Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
DER GEA hat heute zwei Botschaften an uns.
Schon auf dem Weg
vom Briefkasten zurück zum Frühstückstisch begegnete uns auf der ersten Seite die
Botschaft, dass den neuesten Plänen der Landesregierung zufolge, sich künftig die Höhe
der Grundsteuer an der jeweiligen Flächennutzung orientiert. Und wie man eine immer
wieder über Tage hinweg brachliegende Fläche wunderbar nutzen kann, wird einem
dann beim Aufschlagen der Lokalseiten aufgezeigt. Im Herbst will dort die Stadt
gemeinsam mit „RT AKTIV“ auf dem Marktplatz ein Riesenrad aufbauen. Mit den Marktbetreibern
hat man über diese Fremdnutzung schon gesprochen. Auch der OB steht dahinter. Dass
beide Meldungen in einem Zusammenhang stehen könnten, kann natürlich nur einer sehen,
der unter Paranoia leidet. Warnung deshalb: Paranoia ist hochansteckend und die
Zahl der Fälle steigt momentan täglich. Besser nicht weiterlesen.
1. „Bürger, nutzt Eure Anlagen!“
Gibt’s Wohnungen auf dem Grundstück, werden – natürlich
gemessen an dessen neu zu bestimmenden Bodenwert - weniger Steuern fällig als bei einem
Grundstück, das brach liegt. Und bevor es dann, wie bei allen Steuergesetzen
wieder so richtig kompliziert wird (auch wenn unser Ministerpräsident dies
verneint), geht es dem Autor dieser Zeilen eigentlich um das grundlegend
andere Prinzip: Warum gibt es überhaupt die Grundsteuer?
Dass man die Bodenwerte neu bestimmen möchte (und bis 2024
auch muss), legitimiert sich zuerst
einmal aus der Vergangenheit. Denn das, was man zuletzt 1964 hat berechnen
lassen, schreit ja geradezu danach, korrigiert zu werden. Ob eine Grundsteuer
überhaupt zeitgemäß ist, stellt sich für den Steuerstaat, der diese stetig
fließenden Gelder fest einkalkuliert, natürlich nicht. Und er kann sich dabei
sogar auf das Grundgesetz berufen. Grundsatzfragen zur Grundsteuer sind somit tabu.
Für immer & ewig. Die Grundsteuer hat als älteste Form der Steuer überhaupt
ihre Daseinsberechtigung schon aus dem Grunde, weil es sie gibt. Und einen triftigeren Grund gab es noch nie.
Aber sie hat auch die Zukunft auf ihrer Seite. Wer sich die Entwicklung unserer Steuersysteme in den letzten 50 Jahren anschaut, wird erkennen,
dass hier ein grundlegender Wandel stattfindet. Nicht mehr Leistung soll
besteuert werden, sondern Nutzung. Nicht mehr Menschen, sondern Sachen. Wir
zahlen schon jetzt für die Nutzung all der Güter, die uns die öffentliche Hand
in ihrer Vielfalt anbietet, ja sogar aufdrängt.
Wie sehr die Nutzung im
Vordergrund der staatlichen Überlegungen steht, konnten wir zuletzt an der
Corona-Pandemie erkennen. In den Anfängen ging es – so wurde es ja auch
unumwunden formuliert – um den Schutz des Gesundheitssystems. Das stand so im
Vordergrund, dass sich die Menschen schon gar nicht mehr trauten, ins
Krankenhaus zu gehen. Es ging nicht um uns, es ging um das System. Und das ist
in Staat und nicht minder heftig, fast schon vorbildhaft, in der Wirtschaft
ebenso. Wir sehen es überall – auch zum Beispiel bei den Fernsehgebühren, wobei
dort allein die potentielle Nutzung Legitimation ist, die Gebühren zu erheben. Die
ganzen Cloud-Dienste operieren nach dem Prinzip der Nutzung.
Wer seinen Focus auf die Nutzung von Sachen richtet, handelt durchaus vernünftig. Es ist vernünftig, das Gesundheitssystem zu schützen. Aber diese Vernunft gegenüber Sachen ersetzt noch nicht die Verantwortung gegenüber den Menschen (Prinzip Verantwortung, Hans Jonas)
Bei der Grundsteuer gibt es eine besondere Delikatesse. Denn
hier soll die Nicht-Nutzung besonders hoch besteuert, sagen wir besser:
bestraft werden. Wer sein Grundstück nicht bebaut, zahlt mehr. Das finden viele
gerecht, auch der Autor dieser Zeilen neigt instinktiv dazu – und tappt damit
in dieselbe Falle: Gezahlt werden soll für „Nichtleistung“, die gekoppelt ist
an den Wert einer Sache, die ich mir dann vielleicht nicht mehr leisten kann.
Dass die, die auf dem Grundstück wohnen, sei es als
Eigentümer oder als Mieter, die öffentlichen Leistungen, die für das Grundstück
wertbestimmend sind, bereits über die Nutzung von Müllentsorgung, Strom,
Wasser, Kfz-Steuer bezahlt haben, wird natürlich in dieser Berechnung
unterschlagen.
Denken wir das nur nicht weiter: man landet dann
wahrscheinlich im Irrenhaus. Maßgeblich ist, dass wir mitten in einem System
landen, in dem nicht wir nach unserer Leistungsfähigkeit besteuert werden,
sondern nach der Nutzung. Das hat den großen Vorteil, dass Themen wie
Produktivität oder Wirtschaftlichkeit vergessen werden können.
Wirtschaftlich ist das, was besteuert werden kann – oder im
Fall der Wirtschaft Nutzungsgelder einbringt.
2. Drehen wir am Riesenrad der Zeit
Die mangelnde Nutzung unserer Innenstadt bereitet vor allem
dem Einzelhandel sehr viel Kummer. Da hilft auch die Senkung der mächtigsten
Gebrauchssteuer, der Mehrwertsteuer, nur wenig. Deren Nutzen, also der Senkung, ist gering. Was
man braucht, ist ein Riesending. Und da hat sich Christian Wittel von RT-Aktiv
in Absprache mit der Stadt etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Auf dem
Marktplatz soll sich zwischen dem 5. September und 3. Oktober ein Riesenrad drehen.
Das soll die Massen anlocken – vor allem natürlich die Kinder, die dann gerne
bereit sind, den ansonsten eher langweiligen Ausflug in die Stadt mitzumachen. Tolle
Idee. Ein weiteres Event, bei dem wir uns vor allem als Verbraucher bewähren
können. Denn wir werden dann Geld lassen in der Stadt, der wir uns korrekterweise
mit öffentlichen Verkehrsmitteln nähern. Hoffentlich macht das Wetter mit.
Coronamäßig dürfte dieses rundum um Abstand bemühte Freizeitgerät auch keine
Probleme bereiten. Zur Not muss halt die Maske mit.
Wahrscheinlich fehlt jetzt nur noch das Kleingeld, um den
Riesenradbetreiber zu überzeugen. Denn der wird schon darauf achten, dass er
auf seine Kosten kommt, wenn die Nutzung zum Beispiel nicht genügend einbringt
oder die Preise subventioniert werden müssen, damit die für die neue Grundsteuer
schon vorauseilend sparenden Schwaben auch kommen.
Nichts gegen die Idee, die natürlich nur ihren Effekt
entfaltet, wenn sie sich auf dem Marktplatz entfaltet und nicht auf dem
vielleicht technisch viel besser geeigneten Bürgerpark an der Stadthalle.
Dieser Platz ist immer so frei, dass er bei der Festlegung der Grundsteuer
eigentlich wegen Nichtnutzung besonders belastet werden müsste. Aber der Platz
gehört ja der Stadt – und die ist über alle Steuer erhaben.
Die Frage ist nur: Rettet das Riesenrad die Innenstadt, den
Einzelhandel oder gar die Urbanität? Tübingen hat so etwas nicht nötig, da sind
die Bürger selbst die Attraktion. Metzingen auch nicht, da ist der Einzelhandel der Publikumsmagnet. Und das in einem globalen Ausmaß. Reutlingen ist da irgendwie anders.
Da stimmt weder die Nutzung noch der Nutzen. Dabei versuchen so viele dies zu
ändern.
Wittels Bemühen ist rührend. Vor allem weiß man, dass er mit
sehr viel Enthusiasmus an seine runde Sache herangehen wird. Er wird’s auch
drehen. Aber innerlich hat er, der bestimmt betriebswirtschaftlich bestens
ausgebildet ist, einen Ansatz, den er einmal (als es um die Insekten-Messe
ging) als „Bespielen der Stadt“ bezeichnete. Dieser Denkungsweise entspricht
auch sein Riesenrad. Für vier Wochen, bevor dann im November die
Weihnachtssaison beginnt, will er die Stadt bespielen. Und wir, die Einwohner
aus Reutlingen und Umgebung, sollen dieses Angebot benutzen. Wir werden es auch
tun. Niemand wird sich die Chance entgehen lassen, die Stadt mal nicht nur vom
Turm der Marienkirche aus besichtigen zu können, sondern aus einer Gondel, hoch oberhalb unseres weltlichen Herzstücks, dem Marktplatz.
Das Bespielen einer Stadt ist indes eine ziemlich beliebige
Methode – zumal wie zuvor die Dinosaurier oder Insekten auch das Riesenrad
nichts Identitätsstiftendes an sich hat. Stopp! Stimmt nicht: Die Bilder, die
wir von der Höhe des Riesenrades sehen und mit unseren Smartphones schießen
werden, gehören alle ins Museum. Denn sie werden uns ein Reutlingen zeigen, wie
es in zehn Jahren nicht mehr geben wird.
Überhaupt müssen wir dieses Reutlingen aus allen Lagen
heraus fotografieren. Denn in zehn Jahren wird dies eine ganz andere Stadt
sein. Wahrscheinlich werden dann viele der Meinung sein, dass die Bodenwerte neu
berechnet werden müssen.
Es wird nicht die Stadt sein, die das dann will. Überhaupt: die Straßenmaut ist viel attraktiver...
Bildertanz-Quelle:RV