dann in die Netzebene transferiert. Die Effekte, die sie dabei erzielten, haben sie zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gemacht. Amazon funktioniert. Punkt. Ebay funktioniert. Punkt. Apple funktioniert. Punkt. Sie haben damit unsere über die vergangenen Jahrzehnte entwickelten (Stadt-)Marketingstrategien ausgehebelt. Wir haben fassungslos zugeschaut. Wie konnte ein Versandhandel wie Quelle verschwinden? Hatte der nicht auch alles in der Hand gehabt, was Amazon dann realisierte? Nicht erst seit den neunziger Jahren, sondern seit den zwanziger Jahren? Der Quelle-Katalog war das Papernet des Versandhandels. Und wie war das mit „Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach“? Für mich – ein Kind der Nachkriegszeit – war der Besuch dieses Kaufhauses immer ein
Erlebnis, nicht nur wegen der Rolltreppe.


Nun schreibt der GEA, dass „Ideen für die Innenstadt“ gefragt seien. Und man muss ein wenig warten, bis man die wichtigste Idee präsentiert bekommt: Subventionen. Sie waren schon immer das wichtigste „Nullmedium“ der Politik mit gewaltigen Selbsthypnose-Effekten. Subventionen sind dazu verurteilt, erfolgreich zu sein. Sie sind Ursache und Wirkung in sich selbst. Sie werden verteilt mit dem Ziel, davon noch mehr zu verteilen, indem man zum Beispiel andere Subventionsempfänger anlockt. Startups, die nach einer Idee von Andreas Topp (IHK) in leerstehende Geschäfte einziehen sollen, brauchen Förderprogramme, die in einem nach wie vor unterentwickelten Risikokapital-Land wie Deutschland auch ihre staatliche Rückendeckung haben. Popup-Stores, also Geschäfte, die sich kurzfristig in den Leerstand einmieten und ebenfalls als Idee vorgetragen werden, sind ja nicht gerade der Zukunftsknüller.

Vor acht Jahren hatte ich das Vergnügen, eine Menge Einzelhändler in der Reutlinger Innenstadt kennenzulernen. Es ging damals um die Bildertanz-Ausstellung in den Schaufenstern der Geschäfte. Dahinter stand eine Idee, die originär aus Reutlingen kam, kein Nachahmerprojekt und die gut aufgenommen wurde. Ich bin damals von Geschäft zu Geschäft gelaufen, richtiges Klinkenputzen, habe mit den Geschäftsführern und Inhabern gesprochen, aber auch mit den Mitarbeitern und Dekorateuren. Bei jedem war zu spüren, dass er mit Leib und Seele dabei war, das Emotionale und das Rationale war gleichermaßen präsent. Gute Kaufleute, die – wenn sie nicht zu sehr eingebunden waren in die Werbelogistik einer Kette – gerne mitgemacht haben und sich freuten über die neue Aufmerksamkeit, die ihre Schaufenster bekamen. Leider war ich selbst außerstande, dieses Projekt noch einmal zu wiederholen, obwohl ich dazu ein weiterführendes Konzept entwickelt hatte. Ich war innerlich blockiert, was viele Gründe hatte.

Auf jeden Fall habe ich eines gelernt – und das ist für mich die Ursache der Misere: wir sind alle sehr müde geworden. Es fehlt das Aufweckerlebnis. Das kann man aber nicht kaufen, auch nicht inszenieren. Wir müssen uns aus der Selbsthypnose befreien. Berater helfen da übrigens kaum. Die bieten nur Placebos. Workshops werden auch nichts bringen. Und die Politik erst recht nicht. Da geht es vor allem um die Selbstinszenierung.

Was also kann man tun? Eigentlich gibt es da nur eins: Man muss alles tun, um uns Bürgern die Identifikation mit dieser Stadt zu ermöglichen. Da ist in den vergangen Jahren sehr, sehr viel „verbaut“ worden. Wenn ich zum Beispiel erfahre, dass die Stadthalle nur einmal im Monat von der Württembergischen Philharmonie belegt wird und alle sechs Wochen mal für ein zweites Konzert, dann stimmt das irgendwie traurig. Immerhin stünde das Orchester, was das Einspielergebnis anbelangt, mit an der Spitze in unserem Bundesland. Es ist ein echter Sympathieträger (vielleicht noch mehr als ein Fußballverein).Warum machen wir nicht mehr daraus? Die Philharmonie war doch einer der Gründe, warum der Bau der Stadthalle notwendig war. Corona liefert nun eine wunderbare Gelegenheit, einmal darüber nachzudenken. Da könnte man noch eine Menge herausholen – auch und gerade an Bürgerstolz. So geht es auch mit der „Tonne“ oder dem „Franz K.“


 

Das Riesenrad – ich habe es zweimal genossen – hatte schon einen erhebenden Effekt, ein persönliches Aufweckerlebnis. Hellwach war ich, als ich über die Dächer der Stadt schweben durfte. Ja, der Blick auf diese Dächer, die so gar nichts Großstadtmäßiges an sich hatten, hat mich sehr überrascht. Diese Stadt ist unverwüstlich, dachte ich. Und das ist sie bestimmt selbst  dann, wenn wir uns hier beim Bildertanz mitunter sehr kritisch über diese Stadt äußern. Denn wir tun dies als Bürger dieser Stadt. Es ist also auch Selbstkritik. Als Gegengewicht zur Selbsthypnose, der in dieser Stadt zulange die Herrschenden erlagen. Kritik ist ein Zeichen von echter Vitalität, aus der dann neue Ideen kreiert werden.

Das Riesenrad – sicherlich als ein Instrument der Marketingwirkung gedacht – hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass die Zukunft dieser Stadt einzig und allein in uns selbst liegt. Corona befahl uns, Abstand zu halten. Mir sagt es aber auch etwas ganz anderes: wir müssen wieder enger zusammenrücken unseren Dünkel besiegen. Gegen gesunden Bürgerstolz kommt kein Amazon an. Das ist das Geschäftsmodell, das wir verstehen. Wovor ich wirklich Angst habe, ist indes, dass eines Tages auch Amazon es verstehen wird (und ich glaube sogar, dass die Digitalkonzerne genau daran längst arbeiten).

Dann, gute Nacht, Reutlingen. Also: Wachet auf!

 

Bildertanz-Quelle:Dimitri Drofitsch (Riesenrad), Raimund Vollmer

Sonntag, 8. November 2020

Die Turmbläser von Reutlingen

ZELT das noch?


Das Bundesverband DEHOGA informiert: "Der Betrieb folgender Einrichtungen wird für den Publikumsverkehr untersagt: Das Gastgewerbe, insbesondere Schank- und Speisewirtschaften, einschließlich Shisha- und Raucherbars und gastgewerbliche Einrichtungen im Sinne des § 25 Absatz 2 Gaststättengesetz, mit Ausnahme gastgewerblicher Einrichtungen und Leistungen im Sinne des § 25 Absatz 1 Gaststättengesetz, des Außer-Haus-Verkaufs sowie von Abhol- und Lieferdiensten; ebenfalls ausgenommen ist die Verpflegung im Zusammenhang mit zulässigen Übernachtungsangeboten im Sinne von Absatz 5 Sätze 1 und 2." Capito? 

Bildertanz-Quelle: Dimitri Drofitsch
 

 

Bildertanz-Quelle: