Dienstag, 26. Februar 2019

OB-Wahl 2019: Die Irrtümer unserer Politiker


Eine kleine Polemik nach der Wahl - Von Raimund Vollmer

Der Platz der Nichtwähler am 25. Februar 2019

Enttäuscht ist das offizielle Reutlingen über die Wahlbeteiligung beim 2. Urnengang am Sonntag, 24. Februar 2019. Dazu gibt es keinen Grund. Erstens entspricht sie genau dem Landesdurchschnitt der letzten Jahre - auch vor dem Hintergrund einer echten Entscheidungswahl. Zweitens liegt die Wahlbeteiligung deutlich über dem Durchschnitt anderer Länder - in NRW changiert sie offenbar bereits bei 30 Prozent. Beim zweiten Wahlgang ist die Wahlbeteiligung sogar zumeist niedriger als bei der ersten. In Reutlingen ist sie sogar leicht gestiegen. Nichtsdestotrotz ist das abfallende Interesse ein deutliches Signal. Das Gefühl, einer Elite ausgesetzt zu sein, die sich vor allem um sich selbst kümmert, ist unter den Bürgern ziemlich weit verbreitet und lässt sie resignieren. Verstärkt wird dies durch den Eindruck der absoluten Selbstbezüglichkeit politischer Systeme. Ob sich die Stadtverwaltung hinter Gutachten verschanzt und ansonsten sich selbst pflegt oder wenn die Stadträte ihre Politik der letzten 30 Jahre nicht wirklich kritisch hinterfragen, es bleibt beim Bürger stets das Gefühl der Ohnmacht. Und dieses Gefühl bringen sie mehrheitlich zum Ausdruck, indem sich 60 Prozent der Wahlberechtigten für unerreichbar erklären. Die politischen Themen dringen gar nicht mehr zu ihnen vor. Sie interessieren nicht. Das ist kein Rückzug ins Private, wie Thomas Keck meint. Das ist schlichtweg eine Ohrfeige und das Ergebnis der Politik der letzten dreißig Jahre. 
Ob solche Theman die Wahl entschieden haben? Eher nein.

Was wurde in den vergangenen 30 Jahren in Reutlingen geschaffen, das ganz einfach die Identifikation mit dieser Stadt auf beeindruckende, auf emotionale Weise gestärkt hat? Nichts. (Und da kann man noch so oft die Stadthalle nennen, ihr Beitrag zur Identifikation ist - wenn überhaupt - minimal.)

Enttäuscht sind Keck & Co. über die Wahlentscheidung der Bürger in den Außenbezirken, in den zwölf Stadtteilen mit eigenem Ortschaftsrat. Hier hatte mit Ausnahme von Kecks Großdorf Betzingen überall sein Rivale Christian Schneider die Nase vorn. Ausgerechnet die Stadtbezirke! Das täte weh, sagt Keck dem braven Generalanzeiger. Sein Problem. Es ist ein heftiger Schuss vor den Bug. Sowohl Keck (25 Jahre Stadtrat) als auch Kabfell (6 Jahre) stehen für eine Politik, die in den Außenbezirken, die ja erst mit ihrer Eingemeindung die Kreisstadt Reutlingen zu dem ersehnten Ziel einer Großstadt gebracht haben, auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Das Stadtmarketing hat sich noch nie für die Außenbezirke interessiert. Nur als Beispiel. Es hat wohl auch nie einen Auftrag in diese Richtung bekommen.

Die Außenweltler haben dann Schneider gewählt, weil er unbelastet war von einer Politik, die nicht jedem gefiel. Vielleicht sind sie sogar deshalb zur Wahl gegangen. Und vielleicht haben sie dabei sogar noch einen anderen Gedanken im Hinterkopf gehabt. Sowohl Kalbfell als auch Keck wären nicht zur Wahl angetreten, wenn die Amtsinhaberin beschlossen hätte, sich ein drittes Mal um das höchste Amt in der Stadt zu bemühen. Beide sahen sich in der Kontinuität zu einer Politik, die spätestens nach der Auswertung der Markenbefragung als nicht sonderlich willkommen angesehen wurde. Frau Bosch musste erkennen, dass ihre Politik keineswegs so erfolgreich war, wie sie bestimmt selbst gedacht hat.

Das gilt insbesondere für die Außenbezirke: Sanierungen erschienen manchmal eher als überfällig, denn getrieben von dem Wunsch, einen Ort neu zu gestalten. Und wenn es dann in letzter Zeit geschah, dann hatte man den Eindruck, dass den Dörfern das vergiebelte Ländliche ausgetrieben wurde, um Quartieren ihren kubistischen Platz zu geben. Zudem wollte man den Außenwelten mehr und mehr Aufgaben zuschanzen, die genuin Sache der einstigen Industriestadt zugerechnet wurde. Sie expandierte mit der Eingemeindungswelle der siebziger Jahre ihre Wohngebiete, nicht ihre Industrielandschaften, die sich im Übrigen angesichts des Strukturwandels in Auflösung befanden.

Da fand in den letzten zwanzig Jahren eine kopernikanische Wende statt: Idylle nach innen, Industrie nach außen. Das war und ist das Empfinden mancherorts. So sollte es auch mal ohne Wenn & Aber akzentuiert werden - vor allem im bevorstehenden Kommunalwahlkampf. Auf der Basis sollte - ohne diese langweiligen Beschwichtigungsformeln - diskutiert werden. Und wenn dann einer kommt mit dem Totschlagargument "Aber die Wirtschaft", dann sollte man erwidern: Was ist mit der Wirtschaft? Wo war sie in den letzten 30 Jahren? Wo will sie hin in den nächsten 30 Jahren?

Besonders unangenehm war es in all den Jahren, wenn mit nicht geringem offiziellem Engagement uns als Schönheit verkauft wurde, was unser innerstes Empfinden als potthässlich einstufte. Ich habe dann mitunter an meiner eigenen Urteilsfähigkeit gezweifelt (was ja grundsätzlich nicht schlecht ist). Die wurde dann wiederhergestellt, als das hemmungslos positiv städtische "Reutlingen.de" auf Facebook vor einiger Zeit einen Film über unsere Stadt empfahl, in dem nur altmodische Giebelhäuser und prächtige Grünanlagen zu sehen waren. Selbst die Stadt hat offensichtlich ein anderes Bild von der Stadt, als ihre Politik in den letzten zwanzig Jahre mit ihren Entscheidungen realisierte. Wirklichkeit und Vorstellung driften auseinander. Und diese OB-Wahl weist uns sehr deutlich daraufhin, dass diese Wahrnehmung wieder vereint werden muss.

Hat die Wohnungsbaupolitik, für die Thomas Keck steht, die Wahl entschieden? Mein Eindruck ist, dass der Druck in dieser Richtung so hoch ist, dass wohl jedem der Kandidaten zugetraut wurde, dieses Thema energisch anzupacken. Denn sonst kannst Du einpacken. 
Aber es lohnt sich beim bevorstehenden Kommunalwahlkampf ein Blick auf eine ganz andere Entwicklung zu werfen.115.862 Menschen lebten im Januar 2019 in unserer Stadt. Das sind exakt 100 Menschen mehr als im Dezember 2017. (Diese Zahlen - so mein Eindruck - muss man sich umso mühsamer zusammensuchen, je mehr sie gegen die eigene Wunschvorstellung eine Stagnation widergeben.) Nichts zu sehen von einem Wachstum um 1000 Einwohner pro Jahr. Und das liegt nicht am Wohnungsmangel. Reutlingen ist bei weitem nicht so attraktiv, wie uns unsere Stadtverwaltung und unsere Stadträte in den vergangenen Jahren weiszumachen pflegten. Das Wachstum kam wohl vor allem durch die Flüchtlinge, die nun eher die Stadt verlassen als mehr werden. Ob sich damit auch der Wohnungsmarkt abschwächt, ist eine andere Frage - vor allem eine der Nachfrage.

Damit wird ein anderes Problem vollends sichtbar - und den Stadträten mächtig auf die Füße fallen: der demographische Wandel. Er war im Wahlkampf gar kein Thema. Aber es wird in den nächsten Jahren das Thema schlechthin werden - ein Thema, das sich nicht mehr verheimlichen lässt.

Der neue Oberbürgermeister hatte zum Eingang seines Wahlkampfes das Thema "Bürgergesellschaft" adressiert. Ja, es wird sein Thema werden. 
Fortsetzung folgt





Bildertanz-Quelle:RV

Sonntag, 24. Februar 2019

Reutlingen bleibt einsilbig: Keck wird neuer OB


KECK in Vorfreude. So erlebte ihn der Bildertanz im Dezember 2018. Mit dem Hut in der Hand. Nun hat er ihn auf dem Kopf - und die Amtskette folgt. Wir gratulieren dem Sieger, der mit 72 Stimmen Vorsprung vor Dr. Christian Schneider gewählt wurde, GRATULATION. Die Wahkbeteiligung war zumindest nicht niedriger als vor drei Wochen. Nach Barbara Bosch ist er der zweite OB, dessen Nachname aus nur einer Silbe besteht. Was immer das bedeutet... (Wahrscheinlich nix.) Alles andere werden wir demnächst sehen. Wir werden ihn jedenfalls gerne und offenen Sinnes begleiten. 

Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer

Mittwoch, 20. Februar 2019

Der Weg zur OB-Wahl in Reutlingen: Das Gute in uns


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Wer immer am Sonntagabend unser neuer Oberbürgermeister sein wird, einen Boris Palmer bekommen wir garantiert nicht. Wenn den Kandidaten zur heutigen GEA-Frage nach den Visionen nichts anderes einfällt als die, den Visionen anderer zu folgen, oder die Luft zu reinigen und den Verkehr zu bereinigen oder mit einer Bundesgartenschau Subventionen abzuschöpfen, dann sind ihre Ideen sicherlich kein Fall für den Psychiater, den man - so zitiert der GEA in seiner unnachahmlichen Normalität den Altkanzler Helmut Schmidt - sonst bemühen müsste.
Die "Visionen" sind so altbacken, dass man sich fragen muss: Was denken diese Kandidaten eigentlich über uns, die Wähler? Der Vierte im Bunde, der "Partei"-Kandidat Andreas Zimmermann, hält uns in seiner "aktuellen Vision" wenigstens direkt den Spiegel vor. Er meint, dass "das Gros der Reutlinger immer noch erzkonservativ" ist.
Er sagt es unverblümt, was wohl jeder von uns irgendwann einmal ähnlich gesagt oder gedacht hat. Als Stoßseufzer. Das Problem ist, dass wir in Reutlingen die "Progressiven" von den "Konservativen" kaum unterscheiden können - weil wir selbst mal so oder so sind. Was progressiv und was konservativ ist, wer kann das heute wirklich noch unterscheiden?  
Der eine spricht von "sozialer Gerechtigkeit", der CDU-Mann und Verwaltungsjurist Schneider, dem Schmusewort der Deutschen, das eigentlich ein Widerspruch in sich ist. Entweder ist etwas sozial oder gerecht. Beides bekommt man - leider - immer nur zum Preis des anderen.
Aber Schneider appelliert ja an das Gute in uns.  
Der andere spricht davon, dass "jeder in unserer Stadt guten und bezahlbaren Wohnraum findet". Niemand kann da dem SPD-Mann, Stadtrat und Bezirksbürgermeister Keck widersprechen - schon gar nicht die Fachleute, auch nicht die Investoren, die mit neuem Hochwohnbau und Kubismus dafür sorgen, dass andernorts guter und bezahlbarer Wohnraum frei wird. Dies ist die Top-Down-Strategie des bisherigen Stadtrates, die weit entfernt von einem Sozialstaat ist, der sich einmal dadurch definierte, dass er sich direkt um die Bedürftigen kümmerte und nicht jeden zum Bedürftigen (Warnung Ludwig Erhards) erklärte.
Aber Keck hat das ja so nicht gesagt. Auch er glaubt an das Gute in uns.
Der Dritte im Bunde benutzt das Wort "Vision" erst gar nicht, weil es die heile Welt, die es bereits bei uns gibt, nur in ihrer grandiosen weltoffenen, toleranten Art zu optimieren gilt. Ja, der FDP-Mann und Kommunaljurist Carl-Gustav Kabfell wird sogar sehr konkret und plant die Bundesgartenschau in Reutlingen, irgendwie als Zeichen für alles, was Reutlingen ausmacht. Das ist die wunderschöne Welt des Carl-Gustav, der man ja eigentlich auch nicht widersprechen kann. Denn sie gibt dem Guten in uns, der sehnsuchtsvollen Verbindung zu Natur und Kultur, wieder einen Ausdruck. Für ein Jahr ist jeden Tag Sonntag in unserer Stadt.
Aber - nein, da gibt es kein Aber. Carl-Gustav bringt das Gute in uns zur vollen Blüte.
Ach, da war ja noch dieser Andreas Zimmermann. Er hat auch so einen Hauch von Vision. Er möchte einmal sagen können: "Ich komme gerne in diese Stadt zurück". Er muss eigentlich nur darauf warten, dass die Visionen seiner Mitbewerber wahr werden.
Derweil glaube ich auch an das Gute im Menschen: Geht zur Wahl, auch wenn es bei so viel versammelter Güte schwerfällt, sich zu entscheiden. 

PS. Übrigens habe ich das Gute im Online-Auftritt des GEA vergeblich gesucht. Die Antworten der Kandidaten habe ich jedenfalls dprt nicht gefunden. Wenn das Suchen länger dauert als das Lesen, dann geht man am besten gleich zum nächsten Kios oder abonniert die Zeitung. Sie hat's bitter nötig. Obwohl Reutlingen ja angeblich jedes Jahr um 1000 Bürger wächst, verliert das Blatt jedes Jahr 1000 Abonennten. Irgendwie schade. RV

Mittwoch, 13. Februar 2019

Altenburg am Neckar: Mein Freund Vittorio






Vittorio ist tot. Ein Musiker mit Leib und vor allem viel, viel Seele. Leidenschaftlich, feinfühlig, romantisch, dickköpfig  - und ein wenig an Ludwig van Beethoven erinnernd. 1946 in Süditalien geboren kam er in den sechziger Jahren nach Deutschland, nach Reutlingen und fand vor 30 Jahren in Altenburg seine zweite Heimat. Denn Italiener blieb er immer. Sein Deutsch war perfekt, absolut, so perfekt, dass man ihn eher für einen Norddeutschen gehalten hätte als für einen Südeuropäer. Seine kompetente Sturheit, die ich als Westfale durchaus zu schätzen wusste, war schön überwältigend. Für seinen Dickkopf litt er gerne, aber das, was ihn an Schicksalsschlägen in den letzten 20 Jahren ereilte, war einfach nur noch ungerecht. Seine eigene Erkrankung, die ihn jetzt in den Tod führte, war vielleicht das, was er noch am ehesten ertragen konnte. Der Tod seiner ältesten Tochter und all die anderen, kleineren und größeren Schicksalsschläge im Kreis seiner Familie, haben seine Tapferkeit bis aufs Äußerste strapaziert. Und dennoch blieb er ganz bei sich selbst, ein Charakterkopf.
Vor 15 Jahren, im Mai 2004, hatte er bei einer Aufführung des Ausländerbeirats im Spitalhof aufgespielt. Er hatte mich gebeten, ihn zu begleiten. Dastat ich natürlich gerne, war mir sogar eine Ehre. Zu diesem Zeitpunkt waren wir beide dabei, in Altenburg den "Bildertanz" vorzubereiten - als multimedialen Dorfabend, wobei wir -bis auf ein Musikstück - ausschließlich seine Kompositionen, seine Arrangements, von ihm selbst gespielt, einsetzten. Unsere Festhalle war proppevoll. Ein großer Triumph für ihn.
Doch zurück zu diesem Maienabend im Jahr 2004. Vittorio spielte - und ich dachte mir so, dass es aus diesem Anlass ein Foto mit unserer fruschgekürten Oberbürgermeisterin, die ja auch anwesend war, geben müsste. Ich habe sie dann gefragt - und sie war dazu gerne bereit. So entstand dieses Foto.
Uns verband eine sehr widersprüchliche Freundschaft. Aber im Grunde unseres Herzens haben wir uns gemocht wie Brüder. Zusammen haben wir vor 20 Jahren etwas ganz Verrücktes versucht: Wir haben zusammen ein Musical geschrieben. Für Schulen. Er hatte versucht, mit das Klavierspielen beizubringen - und ist erfolgreich an meiner Unfähigkeit gescheitert. Aber in dieser Zeit haben wir beide uns viel über Musik unterhalten. Er wollte die echte, die nicht programmierte Musik. Die wahre Liveaufnahme. Und das war dann auch ein Thema im Hintergrund dieses Musicals. Es wurde das am meisten nicht aufgeführte Musical der Welt. Wir haben eigentlich immer nur ein paar Stücke daraus präsentiert, wunderbar gesungen von seiner Tochter Manuela.
Vielleicht hätten wir beide noch einiges in das Musical an Grips und Kreativität investieren müssen, um es in seiner Gänze anbieten zu können. Wir haben es auch schüchtern, wie wir waren, versucht. Aber es gefiel wohl nicht. Reutlingen eben. Oder wir waren nicht gut genug.
Aber wir haben gemeinsam etwas Verrücktes getan. Nun ist Vittorio im Himmel. Und ich weiß genau: das Halleluja ist nun ein Stückchen italienischer geworden.(Raimund Vollmer)
Vittorio - ein Freund für alle Zeiten. 
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer

Sonntag, 10. Februar 2019

REUTLINGEN BEI NACHT. Eine Geisterstadt?










Natürlich nicht - zumindest in den Abendstunden pulsiert hier das Leben. Autos rauschen vorbei. Die Wilhelmstraße leuchtet vor sich hin. Die Müller-Galerie ist von sich selbst verzaubert. Über den Dächern herrscht Ruh - und der Hochhausheilige Züblin. Reutlingen kann so schön sein. Wie geleckt. Dimitri schafft es einfach, diese seltsame Stimmung, in die sich unser Reutlingen abends eintaucht, wunderbar widerzugeben. Euer Charley
Bildertanz-Quelle: Dimitri Drofitsch
Bildertanz-Quelle:

Montag, 4. Februar 2019

OB-Wahl 2019: Eine andere Form der Bürgernähe


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer






Zwei Jahrzehnte lang investierte die Stadt Reutlingen vor allem in ihre Kernstadt, dem Teil also, der für Großstadt steht. Mit einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent in der Stadtmitte zeigte sich einmal mehr, dass es keine Investition in mehr Bürgernähe war - in mehr Nähe der Bürger zu ihrer Stadt und deren Gemeinwesen.

Immer dann, wenn "panem et circenses" angeboten werden, Brot & Spiele, ist die Stadt voll. Dann strömen die Massen in die Stadt - und sie kommen dann auch von überall her. Mehr innere Verbundenheit, Identität gar, schafft dies nicht. Am Ende sind es nur Fleißkärtchen fürs Stadtmarketing - ein Existenznachweis. Ob es den Einzelhandel rettet, ist fraglich. Mit Sicherheit nicht die eigentümergeführten Geschäfte. Die geben mehr und mehr auf. Ketten übernehmen deren Verkaufsräume. Eine Stadt anonymisiert sich. Von 51.213 wahlberechtigten Einwohnern in der Stadtmitte gingen nur 28,3 Prozent gestern zur OB-Wahl. Ein erbärmliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass hier - in diesem so umworbenen urbanen Umfeld - 60 Prozent der Menschen unserer Stadt leben. Hier leben Menschen, für die so vieles, was sie für ihr tägliches Leben brauchen, eigentlich fußläufig zu erreichen sein müsste. Das ist es aber wohl eher nicht. Vorbei die Zeiten, in denen es in der Wilhelmstraße "Kaiser's Kaffeegeschäft" gab oder man gar beim "Horten" im Untergeschoss noch eine Lebensmittelabteilung hatte. 

Die Zielgruppe, auf die doch vom Markenkern bis hin zum Stadtkreis, von der Stadthalle oder "Tonne" bis hin zu neuen Hochhausgestalten alles ausgerichtet war, wird nicht erreicht. Und wenn einer der Bewerber um das Amt des OBs sagt, dass er möchte, dass die Verwaltung den Bürger als Kunden behandelt, dann hat er das bestimmt gut gemeint, aber auch seine Denke verraten: er sieht den Bürger nicht als Bürger, sondern nur als Käufer, als Empfänger. Und so haben sich die Wähler gestern bei dem ersten Wahlgang zur Kür unseres neuen Oberbürgermeisters verhalten. Sie verstehen sich als Kunden.

Das sollte unserem zukünftigen Oberbürgermeister, den wir nun am 24. Februar ermitteln werden, sehr, sehr zu denken geben. Bleibt der noch unbekannte Neue bei der Linie, die vor allem in der Ära Bosch/Hotz/Hahn eingeschlagen wurde, dann wird Reutlingen für viele Menschen zwar ein Zuhause sein, aber niemals Heimat. Sie werden kommen und bleiben wegen des Jobs, nicht aus Zuneigung und Zuwendung. Bürgernähe entsteht so nicht. Diese zu erzeugen wäre die vornehme Aufgabe auch eines Stadtmarketings - gerade angesichts der Tatsache, dass dessen Budget mächtig aufgewertet wurde. Masse statt Klasse ist hier die Devise. Und auch unsere Stadthalle wirkt mit ihrem Programm nicht wirklich identitätsstiftend.

In den Außenbezirken, den Stadtteilen, in unseren Dörfern, ist dem Schreiber dieser Zeilen keine Aktion erinnerlich, in der das Stadtmarketing seine Energie eingebracht hat. Entweder gab es solche Initiativen gar nicht, oder sie hinterließen keine bleibende Gedächtniswirkung. Auf Dorffesten habe ich jedenfalls noch kein bewusstes Auftreten des Stadtmarketings registriert. In Reutlingen gibt es da nur Stadtfeste, mit denen sich die Vereine aus den Dörfern in ihrem Engagement wiederum mehr und mehr schwertun.

Reutlingen ist nicht die Stadt der Dörfer. Und wir alle vermuten, dass dies auch nie ein Konzept war. Was ist sie dann?

Das fragen sich mit Sicherheit nun jene 40 Prozent der Wahlberechtigten, die hier wohnen und die bislang ein im Vergleich zur Stadtmitte erheblich höheres Wahlengagement gezeigt haben. Je weniger Menschen in einem dieser Dörfer wohnen, je kleiner es ist, desto größer die Wahlbeteiligung. Sehr seltsam, oder?

Je weiter vom Stadtkern entfernt, desto stärker die Bürgernähe - also die Nähe der Bürger zu ihrer Stadt. Umgekehrt wird daraus aber noch lange kein Schuh. Am liebsten möchte man diese "Stadtbezirke" (ein Begriff, der den an Eigenständigkeit erinnernde Begriff "Dorf" meidet) in Quartiere umbenennen und umdeuten - also in Versorgungseinheiten. Die Menschen, die sich hier noch als Bürger fühlen (und auch deshalb zum Wählen gehen), werden in einem schleichenden Prozess zu Kunden degradiert.

Ist die Anonymisierung und Passivierung der Lebensverhältnisse der  große Trend, den auch ein Oberbürgermeister nicht stoppen kann, weil er von allen getragen wird, als unausweichlich gilt angesichts immenser Überbelastungen, dann schauen wir traurigen Zeiten entgegen. Dann haben wir alle resigniert.

Das kann nicht sein. Am 24. Februar zeigen wir uns selbst, wie nah uns diese Stadt ist - und gehen zur Wahl.
Bildertanz-Quelle:Sammlung Bildertanz