Vorbemerkung. Du liegst im Bett. "Grippaler Infekt", wie es heute etwas umständlich heißt. Also Grippe. Nicht schwer, aber doch lähmend. Du schläfst viel. Dazwischen bist du richtig wach. Dann wirbeln Gedanken und Träume durcheinander. Nicht sehr erholsam oder gar heilsam. Irgendwie brauchst Du ein Thema, mit dem Du diese Bettlagerei meistern kannst.Du kramst in all den Projekten herum, die Dich - wenn Du gesund und munter wärst - jetzt voll in Anspruch nehmen würden. Nur nicht an Arbeit denken, das macht Dich nur unruhig, schüttelst Du Dein Kopfkissen auf. Da ist allerdings etwas, was Dich schon lange beschäftigt: Wer wird mein OB?Ich denke daran, dass der geschätzte Reutlinger General-Anzeiger einen Wahlomat entwickelt, über den ich mich meinem Kandidaten nähern kann. Diese Dinger haben mir schon bei anderer Gelegenheit nicht geholfen, waren ein Jux für nix. Und im Moment hilft Dir der GEAmat schon gar nicht. Du brauchst etwas für jetzt. Da fiel mir diese Geschichte ein, deren ersten Teil Sie nun hier lesen. Ich hoffe, dass ich morgen weiterschreiben kann. Im Kopf ist alles fertig.
Von Raimund Vollmer
Ein OB räumt auf
Reutlingen. Es ist Montag, 8. Januar 2024. Seit fünf Jahren ist mein Oberbürgermeister
im Amt. (Ob der OB ein Mann ist oder Frau, spielt in dieser Erzählung keine
Rolle, ich benutze hier einfach nur das grammatische Geschlecht.) Er hat seinen
Job bislang sehr ordentlich gemacht, den Gemeinderat sicher durch alle
Beratungen geführt, seine Dezernenten hat er im Griff, die Verwaltung ebenso. Keine
Skandale. Es ist nach außen hin ein souverän gemanagter Job. Aber mein OB ist unzufrieden.
Vor allem mit sich selbst. Der Fließsand des täglichen Geschäftes hat ihn so
gelähmt wie mich die Grippe.
Beim Neujahrsempfang gab es nur nette Worte - von ihm und an
ihn. Und doch ist er sehr beunruhigt. Er sieht am Horizont düstere Wolken
aufziehen: den demographischen Wandel wird keine Charme-Offensive, keine
Neubestimmung des Markenkerns aufhalten. So viele junge Leute konnte man gar
nicht anlocken, wie Reutlingen in den kommenden Jahren jeden Tag an die
Rentenkasse verlieren werde - und leider auch an die Friedhöfe. Und das würde
sich in den nächsten Jahren beschleunigen. Das weiß man eigentlich schon seit
zehn Jahren. Seine Vorgängerin hatte sich leidenschaftlich darum bemüht, diesem
Trend zu stoppen - und dabei sogar auf
das Mittel der sich selbst erfüllenden Prophezeiung gesetzt.
Unermüdlich hatte sie über ihre Verwaltung, Gemeinderäte und
die seriöse Presse behaupten lassen, dass Reutlingen jährlich um 1000 Bürger
wachse. Das hatte - vor allem nach den eigenen Berechnungen der Stadt - nie
gestimmt, es waren maximal 750 und das auch nur in den Ausnahmejahren 2015 bis 2017,
den Flüchtlingsjahren. 2018 - in ihrem letzten Amtsjahr - waren es noch nicht
einmal die Hälfte gewesen. Keine 400 waren netto dazu gekommen.
Der Megatrend war negativ, da konnten auch Hochhäuser, kulturelle
Angebote und neue Gewerbegebiete nicht drüber hinwegtäuschen. Er hatte in
seinen ersten fünf Jahren in dieser und in mancher anderen Hinsicht versucht,
den Realitätssinn auf allen Ebenen der Verwaltung, der Gemeinderäte und der
Medien zu schärfen. Aber viele von ihnen träumten immer noch von der Großstadt
an der Echaz, von dem Metro-Tor zur Alb.
Reutlingen musste endlich zu sich selbst finden. Das war ihm
mit jedem Tag im Amt klarer geworden. Und eigentlich hatten ihn deshalb die
Bürger dieser Stadt 2019 gewählt.
Es wurde Zeit, ein deutliches Signal zu setzen. Deshalb
hatte er die Vorsitzenden aller Fraktionen und Gruppierungen heute zu sich ins
Rathaus einberufen. Es galt, Tacheles zu reden.
"Die Herrschaften sind jetzt da", hatte ihm justament
sein Assistent signalisiert. Mein OB stand auf und ging hinüber in den kleinen
Saal. Er begrüßte die "Herrschaften" freundlich und übernahm sofort
den Vorsitz. "Ich sehe, alle sind mit Kaffee und Wasser versorgt. Dann
können wir ja loslegen."
Er brauchte nicht lange, um zum Kern der Sache vorzustoßen.
Der Wahlkampf um ein neues Stadtparlament stünde bevor, er wünsche sich einen
fairen Wettstreit der Argumente usw. Er wolle sich da nicht einmischen. So habe
er sich das vorgenommen, vor fünf Jahren, als er gerade das Amt angetreten
hatte, hätte er sich auch komplett herausgehalten. Aber in einem Punkt sei es diesmal
anders. Nun merkte er, dass er die Aufmerksamkeit der "Herrschaften"
voll geweckt hatte. Welcher Punkt? Er sah das riesengroße Fragezeichen in ihren
Politikeraugen.
Jetzt würde es brutal werden. Er räusperte sich kurz.
"Ich habe hier ein paar Namen aufgeschrieben, die ich bei der kommenden
Wahl auf keiner der Listen sehen möchte", erklärte er.
Aus den Fragezeichen blitzte blankes Entsetzen. Das war
unglaublich! Das war skandalös. Das war... Selbst den hartgesottensten
Politikern stockte der Atem, fehlten die Worte. Dann setzte der Tumult ein.
Mit schneidender Stimme ging mein OB dazwischen. Es wurde
mucksmäuschenstill an diesem übergroßen Tisch, der jeden klein aussehen
ließ. "Natürlich müssen Sie sich nicht daran halten. Und ich weiß, ich
hätte Ihnen diesen, meinen Wunsch auch im Säuselton und mit diplomatischem
Fingerspitzengefühl nahebringen können - möglichst noch in Einzelgesprächen."
Doch genau darauf hatte er bewusst verzichtet, um "Ihnen, meine lieben Ratskollegen,
den Ernst der Lage beizubringen. Sollten Sie meinen Wunsch ignorieren, was Ihr
gutes Recht ist, werde ich mich definitiv in drei Jahre nicht mehr zur
Wiederwahl stellen. Einfacher können Sie mich nicht loswerden."
Es war dann einer der ältesten Ratsmitglieder, der mit
seiner tiefen, sonoren Stimme das Wort ergriff. "Oberbürgermeister",
sagte er. ohne weitere Anrede, "was Sie da von uns verlangen, ist pure
Erpressung. Ich nehme an, dass ich Ihnen bewusst." Mein OB ist kein
Zyniker, sonst hätte jetzt ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielt.
"Bitte weiter", sagte er nur. Der Ratsherr kommt nun langsam in
Fahrt. "Sie wissen, dass ich schon etliche Jahre Mitglied unseres
Stadtparlamentes bin. Aber ein solcher Affront ist mir noch nicht begegnet. Ich
nehme an, dass ich auch auf Ihrer Todesliste bin." Mein OB schweigt immer
noch. Ein anderer hakt ein: Ja, es wird Zeit, dass Sie uns die Namen derer, die
verschwinden sollen, endlich nennen." Darauf hatte mein OB nur gewartet,
der übrigens weitaus heftigere Reaktionen vermutet hatte. Aber er hatte die
Kollegen wohl komplett überrumpelt. "Natürlich, hier ist die Liste."
Er blättert einige Exemplare auf den Tisch, die ruckzuck zu den Mitgliedern
wandern. Für eine Minute herrscht Ruhe. Es ist dann eine Ratsfrau, die die
Stille durchbricht. "Unabhängig davon, welche Namen hier stehen, Sie
wissen genau, dass Sie sich mit dieser Liste in unsere Hand begeben. Sie ist
ein Skandal, wenn das an die Öffentlichkeit kommt, bricht das Ihnen ihr Genick." - "Meinen Sie?"
antwortet mein OB, "ich sehe das eher umgekehrt. Dann wird das vor allem
den Namen auf dieser Liste schaden. Vor allem dann, wenn ich gezwungen werde
eine Begründung zu liefern, warum diese Persönlichkeiten auf der Liste stehen.
Im übrigen weiß ich, dass hinter der Hälfte der Namen Menschen stehen, die
selbst schon erklärt haben, nicht mehr anzutreten. Sie wissen - wie ich -, dass
sie altersmäßig an ihre Grenzen stoßen. Ich will nur sichergehen, dass es dabei
bleibt."
Die Ratsfrau, die wie die anderen irgendwie noch immer etwas
hilflos wirkt, will nun wissen, warum die anderen Namen darauf stehen. "Das
grenzt an Diskriminierung, ja, das ist diskriminierend", wird sie heftig.
Jetzt lächelt mein OB zum ersten Mal. "Ich nehme keinen Bezug auf einen
konkreten Namen", erklärt er in einer Ruhe, die er selbst von sich nicht
erwartet hatte, "aber ich kann Ihnen versichern, die politische Meinung
hat dabei überhaupt keine Rolle gespielt. Nach fünf Jahren im Amt kann ich mir
ja wohl erlauben, das Engagement einzelner Ratsmitglieder zu beurteilen. Und da
zählt nicht nur die Präsenz in den Sitzungen oder in der von allen so
geliebtgehassten Presse. Da zählt das intellektuelle Engagement. Damit wir uns
nicht missverstehen, diese Liste meine rein persönliche Einschätzung. Und bevor
ich jemanden darauf gesetzt habe, bin ich sehr lange in mich gegangen."
Das Problem war, dass die Ratsmitglieder, wären sie selbst
auf den Gedanken gekommen, eine solche Liste zu ersten, dieselben Namen ausgesucht
hätten. Und solang war die Todesliste auch nicht. Dennoch: So etwas ging
einfach nicht!
"Bevor Sie sich in irgendetwas hineinsteigern und
vielleicht Unüberlegtes tun, seien Sie versichert, dass sich Ihr
Oberbürgermeister das sehr lange überlegt hat. Ich bin bereit, diese Risiken
einzugehen. Ob sie eintreffen,
entscheiden letzten Endes Sie. Ich möchte nur noch hinzufügen, dass ich im
Prinzip Ihren Job mache. Dass unser Stadtrat heute so aussieht, wie er ist, in
dieser Zusammenstellung an Fraktionen und Gruppierungen ist nicht mein
Verschulden. Die etablierten Parteien haben alle Sitze verloren, weil sie zu
spät - und eigentlich bis heute nicht so richtg - den Generationswechsel
vollzogen haben. Quote stand bei Ihnen zu oft vor Qualifikation."
Ein bisschen gepudelt kamen sich die
"Herrschaften" nun doch vor. Aber das war doch alles kein Stil!
"Meine lieben Freunde", wurde jetzt der Ton meines
Oberbürgermeisters besänftigend. "Betrachten Sie die Liste als meinen
Wunsch, der - falls er nicht in Erfüllug geht - zuerst einmal Konsequenzen für mich
hat. Ich werde nicht zurücktreten, sondern nur nicht wieder antreten. Es hat
aber auch Konsequenzen für Sie, die sich - je nach Einstellung - nach einem
neuen Kandidaten umsehen müssen. Ich bin so fair und weise Sie drei Jahre
vorher auf diese Folgerung hin."
Dann steht mein OB auf. "Ich werde Sie jetzt alleine
lassen - zur Beratung. Sie müssen noch keine Entscheidung treffen, aber ich
möchte mich Ihrem Schlussurteil für den heutigen Tag stellen. Bevor ich gehe,
darf ich darauf hinweisen, dass ein Aspekt bislang von keinem von uns ins Feld
geführt wurde: Es geht um das Wohl dieser Stadt. Das ist keine Phrase. Ich sehe
immense Herausforderungen auf unsere Stadt kommen - allein durch den
demographischen Wandel, der ja alle Strukturen in dieser Stadt auf den Kopf
stellen kann. Es ist nicht die Digitalisierung, es geht um uns, die Bürger. Und
wenn Sie jetzt Ihre Listen aufstellen für die Kommunalwahl, dann denken Sie
bitte daran, wir brauchen Leute, die sich engagieren - und damit sie das können,
unsere volle und vorbehaltlose Unterstützung benötigen. Unsere Beamten wissen
sehr wohl, wer sie nur für PR-Zwecke ausnutzt oder wem es wirklich um die
Zukunft, um unsere Sache geht. Aber das ist auch nicht einmal entscheidend. Die
Probleme, die wir zu lösen haben, müssen von Ratsmitgliedern gemeistert werden,
die für sich eine Präsenz von zehn Jahren auf ihrer Erwartungsliste haben. Es
geht nicht nur um diese Wahl und meine Wiederwahl, es geht heute auch schon um
die Wahl im Jahr 2029. Diese Stadt braucht gute, frische, leidenschaftliche Leute."
Dann verlässt er den Saal, meint aber noch im Hinausgehen. "Wenn
Sie mit Ihren Beratungen fertig sind, geben Sie mir bitte Bescheid. Ich würde
gerne auch noch etwas anderes mit Ihnen besprechen".
Fortsetzung folgt
7 Kommentare:
Ach, nee. Stoßen wir so auf den Kern des Problems? Personaldiskussion, das lieben die Bürger. Wer denkt das wirklich?
Nun, warte doch ab!
Hallo Raimund,
gute Besserung
Gruß
Michael Staiger
Fortsetzung folgt?? Bloß nicht! Dieser Blödsinn darf nicht auch noch Junge kriegen
Tja, der Blödsinn liegt manchmal sogar in einem Kommentar.
Wie heißt es in einer Comedy-Serie auf WDR2 so schön: Irres ist menschlich!
:-)))))))
Nur das Beste für das neue Jahr wünscht der Analyst, vor allen Dingen gute Besserung
the monkeyshine lies in the eye of the beholder...
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