Mittwoch, 30. Mai 2018

Dienstag, 29. Mai 2018

Dienstag, 22. Mai 2018

Am Brunnen vor dem Tore, da steht kein Brunnen mehr


Über Brunnen, Stadt und Heimat

Eine Betrachtung von Katrin Korth

Vor einigen Jahren musste ich einen Brunnen zuschütten: ein Wasserspiel aus den 1950er Jahren. Fontänen und Beleuchtung waren schon lange dem Vandalismus zum Opfer gefallen, das einstmals blaue, nun verblichene leere Brunnenbecken fristete über Jahre ein trauriges Dasein. Der Standort? Direkt vor dem Bahnhof. Was für ein Willkommensgruß! Die städtische Grünflächenabteilung, die ich seinerzeit geleitet habe, hätte den Brunnen gern saniert. Wir rechneten und prüften, machten Pläne und Vorschläge. Doch bürgermeisterliches Desinteresse (Zitat: „Schüttet das Sch…ding zu“), zögerliche Stadträte, die die Sanierungskosten nicht wahrhaben wollte („Ihr habt das doch teuer gerechnet, das geht billiger“), und der eisige Wind kahlschlagender großstädtischer Stadtentwicklungspläne fegten über den Brunnen hinweg. Danach fegte über meine Kollegen und mich ein Sturm öffentlicher Empörung, waren wir doch diejenigen, die im Rampenlicht standen und das Brunnenbecken zugeschüttet hatten. Örtliche Zeitung und Bildertanz, ein abgeklärt kluger und mitunter romantisch verklärender Bilderblog, kommentierten das Geschehen bissig. Über Wochen entrüsteten sich Bürgerinnen und Bürger.

Was kaum jemand auf dem Schirm hatte: viele Menschen fühlten sich mit dem Brunnen verbunden. Sonntägliche Spaziergänge in Kindheit und Jugend, später der schnelle Blick aus dem Auto, Willkommens- und Abschiedsbild bei Reisen mit der Bahn – der Brunnen als seelisches Erinnerungsstück einer Stadt und Symbol für die Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre, als alles besser und vieles schnell vergessen werden sollte. Der Brunnen, nach dem Zuschütten wurde es offensichtlich, war ein Stück Heimat.

Der Begriff Heimat wird aktuell inflationär verwendet, hat es sogar in den Titel eines Bundeministeriums geschafft. Doch was ist Heimat wirklich? Als Begriff gewann Heimat erst mit der Industrialisierung und der rasanten Urbanisierung im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Und bis heute hat er immer dann Konjunktur, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse rasant verändern: durch Wachstum, Ein- und Auswanderungswellen, Globalisierung, Digitalisierung. Heimat wird dann zum kulturellen Sehnsuchtsort.

Doch über die kulturelle Deutung von Heimat als Gefühl hinaus wird der Begriff zunehmend auch politisch besetzt, als fühlbares Gegenstück zur modernen, schnellen und kalten Gesellschaft. Die Süddeutsche schrieb am 2. Januar 2018 dazu: „Heimat ist also größer als die Familie und kleiner als das Vaterland. Damit beschreibt sie eine Sphäre von "Gemeinschaft" vor dem Abstraktum der modernen "Gesellschaft"“ und weiter „"Heimat" wird so zu einer eigentümlich vorpolitischen Sphäre, die mit allerlei Gefühls- und Erinnerungswerten aufgeladen wird.“ (Gustav Seibt: Was ist Heimat? Ein gutes Gefühl. In Süddeutsche Zeitung 02.01.2018)

Und hier findet sich der Anknüpfungspunkt zu den Brunnen: Brunnen waren und sind Symbole städtischen Lebens, Ausdruck der Verfasstheit einer Stadt, auch Zeichensetzungen - der Mächtigen wie auch der Bürger. Als gebaute Objekte sind sie Zeitzeugen des Erinnerns an vergangene Zeit. Sie sind emotionale Ankerpunkte im Stadtgrundriss, Brunnenplätze sind Orte des städtischen Miteinanders – und zwar des tatsächlichen, nicht nur des verordneten oder herbeigeredeten Miteinanders.

Brunnen sind natürlich noch viel mehr: das Spiel des Wassers erfreut und erfrischt. Und gibt es etwas Schöneres, als am Brunnen zu sitzen und zu entspannen? Oder Kindern beim Toben im Wasser zuzusehen? Wasser spricht alle Sinne an und wie kaum ein anderes Stadtelement erzeugen Brunnen kleine glückliche Momente im hektischen Alltag.

Das ist der Grund, warum sich Menschen empören, wenn Brunnen nicht funktionieren oder stillgelegt werden. Das ist der Grund, warum sich Menschen einsetzen für Erhalt, Pflege und Sanierung vorhandener oder auch den Bau neuer Brunnen.

Beispiele gibt es reichlich: z.B. Die Europäische Brunnengesellschaft in Karlsruhe. Beharrlich holt sie vergessene Brunnen und ihre Geschichten ans Licht der Öffentlichkeit, saniert Brunnen und organisiert Ausstellungen. In Stuttgart gibt es die Stiftung Stuttgarter Brünnele. In einigen Städten gibt es Patenschaften. Magdeburg hat vor einigen Jahren ein Brunnensponsoring ins Leben gerufen. Abgesehen von einigen wenigen Hauptbrunnen laufen die Wasserspiele nur, wenn sich Sponsoren für den Betrieb finden. Dieses Jahr kamen 40.000 Euro zusammen. Auch ich sponsere dort für den Betrieb eines Brunnens, zusammen mit meiner Schwester und ihren Nachbarn finanzieren wir den historischen Brunnen im Möllenvogteigarten im Domviertel. Man kann das auch durchaus kritisch sehen. Brunnen sind schließlich eine städtische Aufgabe, so wie Rasen mähen, Mülleimer leeren, Spielplätze pflegen. Doch ich spende nicht, weil die Stadt diese Aufgabe nicht übernehmen könnte. Eine Stadt, die das Geld für ihre Brunnen nicht aufbringen kann, kann ohnehin alles andere auch vergessen. Ich spende, weil ich dankbar bin, weil es meine Geburtsstadt ist und ich mich so verbunden fühle. Ich spende, weil ich so etwas zurückgeben kann von dem, was mir die Stadt gegeben hat. Ganz in Anlehnung an Pippi Langstrumpf: Warte nicht darauf, dass die Menschen dich anlächeln. Zeige Ihnen, wie es geht! -Warte nicht drauf, dass die Stadt etwas für dich tut, sondern tue selbst etwas. Denn Brunnen sind offensichtlich ein Stück Heimat.

Vor kurzem habe ich ein interessantes Beispiel in Pirna entdeckt. Bei Bauarbeiten wurde 2016 ein Wasserspeicher aus dem 13. Jahrhundert freigelegt. Die Stadtverwaltung schuf Tatsachen ließ ihn verfüllen. Dabei gibt es eine Initiative (Pirnaer Brunnen), die über 10.000 Euro Spenden gesammelt hat, um den Schacht sichtbar und erlebbar zu machen. Es folgte eine nun schon 2 Jahre währende kommunalpolitische Diskussion, immer noch nicht abgeschlossen, die vor allem eines zeigt: das Thema ist emotional besetzt und sollte von den Städten nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Eine Stadtplanung und Stadtpolitik, die ihre Brunnen vergisst, macht etwas falsch. Das sage ich nicht, weil Brunnen mein Spezialthema sind. Das sage ich, weil es eben nicht nur um das Bauen von immer neuen, wie auch immer gestalteten Wohnhäusern geht oder um Straßen, Schulen, Kindergärten, Gewerbegebiete, sondern auch um das Erzeugen von unverwechselbarer Stadtidentität, also um Heimat. Das geht nur über ein Stadtbild, welches Abwechslung bietet und individuell ist, über einen Stadtgrundriss, der im Maßstab angepasst ist und der Menschen verbindet und zusammenführt. Das geht nur über eine Stadt, die auf der emotionalen Ebene positiv anspricht.

