Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
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Steht zwar mitten in der Stadt Stuttgart, nennt sich aber "Landtag". Es ist in diesen Tagen die Bühne für ein biblisches Drama. Mittendrin in dieser Tragödie steht die Stadt Reutlingen. |
Es mag sich vielleicht seltsam anhören, dass mir im
Zusammenhang mit den Themen Flächenfraß und Stadtkreisgründung seit längerer Zeit immer wieder die
biblische Geschichte von Kain und Abel in den Sinn kam. Der eine, der
Bösewicht, der seinen Bruder ermordet, steht für "Stadt". Der andere, Abel, der
Getötete, für "Land". So entnahm ich es jedenfalls den Auslegungen der Theologen. Und mit
jedem Nachdenken über diese Erzählung wurde mir dieser Mörder namens Kain sympathischer.
Merkwürdig, nicht wahr? Zugleich wurde ich den Verdacht nicht los, dass es in
dieser Parabel Parallelen zu heute gibt - zu dem Verhältnis vom Landkreis
Reutlingen zur Stadt Reutlingen. Hier nun meine Erklärung, die vielleicht den
ein oder anderen ebenfalls nachdenklich oder auch nur neugierig macht.
Kain und Abel waren die Kinder von Adam und Eva, vertrieben
aus dem Paradies.
- Kain, der Erstgeborne, wurde Ackerbauer, er forderte
festumrissenes Land für sich, also Eigentumsrechte.
- Abel aber wurde Hirte, der alles Land für sich und seine
Tiere beanspruchte - als Nutzungsrechte.
Kain stand für den ersten "großen Bruch" (so der Zukunftsforscher
Alvin Toffler) in der Menschheitsgeschichte, dem Übergang vom "Natur- zum
Kulturzustand" vor etwa 10.000 Jahren. Ackerbau bedeutete Sesshaftigkeit,
Pflege (cultura) des Bodens, vor allem aber das Ernten von dem, was man selbst
gesät hatte. Das war die neue Welt von Kain. Er stand für Fortschritt, der sich
ausgerechnet als Sesshaftigkeit manifestierte.
Der andere aber, Abel, gehörte als Schäfer noch der Vorzeit
an, der Ruhe- und Rastlosigkeit der Nomadenvölker. Im Kampf um die Zukunft war
er der Schwächere, kulturell und technologisch - und genoss vielleicht deshalb
das ganz besondere Wohlwollen Gottes, der dessen Opfer höher schätzte als das
des Ackerbauern Kain. Natürlich war Kain neidisch, was ihn nicht unbedingt
sympathischer machte. Und mit dem Mord an dem Bruder, als dessen
"Hüter" er sich ja nicht verstand, war er gleichsam für alle Zeiten
als Bösewicht gekennzeichnet. So habe ich ihn auch immer gesehen.
Doch beim Recherchieren kamen mir mehr und mehr Zweifel. Ja,
der Fortschritt, der Ackerbau, das Recht auf Eigentum (was möglicherweise Gott
nicht gefallen hat) hatten zuerst einmal gesiegt - auf mörderische Weise. Heute
könnte man dies gleichsetzen mit dem Flächenfraß, immer mehr Ackerland, immer
mehr Grünfläche opfern wir, um die "zweite große Trennungslinie" zu
vollziehen, die vor 250 Jahren begann und "weit umfassender,
tiefgreifender und bedeutsamer sei als eine industrielle Revolution", wie
es Alvin Toffler 1970 in seinem bahnbrechenden Bestseller "Der Zukunftsschock"
beschrieb - übrigens in Details und mit einer Weitsicht, von der unsere
Politiker und Wirtschaftsführer noch heute lernen könnten (werden sie aber
nicht tun, weil sie ja schon immer alles wissen, den Journalisten nicht
unähnlich, muss ich ehrlicherweise zugestehen). Diese zweite, erweiterte Trennungslinie ist das, was wir ein wenig
oberflächlich mit Digitalisierung und Virtualisierung umschreiben - ein Trend,
der übrigens bereits 1970 einsetzte.
Jedenfalls verdammt Gott Kain zu ewiger Unstetigkeit. Er
sollte umherziehen, aber nicht auf bekanntem Terrain wie sein Bruder, sondern
er sollte nirgends mehr Heimat finden, allenfalls an dem Orte Nod, der indes das
genaue Gegenteil einer Bleibe meinte, sondern im Hebräischen für
"unterwegs" steht. Rechtlos. Frei. Er war ein "Habenichts".
Dies ist ein Begriff, der übrigens ganz am Anfang des Antrags auf
Stadtkreisgründung von der Gegenseite gegen die Stadt Reutlingen verwandt
wurde. Städte sind in ihrer Gründungsphase immer "Habenichtse"
gewesen, weil sie sich ja mit ihrem Gebietsanspruch prinzipiell gegen
bestehendes Recht wenden. Das galt in der Zeit des Feudalismus auf jeden Fall.
Das Land ist Adel, die Stadt ist Bürger. Das Land ist Leibeigenschaft gewesen,
die Stadtluft aber machte frei.
Und frei war auch Kain. Sein Leben war allein von Gott durch das "Kainsmal" geschützt.
Wer nämlich den wehrlosen Kain tötete, sollte einem siebenfachen Fluch
unterworfen sein. Kain zog umher, zeugte Kinder und wurde - man staune - der
erste Stadtgründer. Denn Städte sind die Orte, in denen Ruhelosigkeit,
Unstetigkeit herrscht, in denen die Heimatlosen leben, also wir, die Kinder
Kains.
Starker Tobak? Bestimmt. Vielleicht gefällt mir diese
Parabel von Kain und Abel deshalb, weil auch ich in mir diesen Konflikt
zwischen Stadt und Land spüre, dem Reutlingen mit seiner jüngsten Geschichte
sogar erheblich Nahrung gibt.
Unsere Stadt, in der ich 1981 nach einem gewissen
Nomadendasein mein Zuhause fand, hat sich in der Zeit, in der ich sie kenne
(seit 1970), immer wieder geändert, ziemlich markant in der Amtszeit von
Oberbürgermeisterin Barbara Bosch. Und ruhelos auf Veränderung aus ist diese
Stadt auch weiterhin. Ob das, was sich änderte und ändern wird, immer gut ist,
ist die Frage, aber Unstetigkeit ist das Merkmal aller Städte. Ebenso der
Versuch der permanenten Landnahme, Bauern siedelten traditionell außerhalb der
Stadt, in den Dörfern, die sich ja gerade im Kreis Reutlingen durch einen signifikanten
Größenunterschied zur Stadt auszeichnen. Das gilt auch für die anderen Städte
im Kreis.
Wenn man auf die letzten zwei Jahrzehnte zurückblickt, dann
kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Verstädterung
Reutlingens besonders stark vorangetrieben wurde. Der Flächenfraß sei enorm,
wie uns der Film von Sabine Winkler aufzeigt. Reutlingen will mehr und mehr für
sich das ernten, was es gesät hat. Deshalb war der Versuch, ein eigener
Stadtkreis zu werden, logisch. Aber dieses Ansinnen fand nicht das Wohlgefallen
der übergeordneten, gesetzgeberischen Instanzen, also des Landtages. (Fast ist
man hier in dem Verhältnis von CDU zu den Grünen ein ähnliches Paradigma wie
zwischen Kain und Abel vermuten, aber das wäre eine völlig andere Story...)
Reutlingen ist Kain. Irgendwie jedenfalls. Mit dem Wunsch
nach Auskreisung war es ja fast auch dem Vorwurf eines Brudermordes ausgesetzt,
wollte ja offensichtlich nicht mehr der "Hüter" seines Bruders, des
Landkreises, sein. Und der Gesetzgeber - so er denn seinen Kompromiss
durchsetzt - will nun diese Stadt auf eine lange Reise schicken, eine Reise, in
der Stadt und Land einen neuen Weg
zueinander finden sollen. Das gefällt natürlich nicht.
So ist Reutlingen wieder "nod", wieder unterwegs.
Vielleicht wird es dabei merken, dass es in seinen eigenen Grenzen ein eigenes
Kain-und-Abel-Problem hat: das Verhältnis der Stadt zu den in den siebziger
Jahren eingemeindeten Dörfer. Hier empfinden sich die Bürger bis heute immer
noch in erster Linie als zu ihrem Dorf zugehörig und nicht als Reutlinger. Sie
sind eher Abel als Kain. Dieses Verhältnis steht momentan nicht zum besten,
weshalb sich die Kandidaten um das Amt des Oberbürgermeisters ganz besonders um
diese Orte kümmern. Denn sie wissen: hier ist die Wahlbeteiligung hoch, hier
wird wahrscheinlich die Wahl entschieden. Hier leben auch die Menschen, die
immer wieder von einer Ausstädterung ihres Dorfes träumen - fast bis hin zu aufflackernden
Gelbwesten-Attitüden.
"Die Zukunft der Stadt ist das Dorf", hieß es
einmal auf einem Stadt-Land-Fluss-Kongress im vergangenen Jahr. Stadt und Land
sollten Frieden miteinander schließen, ist der fromme Wunsch dahinter. Kain und
Abel sind Brüder, aber der eine wollte das Land für alle, das war Abel. Der andere
wollte es für sich, das war Kain. Das war der Konflikt, den wir bis heute spüren.
Das zeigt sich im Thema Flächenfraß allemal sehr deutlich. Die Grünen zum
Beispiel spielen die Rolle Abels, Umwelt steht über allem. Die
"bürgerlichen" (!) Parteien hingegen sind in der Tendenz eher für die
Gebietsansprüche der Wirtschaft, des Wohnens, des Verkehrs.
Nach der Ermordung seines Bruders hat Kain das Leben seines
Bruders als Nomade weitergeführt. Aber er durchstreifte nicht ihm bekannte
Lande, er irrte durch die Welt. Diese Menschen, die von irgendwoher kommen,
hochqualifiziert sind, bestens und auch doppelverdienend, sind auch heute die
insgeheim umworbenen Menschen, die eine Stadt wie Reutlingen gerne in ihren
Stadtgrenzen hätte. Sie sind urban und digital global zugleich, beides Ausdruck
einer Moderne, die allerdings auch ziemlich ziellos daherkommt.
Kain schuf mit den Städten die erste und bislang auch mit
Abstand größte und komplexeste künstliche Welt des Menschen, eine Welt, die so
künstlich ist, wie sie uns erst jetzt durch die Digitalisierung richtig bewusst
wird.
In der Romantik, die der Zeit der Aufklärung folgte und die
den Beginn der Industrialisierung, der Industriellen Revolution, begleitete,
gab es die Vorstellung, dass Systeme ihr eigenes Bewusstsein hätten - eines,
das größer sei als je ein Individuum sein könne. Städte sind solche
Über-Ich-Systeme. Frau Bosch hat versucht, mit ihrem Markenbildungsprozess das
Über-Ich Reutlingens zu bestimmen - ein Über-Ich, dem sie mit dem Bau der
Stadthalle und anderer architektonischer Projekte Ausdruck geben wollte. Die
Reutlinger sind ihr bis in die Dörfer hinein nicht unbedingt und schon gar
nicht bedingungslos gefolgt. Die Stadthalle ist nicht identitätsstiftend -
weder für Stadt noch fürs Land. Sie ist trotz der majestätisch distanzierten
Architektur ein reiner Funktionsbau. Man ist versucht zu sagen: Sie wirkt wie
das Kainsmal unserer Stadt. Sie ist ein Symbol dafür, dass Reutlingen eine
Stadt ist und nicht Land. Aber die fehlende Identifikation damit zeigt, dass
diese angebliche Großstadt zugleich auch immer noch sehr stark Land ist. Eine
sehr schwierige Situation, die jeder der Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters
zu spüren bekommt.
Wen immer wir im Februar zum Oberbürgermeister der Stadt
wählen werden, er wird entscheiden müssen, wohin Reutlingen unterwegs ist,
"nod" ist. Die Antwort darauf, das wissen wir jetzt ganz genau, wird
er nicht aus Stuttgart bekommen. Reutlingen wird kein eigener Stadtkreis. Die
Landespolitik erschöpft sich an sich selbst, ist ohne Courage, lebt und liebt
keine neuen Konzepte. Sie ist nicht Kain.
Wir, die Bürger dieser Stadt, müssen nun die Antwort geben. Auf
uns kommen Zeiten des Übergangs zu. Die nächsten fünf bis acht Jahren müssen
unsere Zeiten sein. Wir sind der Souverän. Bei der OB-Wahl können wir dies
ebenso zeigen wie bei der Kommunalwahl. Durch hohe Wahlbeteiligung und durch
hohe Aufmerksamkeit. Mit dem Kompromissvorschlag will das Land Reutlingen auf
den Weg einer allmählichen, stufenweisen, gemanagten Transformation bringen. So
muss man jedenfalls diesen im ursprünglichen Sinne "faulen"
Kompromiss verstehen. Das wird nicht funktionieren. Zeiten der Transformation sind
immer sprunghaft. Die Stadtkreisgründung wäre ein solcher Sprung gewesen, ein
Sprung durchaus ins Ungewisse. Vor dem hat aber dieses Land und seine Regierung
eine Heidenangst. Die "Obrigkeit" ahnt, dass all das, was sie bislang
adelte, die Industrie, vor allem die des Automobils, vor gewaltigen Umwälzungen
steht. Umso mehr möchte man den Augenblick, wie er jetzt ist, anhalten. Fatal.
Denn es ist wie im griechischen Drama: Je mehr man versucht, sein Schicksal
aufzuhalten, desto unweigerlicher kommt es auf einen zu.
Springen wir also ins Neue Jahr. Mit frischem Mut.
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer