50 Millionen Euro für ein neues Leben in der Stadt
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Was da geplant und gebaut wird in der Oststadt Reutlingens,
auf dem Gelände der ehemaligen Firma Heinzelmann, ist eindeutig ein Bruch mit
der kalten Pseudomoderne Reutlingens in den letzten 15 Jahren. Sicherlich ist
das kein sozialer Wohnungsbau, der da fast schon in Steinwurfnähe zur Altstadt entsteht,
aber es ist ein echter Beitrag zu der konkreten Lebenswelt. So der Eindruck
nach der Lektüre eines Berichts im Reutlinger General-Anzeiger.
Nach der geradezu aggressiv durchgeführten baulichen Entfremdung
der Stadt von ihrer Geschichte und auch ihren Bürgern passt sich das neue Ensemble
ein in sein durchaus mondänes Umfeld, in das Reutlingen der einstigen Unternehmer-Millionäre,
die ihre Villen oftmals in fußläufiger Nähe zu ihren Fabriken hatten. Statt der
Fabrik entsteht hier nun Wohn-, Lebens- und Arbeitsraum - das ist genau die
Konzeption, die in das 21. Jahrhundert passt und es wohl auch prägen wird.
"Abstraktion als Lebensform" hat - so ist nun zu
hoffen - ausgedient. Deren letzte "Denkmale" sind das Stuttgarter Tor
und das noch zu errichtende Hotel-Hochhaus an der Stadthalle. Auch das
"Blue Village" ist im Prinzip schon Geschichte. Eher an die Welt des
21. Jahrhunderts angepasst wird wohl auch der Katharinenhof in der Katharinenstraße
sein. Vielleicht gewinnt ganz allmählich das Gefühl für Urbanität und nicht für
Banalität und Sterilität die Oberhand.
Die Münchner GIEAG, die hier so viel investieren wird,wie
vor zehn Jahren die Stadthalle kostete, kombiniert Alt und Neu in einer Weise,
wie man sie sich schon lange gewünscht hat. Ein Drittel Gewerbe, zwei Drittel
für Wohnen - heißt die Losung. Aber es gibt keine Sozialwohnungen, was man als
Makel empfinden kann, aber kompensiert wird dadurch, dass inmitten des
Komplexes erstens ein Platz entstehen soll, die historische Werkstatt, obwohl
nicht denkmalgeschützt, erhalten bleibt und zweitens in Erinnerung an die Geschichte
auch der Schornstein stehen bleibt. 160 Menschen werden hier wohnen. Und wenn
man bedenkt, dass die Zukunft nicht mehr von Produktivitätsdenken geprägt sein
wird, sondern von gesellschaftlicher Arbeit, von Interaktivität, dann kann man
sich vorstellen, dass hier tatsächlich das Wohnen, das Leben und die Arbeit -
wie dereinst in der mittelalterlichen Stadt - zusammenrücken.
Städte sind die Orte, die der Natur am weitesten entrückt
sind. Es sind künstliche Welten, allein von Menschen geschaffen - bis in die
Pflanzungen hinein. Sie sind aber auch die kreativsten Orte. Dass die Gebäude
mit Holz entstehen sollen, zeigt aber, dass der Rückgriff auf die Natur selbst
Ausdruck von Kreativität und Erfindungsreichtum sein kann.
Es sind übrigens 50 Millionen, die von auswärts kommen. Der
Bauherr, die GIEAG, hat ihren Sitz in München. Architekt sind die "White
Arkitekter Stockholm".
Bildertanz-Quelle: white/taktics