Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
1982: »In der Gemeinschaft sind die Menschen ihrem Wesen nach verbunden, in der Gesellschaft aber wesentlich getrennt.«
Christian Graf von Krockow (1927-2002), deutscher Politikwissenschaftler[1]
So wie vor 50 Jahren das Ende der Reutlinger Straßenbahn unaufhaltsam war, so wird auch dessen milliardenschwere Wiederkehr als Stadtbahn durch nichts und niemanden verhindert werden können. Der Reutlinger Stadtrat hat so gestimmt, alle anderen Gremien werden folgen. Denn dahinter steht eine Gemeinschaft aus lauter Zweckgemeinschaften, die alle miteinander verbunden sind und allesamt von der öffentlichen Hand getragen werden. Ein Oligopol der Nachhaltigkeit und der Klimaneutralität, das allerdings in der Bürgergesellschaft nicht unumstritten ist. In Tübingen gibt es deswegen sogar einen Bürgerentscheid. Am 26. September 2021, zusammen mit der Bundestagswahl wird dort abgestimmt.
Es geht um die Frage, ob eine Stadtbahn auch durch die Stadt fahren darf. Die Frage ist natürlich genauso absurd, wie die, ob eine Straßenbahn auch durch Straßen fahren darf. Und doch berühren beide Fragen ein zentrales Thema unserer Zeit – nämlich das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft.
„In einer Gemeinschaft tritt man füreinander ein, in einer Gesellschaft ist der einzelne daran interessiert, seinen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen“, legte sich vor bald 40 Jahren der Politologe Christian Graf von Krockow in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ jene Erkenntnisse zu recht, mit denen einer der Urväter der Soziologie, Ferdinand Tönnis (1855-1936), diese Wissenschaft bereits im späten 19. Jahrhundert begründet hatte. Tönnies war ein kluger Mensch, der seinen Doktortitel übrigens in Tübingen erlangt hatte. Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ wurde – mit einiger Verzögerung – ein Bestseller. Heute ist es vergessen.
Schaut man zurück auf die Geschichte der Bundesrepublik, dann sind die ersten vierzig Jahre geprägt durch die Emanzipation der Gesellschaft gegenüber der Gemeinschaft. Große Körperschaften dominierten zwar das Geschehen auf allen Feldern, auf der gesellschaftlichen Ebene vollzog sich allerdings das genaue Gegenteil. „Wohl kein Gemeinwesen ist so radikal und so ohne Vorbehalt ‚Gesellschaft‘ geworden wie das bundesdeutsche“, schrieb vor vier Jahrzehnten Krockow. Das war ein großes Thema, das sich individuell mit der 68er Revolte vollendete, institutionell erst sehr spät mit der Privatisierungswelle. Da waren wir bereits in den achtziger und neunziger Jahren. Der Gegentrend setzte ein.
In den Jahren vor der Jahrhundertwende konstituierte sich nicht zuletzt durch die Wiedervereinigung der Trend zurück zum Aufbau großer, übermächtiger Institutionen. Dahinter stand der neuerliche Siegeszug der Gemeinschaften. Deren Spätausläufer spüren wir jetzt – durch den notgetriebenen Wunsch, viele wirtschaftliche Aktivitäten wieder zurück in die öffentlichen Hände zu geben.
Geradezu beispielhaft sichtbar wird dies im Verkehrssektor. Dominierten nach dem Krieg noch lange Zeit Busse und Bahn, also der öffentliche Personennahverkehr, getragen von Zweckgemeinschaften, so war es spätestens seit den siebziger Jahren der Individualverkehr. Das Pulsieren einer Stadt definierte sich nicht mehr durch die Fußgängerströme zu den Haltestellen, sondern durch die Ampelsteuerungen in den Rushhours.
Wer die Geschichte der Bundesrepublik miterlebt hat, wird sich daran erinnern, wie man sich morgens auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule an der Haltestelle traf, sich im Bus, einer Gemeinschaftsleistung, zu einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft zusammenfand. Das war keine Fahrgemeinschaft, da kamen Menschen zusammen, ohne sich verabredet zu haben. Alles spontan. Nur der Fahrplan brachte die Menschen zusammen. Das Auto – überspitzt formuliert – zerstörte dann diese Gesellschaft. Jeder fuhr für sich allein, völlig isoliert voneinander, nach ureigenem Fahrplan, allenfalls noch durch Fahrgemeinschaften kärglich miteinander verbunden, getragen von wirtschaftlichen Überlegungen. Aus den täglichen Staus erwuchs weder eine Gemeinschaft noch eine Gesellschaft. Das Ergebnis sehen wir heute. Wir rudern zurück – und landen beim Fahrrad. Der Krieg aller gegen alle wird auf dem ‚Entzweirad‘ fortgesetzt. Nur die Verkehrsregeln halten uns zusammen.
Als die Stadt Reutlingen ihr neues Buskonzept endlich auf die Straße brachte, da schien es so zu sein, als könne sich nun mit der Ausweitung der Strecke und der Verkürzung der Zeittakte eine neue „Community“ bilden, sich durch den Fahrplan, die Haltestellen, die Verbindungslinien so etwas wie „eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung“, um Worte des Soziologen Tönnis zu benutzen. Doch die Pandemie durchbrach mit unglaublicher Brutalität diese sich noch im embryonalen Zustand befindliche Entwicklung. Tatsächlich hätte mit der Zweckgemeinschaft, die ja letzten Endes unser RSV darstellt, eine neue Gesellschaft entstehen können. Ich habe richtig gemerkt, wie ich mir alle möglichen Gedanken machte – von der Monatsfahrkarte bis hin zur Missionierung des neuen Konzeptes innerhalb meines Freundeskreises. Gedanken, die ich vorher nie hatte.
Nun sind wir trotz Impfpass und Mundschutzmaske mehr denn je voneinander isoliert. Und wenn es eine Form einer mystischen Stadt gibt, dann liefert es das Internet, vornehmlich natürlich die sozialen Medien. Sie gehören aber keiner Zweckgemeinschaft. Und mit der Tendenz zu Homeoffice mit all den Flexibilisierungen wird der Fahrplan nie mehr den Rhythmus einer Stadt, einer Gesellschaft bestimmen. Es gibt diese Gesellschaft nicht mehr. Das ändert auch das ganze Event-Marketing nicht mehr.
Heute hätte übrigens der Neigschmeckt-Markt beginnen sollen. Eine private Initiative. Abgesagt.
Wir werden – als Gesellschaft – ganz neu anfangen müssen. Was bleibt, ist momentan nur der Mainstream. Ob er die Stadtbahn nehmen wird, ist ungewiss. Denn die Zweckgemeinschaft plant ja noch. Sich selbst, nicht eine Gesellschaft, die entsteht zwischen Menschen, nicht zwischen Schienen.
Bildertanz-Quelle:Horst Rehm/Martin Klais