Brunnen und ihre Plätze stehen für dieses Positive: in ihnen mischen sich Baukunst und emotionales Erleben, Politik und Gemeinschaft, Ästhetik, Tradition und soziales Miteinander – und das schafft Heimat. Manchmal wird das, wie beim Listplatzbrunnen in Reutlingen, erst klar, wenn etwas nicht mehr da ist. Denn was Heimat wirklich bedeutet, erfährt man vor allem im Verlust.

Nachtrag

Letztes Jahr wollte ich eine Initiative für die Reaktivierung des Listbrunnens gründen und habe Mitstreiterinnen und Mitstreiter gesucht. Das hat ziemlich Wellen geschlagen: die Reaktionen auf FB reichten von Begeisterung und „JA, ICH BIN DABEI“ bis hin zu „WOFÜR EIGENTLICH BÜRGERENGAGEMENT,WENN DIE STADT DAS GELD AN ANDERER STELLE ZUM FENSTER RAUSWIRFT“ oder „DIE BEI DER STADT SOLLEN ERST EINMAL IHRE HAUSAUFGABEN MACHEN; DANN ENGAGIEREN WIR BÜRGER UNS VIELLEICHT AUCH“. Interessant auch die Reaktionen einiger Stadträte, die erhebliche Vorbehalte hatten nach dem Motto: Bürgerengagement ja, aber bitte in geregelten, kontrollierten Bahnen.

So wird das natürlich irgendwie nichts mit dem Brunnen, stetig sind nur die Klagelieder regelmäßig in den Posts. Es bleibt festzuhalten: Eine Stadt hat die Brunnen, die sie verdient.


Verweise:
Bildertanz Reutlingen: rv-bildertanz.blogspot.com/
Pirnaer Brunnen: https://www.facebook.com/PirnaerBrunnen/
Stiftung Stuttgarter Brunnen: www.stiftung-stuttgarter-bruennele.de/

Europäische Brunnengesellschaft Karlsruhe: www.brunnengesellschaft.de/


Bildertanz-Foto: Tanja Wack (2005)


Donnerstag, 17. Mai 2018

Stadtmarke: WIR WOLLEN'S WISSEN! - (Auch wenn die entscheidende Frage fehlt...)

Eine unzeitgemäße Nachbetrachtung von Raimund Vollmer zum Ende einer Umfrageaktion
 
Wir werden es erfahren: am 18. Juli will uns die Stadt mitteilen,was ihrer Meinung nach bei der Umfrage zum Markenbildungsprozess herausgekommen ist. Da die Fragen durchaus suggestiv angehaucht sind, sind wir natürlich besonders gespannt, wie unsere 9514 Antworten interpretiert werden. Heute war in der FAZ zu lesen, dass im holländischen Groningen (größenmäßig in etwa in derselben Kategorie wie Reutlingen) 97 Prozent der Menschen zufrieden sind mit ihrer Stadt. Ob wir da auch nur annäherungsweise rankommen? Es ist eine Stadt mit 50.000 Studenten, also eher vergleichbar mit Tübingen, aber damit auch bestimmt von Menschen, die nur für ein paar Jahre hier leben, also stark mitbestimmt wird von Zugezogenen. Und auf deren Mehrung ist ja Reutlingen offensichtlich aus, wenn ich den Sinn dieser Umfrage richtig verstanden habe.
Bei der Umfrage der Stadt Reutlingen ist es der elfte Fragenkomplex, auf dessen statistischer Auswertung wir besonders gespannt sein sollten. Da können wir dann erfahren,
- ob uns Reutlingen persönlich (wer denn sonst?) "sehr gut" gefällt.
- ob "ich" mich mit "Reutlingen sehr verbunden" fühle,
- ob es "gute Gründe" gibt, in "Reutlingen zu wohnen und zu leben",
- ob "ich" "immer wieder nach Reutlingen ziehen" würde,
- ob "ich" einer "guten Freundin oder einem guten Freund Reutlingen zum Leben und zum Wohnen" empfehlen würde,
- ob "ich" Reutlingen "als Stadt zum Wohnen und Leben sehr atraktiv" finde und
- ob "ich" Reutlingen "für Menschen aus dem Umland insgesamt sehr attraktiv" finde.
Alles gute Fragen - nur eine fehlt. Sie taucht auch - jedenfalls habe ich sie nicht gefunden - in keiner der anderen 13 Fragenkomplexen auf. Diese Frage lautet,
- ob "ich" insgesamt zufrieden bin mit der Stadtverwaltung und mit der Politik in dieser Stadt, also zum Beispiel mit dem Stadtrat.
Dass diese Frage nicht gestellt wird (vielleicht habe ich sie aber auch übersehen) ist umso erstaunlicher, weil im14. Fragenkomplex lauter Zukunftsthemen angesprochen werden, auf die die Politik und die Verwaltung in unserer Stadt maßgeblichen Einfluss hat. Dort nach der Zufriedenheit der Bürger mit deren Repräsentanten zu fragen, hat man sich offensichtlich nicht getraut, meine "ich", der ich nur ein Bürger bin.
Vielleicht bin ich ja nicht ganz allein einer, der das - über alle Parteien und Interessen hinweg - gerne gewusst hätte. Immerhin ist die Politik doch auch Teil der Marke (siehe Tübingen).
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer



Mittwoch, 16. Mai 2018

Reutlingen - ein Sonntagsstaat für die Sonntagsstadt

 Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Das neue Vier-Sterne-Hotel leuchtet golden -und wirkt so filigran, wie auch einmal die Stadthalle aussehen sollte - als Modell, aber dann ein dunkler Kasten wurde.
Erinnerungen an die Zukunft - Max Dudler konstruiert momentan gerne in diesem Rasterstil. Hier ein Entwurf für Antwerpen.


Heute veröffentlichte unser Generalanzeiger eine Luftbildcollage mit der Stadthalle und dem neuen Viersternehotel, das sich neben dem Amüsementtempel erheben darf. "Hui", denkste beim näheren Studium des Bildes, "da steht ja wieder die Listhalle". Und die schnurgeraden Schnurbäume haben auch schon ihre stramme Haltung eingenommen, die damit wohl Vorbild sein sollen für uns Bürger im Bürgerpark. Und dann guckst Du ein wenig in den Dudler-Kasten (Homepage) und entdeckst auf der Homepage des Schweizer Architekten, dass das, was er uns als Hochhaushotel erbauen will, bereits erprobte Mode bei ihm ist (und bei vielen anderen auch). Dass er in dieser klinisch sauberen Umgebung, über die auch nicht ein Hauch von Feinstaub wirbelt, solch eine Schmuddelecke wie die Listhalle toleriert, zeigt mir indes, dass der Architekt Sinn für Geschichte hat - so wie es seine sonst schnell vergänglichen Sprüche auf der Homepage uns verkünden. Diese Rasterfassaden, die nun auch das neue Hotel bestücken und beglücken, sind wirklich der letzte Schrei, den wir nun auch noch ein Leben lang aushalten müssen.

Natürlich ist daran nichts mehr natürlich, aber ob dieses Ensemble wirklich identitätsstiftend sein wird wie angeblich die Stadthalle (so in einer Laudatio), da werden die Bürger wahrscheinlich sehr unterschiedlicher Meinung sein. Dudler polarisiert, wobei ich zugeben muss, dass ich selbst immer wieder hin und hergerissen bin zwischen Staunen und Grausen. Staunen würde ich, wenn ich als Fremder in diese Stadt käme: "Wow", um es in klarem Integrations-Deutsch auszudrücken.  Grausen tut's mich, wenn ich es mit der alltäglichen Lebenswelt in unserer Stadt verbinde. 
Wir können doch nicht jeden Tag Sonntag haben. Da war mir die Listhalle lieber und das alte Parkhotel am Listplatz auch.

Aber vielleicht ist es tatsächlich das Ziel unserer Stadtverwaltung, Reutlingen in einen permanenten Sonntagsstaat zu kleiden, aus Reutlingen eine Sonntagsstadt zu machen. Und so summe ich ein Liedlein vor mich her, das der gute Franz-Josef Degenhardt in den sechziger Jahren komponierte und "Deutscher Sonntag" nannte: "Hütchen, Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassend, die sie heimlich heimwärts zieh'n, damit sie nicht in Kneipen flieh'n..."

Eh, in welche Kneipen? 
Natürlich sollst Du im Hotel bleiben, das Arrangement aus Halle und Hotel am besten gar nicht verlassen.
 
Bildertanz-Quelle: Büro Max Dudler

Montag, 14. Mai 2018

Altenburg im Glück: Berliner Pfarrersehepaar schenkt den Kindergärten Handpuppen für Märchenaufführung...

... "Hans im Glück". Sie waren hier, Maria und Klaus Sorge, um aus einem ganz anderen Leben zu berichten, aus der Zeit der Bombardierungen, der Besatzung und der unmittelbaren Nachkriegszeit - aus der Zeit um 1945, die sie beide im Großraum Berlin verbrachten. Sie wurden Bürger der DDR. Und sie erzählten, wie sie sich kennengelernt haben und ihre Liebe zueinander entdeckten. Es war ein wunderbarer Abend im Evangelischen Gemeindesaal von Altenburg. Veranstaltet hatten diesen "Altenburger Abend" die Ev. Kirchengemeinde und der Geschichtsverein.

Montag, 7. Mai 2018

Umstritten: Eine neue Altstadt



Wer setzt dem "Unsinn, der heute
Architektur genannt wird", ein Ende?
Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Sie hat 200 Millionen Euro gekostet, die neue Altstadt, so viel wie vier bis fünf Stadthallen in Reutlingen. Am Mittwoch wird sie eröffnet, nicht in Reutlingen, sondern in dem nach dem Krieg zu 70 Prozent zerstörten Frankfurt, einer Stadt, in der mit 736.000 Einwohnern knapp sechsmal mehr Menschen leben als bei uns, von Hochhäusern dominiert, von der Finanzwelt beherrscht, vom größten Flughafen gezeichnet und von besten Autobahnen umwoben - eine Stadt, die beinahe nach dem Krieg bundesdeutsche Hauptstadt geworden wäre, die so etwas wie die geographische Mitte der alten Bundesrepublik darstellte. Kurzum: kein Vergleich mit Reutlingen.
Außer vielleicht, dass sie in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren beseelt war davon, so modern zu sein, dass der Wiederaufbau "zum verbissenen Bildersturm gegen alle baulichen Zeugnisse der Vergangenheit wurde", schrieb bereits 1951 der Architekturkritiker Dieter Bartetzko.[1]
Vor 25 Jahren stand die Stadt vor dem finanziellen Kollaps. In der Kasse fehlten 640 Millionen Mark, 1000 Stellen im öffentlichen Dienst sollten gekürzt werden, Einstellungsstopp. Schon fragte man sich, ob Schwimmbäder geschlossen werden müssten, zwischen 90 und 200 Millionen Mark wollte man nur durch Kürzung der Sachausgaben sparen. Sogar an die Schließung des Schauspiels wurde gedacht.[2] Und heute? Die Stadt strotzt vor Kraft - und protzt nun mit ihrem neuen Altstadtquartier zwischen Dom und Römer, das das absolute Gegenstück zu den mächtigen Wolkenkratzern des Bankenviertels ist. Verspielt, nicht verspiegelt. Vergiebelt, nicht verflachdacht. Verwinkelt, nicht verrastert. Zum Entsetzen vieler Architekten, die vor nichts so sehr Angst haben wie vor "Historismus". Sie wollen das "Zeitgenössische", ohne zu sagen, was das ist - außer dem, was gerade überall nach ihren tausendfach kopierten Plänen entsteht. Das Stadtbild ist nicht mehr verankert in einem historischen Kontext, sondern eingezwängt - sagen wir es direkt - in den erstarrten Augenblicken des Bauhauses.
So machten in Frankfurt die Zwangszeitgenossen die Rechnung ohne die Bürger - und das rächte sich. Und das in einer Stadt, in der die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat, mit dem historischen Kontext kaum verbunden zu sein scheinen.
Begonnen hatte alles 2005, als die Stadt beschloss, ein Nachkriegsmonstrum abzureißen, das Technische Rathaus. Nun hofften die Bürger, dass an dessen Stelle ein schnuckeliges Altstadtviertel wiederauferstehen würde, auf stolzer Tradition gegründet, das, was die Feuersbrünste des Krieges verschont hatten, bewahrend, etwas, mit dem man sich als Bürger voll und ganz identifizieren konnte. Doch so einfach ist das mit dem Wünschen in einer Stadt nicht, wenn sie beherrscht wird von Architekten, die unbedingt modern sein wollen. Und so entschied die Jury sich für einen Entwurf, "der die Historie ignoriert. Flachdächer und ein neuer 'Krönungsweg', der (schnurgerade und geschichtswidrig) auf den Domturm zuläuft, schienen den Juroren zeitgemäßer zu sein", schrieb damals der Architekturkritiker Dankwart Gurtzsach in der Tageszeitung "Die Welt".[3] Doch die Bürger protestierten heftig - und setzten sich durch.
Was jetzt in Frankfurt eröffnet wird, scheint nämlich genau das zu sein, was sie sich gewünscht haben: Häuser zum Leben, Häuser des Lebens. Doch die Kritiker sehen darin etwas ganz anderes, eine Assoziation zum Nationalsozialismus, was in den Frankfurter Medien einen heftigen Meinungsstreit auslöste.
"Auf die Erfahrung unseres Metiers können wir uns nicht mehr berufen - wir haben sie verspielt und mit Füßen getreten", meinte 2011 selbstkritisch Hans Kollhoff, Architekturprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.[4] "Nach einem Jahrhundert erfolglosem Erfindungszwangs wäre es angebracht, sich auf das überkommene architektonische Instrumentarium zu besinnen", schrieb er zu Beginn dieses Jahrzehnts. Er forderte eine zeitgenössische Architektur, die eben nicht - wie die Postmoderne - rückwärtsgewandt ist und sich mit dem Historischen dekoriert, sondern "tektonisch", wie er es ein wenig nebulös und nach Begrifflichkeiten tastend formuliert. Letzten Endes meint er den emotionalen Bezug, der eine Architekturleistung über das Solitär erhebt. Zu oft misslingen diese Solitäre zu "überdimensionierten Gestellen, in denen ich alles aufbewahren kann, Büros, Wohnungen, Autos und Leitzordner". Sie bieten Unterschlupf, aber kein Dach, keine Tektonik. Sie werden eben zu dem "Unsinn, der heute Architektur genannt wird" (Kollhoff).
Und dann formuliert Kollhoff, als hätte er das Reutlingen von heute besucht: "Solange die vermeintlich zeitgenössische Architektur in einer Baulücke sich als das ganz andere gerieren darf, als Kunstobjekt, das die überlieferte Stadt missbraucht, um sich in Szene zu setzen, aus Vermarktungsgründen oder bloßem Architekturehrgeiz, mag es noch gutgehen. Sobald aber mehrere solcher Objekte eine Straße bilden, breitet sich Chaos oder Trostlosigkeit aus". Das ist es, was in Reutlingen nach der "Baulücke Stadthalle" nun in dessen Nonsemble an hochbeinigen Gestellen aufpoppt.
Eine Stadt vermarktet sich. Darauf ist in Reutlingen alles ausgerichtet. Es kann sein, dass dies eine Rechnung ohne uns ist. Und das rächt sich, wie uns Frankfurt lehren könnte.



[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2015, Rainer Schulze: "Eine Himmelsleiter führt zu den Dichtern", danach zitiert
[2] Stuttgarter Zeitung, 7.April 1993, Heinrich Halbig: "Finanzielle Rosskur für Frankfurt"
[3] Die Welt, 1. Oktober 2005, Zeitgemäßer Stadtumbau"
[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2011, Hans Kollhoff: "Gib mir Simse: Was ist zeitgemäßes Bauen?"
Bildertanz-Quelle: