REUTLINGEN oder die Stadt der Zukunft (Teil 5)
IM WECHSEL-STROM DER ZEIT
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Sieben öffentliche Ladestationen kennt Reutlingen, Metzingen
hat drei, Münsingen hat fünf. Ulm aber, in Größe und Bedeutung vergleichbar mit
Reutlingen, hat bereits 94 Ladestationen, Stuttgart 375, Berlin ist mit 536
Staionen Spitzenreiter. Wenn die Zahlen nicht stimmen, dann liegt das daran,
dass die Informationen, die das Internet bietet, einfach nur verwirrend sind.
Aber so ist die ganze Situation "Elektromobilität". Wer nicht
verwirrt ist, hat hier überhaupt nichts verstanden. Und aus dem, was sich in
meiner Verwirrung angesammelt hat, versuche ich zu schreiben.
Bildtext. Die Zukunft einer Stadt entscheidet sich an den Stellen, die keiner sieht: in der Infrastruktur - gesehen 2014 bei der Erneuerung der Wilhelmstraße. Liegt im Untergrund unsere Zukunft begraben?
Es fängt damit an, dass alles, was kein "E" hat,
eh nichts taugt. Solange sich die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) so
nennt, wie sie ist und 1949 übrigens als Motormesse ihren Anfang in Reutlingen
nahm und nicht in Frankfurt, solange ist das wohl eine "Old-School-Messe",
wie sie von Kurt Sigl, Präsident des Bundesverbandes eMobilität genannt wurde. Die
Automobilhersteller sollten aufhören, nur Showmodelle der Elektromobile zu
zeigen, meint er. Die seien einfach nicht mehr "das Gelbe vom Ei". Wo
aber ist dann das neue Zentrum der E-Mobilität?
Wahrscheinlich zuhause. In der Garage. An der Laterne.
Überall. 100.000 Autos, die vom Stoff leben, der aus der Steckdose kommt, gibt
es nach Aussage von Elke Temme, Senior Vice President für eMobility bei Innogy,
in Deutschland. Hatte ich das richtig verstanden? Faktencheck: 34000
Elektroautos seien es zu Beginn des Jahres gewesen, liest man etwa im "
Kölner
Stadt Anzeiger". Da fehlt ja nicht mehr viel bis zu der Zahl von einer
Million, die sich unser Land für 2010 vorgenommen hat, möchtest Du mit
beißender Ironie feststellen - wohlwissend, dass Du selbst auch nichts zum Erreichen
dieses Ziels beigetragen hast.
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Gesehen 2014 in Aachen |
An den fehlenden Möglichkeiten, Dein Auto aufzuladen, liegt
es nicht. Denn Du könntest zuhause die Voraussetzungen schaffen. 80 Prozent der
Ladevorgänge finden hier oder beim Arbeitgeber statt, weiß die
Innogy-Vizepräsidentin Temme zu berichten. Da brauchst Du noch nicht einmal
einen Schnelllader. Der Handel hat natürlich auch erkannt, dass er mit dem
Laden der Batterien etwas für die Kundenbindung tun kann - und sogar davon
profitiert. Bei IKEA hat niemand etwas dagegen, wenn der Kunde zwei Stunden
warten muss, bis er weiterfahren kann. Ähnlich ging es den Discountern. "Jede
Minute beim Laden bringt einen Euro im Laden", meint Innogys Temme. "Das
ist statistisch berechnet." Es muss also nicht immer der Schnelllader sein
aus Sicht von Aldi...
Aber manchmal doch. So berichtet der Präsident des
Bundesverbandes eMobilität, Kurt Sigl, dass ein Skandinavier auf einer Reise
von Oslo nach Stuttgart vier Tage gebraucht hat, um durch Deutschland zu kommen.
Er hatte ein Gefährt, dessen Batterien nur eine Reichweite von 120 Kilometer
zulässt. Keine Probleme mit dem Aufladen hatte er bei seiner Fahrt durch die
nordischen Länder. Doch ab Hamburg wurde es schwierig - vor allem stellte der
E-Freund sehr bald fest, dass man 40 Ladekarten braucht, um überhaupt an den
Stationen zahlungsfähig zu sein.
Eigentlich eine Schande für ein Land, in dem
das Auto erfunden wurde.
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Der Hybridbus: Gesehen in Stuttgart |
Da erinnerte Professor Martin Wietschel, der beim
Fraunhofer-Institut das Geschäftsfeld Energiewirtschaft leitet, an die legendäre
Fahrt der Berta Benz, die 1888 in aller Herrgottsfrühe von Mannheim aus aufbrach,
um gemeinsam mit ihren Söhnen Eugen und Richard nach Pforzheim, ihrer
Geburtsstadt, zu fahren. Mit dem "pferdelosen", Patent-Motorwagen
ihres Mannes Carl Benz. Damit war der Beweis erbracht. Das Auto war mehr als
eine Spielerei. Und das Spritproblem, wie haben sie das gelöst? "Benzin
gab's in der Apotheke", berichtet Wietschel. So wurde die Stadtapotheke in
Wiesloch die erste Tankstelle der Welt. Sie steht also in Baden-Württemberg,
das übrigens mit 1500 Ladestationen nach Nordrhein-Westfalen in absoluten
Zahlen an zweiter Stelle liegt. Das erste
richtige Tankhäuschen wurde erst 34 Jahre
Später, 1922, errichtet. Es stand in Hannover. Wietschel wollte an diesem
Beispiel deutlich machen, dass auch bei der Ausbreitung des Autos die
Infrastruktur ihre Zeit braucht.
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Carsharing und Elektroauto: Gesehen in Berlin |
Dass Infrastrukturen & Akzeptanz nicht über Nacht. gedeihen,
dafür gibt es auch aktuelle Beispiele. Das Internet, in den 50er Jahren
angedacht, 1969 erstmals gestartet, brauchte dann noch 25 Jahre, bis es als
neues, allgegenwärtiges Medium anerkannt
wurde. Ähnlich war es beim Mobilfunk, von Motorola in den vierziger Jahren als
Walkie-Talkie initiiert, dauerte es noch länger, bis das Handy in den 90er
Jahren seinen Siegeslauf antreten konnte. Und die Idee des Smartphones, so wie
wir es heute kennen, wurde vor 50 Jahren in einem Science-Fiction Roman
geboren.
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Carsharing im Geschäft: Gesehen auf der "Start-up"-Messe in Stuttgart |
So hatte Wietschel seinen Spaß daran, Optimisten und
Pessimisten zugleich zu foppen. "Elektromobilität steigt in Deutschland
jährlich um 45 Prozent, weltweit sogar um 60 Prozent", meinte er, um dann
nachzusetzen: "Der Diesel wächst aber nur noch um neun Prozent." Und
weil er schon beim Zahlenspiel war, berichtete er, dass 75 Prozent aller Autos
in Gemeinden gemeldet sind, die weniger als 100.000 Einwohner zählen. Wahrscheinlich
wollte er damit sagen, dass mit der Höhe der Verstädterung sich der Anteil der
Autos vermindert. Übrigens ist in Baden-Württemberg der Verstädterungsgrad im
Vergleich zu den anderen Flächenstaaten unter dem Durchschnitt. So ein Bericht
der "
Süddeutschen
Zeitung" von 2010. Auch hier landen Versuche, besseres Zahlenmaterial
zu bekommen, in der Verwirrung (und das ist jetzt vornehm ausgedrückt.)
Laut Wietschel fährt der Durchschnittsbürger 38 Kilometer
pro Tag. Zehnmal im Jahr nimmt er Strecken, die ihn weiter als 100 Kilometer
führen - all das sind Argumente, die für E-Mobilität sprechen, zumindest als
Zweitwagen. Das Problem ist nur, so der Gelehrte, dass wir weitaus mehr
Kilometer fahren müssten, um in Sachen Wirtschaftlichkeit an ein Fahrzeug mit
Verbrennungsmotor heranzukommen. Ein Problem, das sich aber mit steigender
Akzeptanz nivelliert, wie das Wirtschaftsmagazin The Economist am 17. Februar
2017 feststellte. Das weltweit hoch angesehene Blatt meint, dass zu Beginn der
20er Jahre der Aufwand bei Besitz und Betrieb eines Elektrofahrzeugs mit dem
eines Verbrenners gleichziehen werde - und zwar ohne Subventionen. "Bei Kurierdiensten,
die 80 Kilometer pro Tag und Fahrzeug leisten, rechnet sich das E-Auto",
meint Wietschel. Privat seien aber noch die Anaschaffungskosten "eine
Barriere".
Dennoch bahnen sich erdrutschartige Veränderungen ab.
Zumindest weltweit, ob im Autoland Deutschland und in seiner Spezialform als
Land Baden-Württemberg oder gar als Stadt Reutlingen ist schon eher die Frage. Dabei
sieht Sigl besonders die Automobilfirmen in der Pflicht, die für ihn momentan
"Lachnummern" abgeben. "Wir tun so, als müssten wir all das, was
ansteht, noch erfinden." Das sei nicht so, sondern die Automobilindustrie
habe die Entwicklung "total verpennt", um dann nachzusetzen:
"Die Bürgermeister aber auch".
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Berliner U-Bahn-Station: So kann man auch mit seiner elektrischen Vergangenheit umgehen |
Mehr und mehr beschleicht mich bei der Analyse meiner
Mitschriften das Gefühl, dass gar nicht die Technologie das Problem darstellt,
sondern - nennen wir es einmal - das publizistiche Obereigentum über die neuen
Verhältnisse, die sich da entwickeln. Wenn es in Deutschland 40 Kartensysteme
für die Bezahlung der Stromentnahme gibt, dann ist das fast schon ein Skandal -
ein Kleingeist, der jeder Beschreibung spottet. "Ich kann in jedem
Parkhaus mit Kredit- oder Bankkarte bezahlen, nur nicht beim Stromtanken."
So etwa äußerte sich Sigl, der meint, dass es Deutschland hier seit sieben
Jahren versäumt hat, auch gesetzlich initiativ zu werden. Selbst das Handy als
moderne Kreditkarte werde da zum Hindernis, wenn der Benutzer sich zuerst eine
App im Netz herunterladen muss und inklusive Registrierung und Initialisierung
fünf bis sechs Minuten benötigt.
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Der ganz normale Stau: Gesehen in Berlin an einem Sommersamstag. Wer hat eigentlich das Eigentum an diesem Stau? |
Zum Glück gibt's ja die Heimtankstelle, bei der eine
"Wallbox" (Preis ab etwa 500 Euro) die Ladezeiten stark verkürzen
kann. Dazu braucht man aber eine Garage oder ein Carport. Sicherlich könnte man
dann diese Stationen mit anderen teilen, also mit Menschen aus Miet- und
Eigentumswohnungen, die keinen Garagenplatz besitzen. Eine rechtliche Frage,
die bis in das "Eichrecht" hineingeht, meint Temme, um untereinander
abzurechnen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Deutsche Telekom, die
gerade überprüft, ob sie ihre 300.000 multifunktionalen Verteilerkästen nicht
auch als Ladestation nutzen kann.
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Wo nehmen die bloß all die Steckdosen her? Häuserzeile in Grenoble |
Eigentlich könnte sich in diesem Zusammenhang jede Menge tun
- auch in Reutlingen. Mit der Firma Bosch in der Mitte. Aber keiner der
Teilnehmer kam von dieser Firma. Seltsam. Und von dem offiziellen Reutlingen
war nur einer da. Dabei war die Zukunft noch nie so nah.
Ich schreibe nach bestem Wissen und Gewissen. Für jede Korrektur bin ich dankbar.
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (Text & Fotos)/Plakat: Sammlung Hermann Rieker / Titelbild "The Economist", Sammlung RV