Ort: Rommelsbach
Bildertanz-Quelle:RV
Geheimer Chiffern Sendung
Beschäftige die Welt,
Bis endlich jede Wendung
Sich selbst ins Gleiche stellt.
Aus „Geheimschrift“, Johann Wolfgang von Goethe
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Dass Reutlingens erster Oberbürgermeister nach dem Krieg, Oskar Kalbfell (1897-1979), keineswegs jene über allem Zweifel erhabene Persönlichkeit war, zu der er sich gerne stilisieren ließ, wussten alle, die ihn näher kannten. Aber die zeitgenössische Geschichtsschreibung findet stets gerne von oben statt – und Jahrzehnte später, wenn es keinen Mut mehr verlangt, wird dann so manches offiziell relativiert. Bei Kalbfell stand besonders die Geiselerschießung im April 1945 im Mittelpunkt. Hatte er die Namen derer, die als Sühne für den angebliche Tötung eines französischen Besatzungssoldaten ihr Leben lassen mussten, selbst verfasst, oder wie waren die Franzosen zu dieser Liste gekommen? Wir wissen es nicht. Der Historiker Gerhard Junger berichtet in seinem Beitrag über das Ende des 2. Weltkriegs im Pfullinger Heimatbuch: „Geiseln mussten gestellt werden. Deren Auswahl blieb dem Bürgermeister überlassen. Jakob Staiger meldete sich freiwillig. Die Geiselstellung dauerte nur wenige Tage. Später sagte man, sie sei durch einen Anschlag auf einen französischen Soldaten in Reutlingen ausgelöst worden.“
Bemerkenswert ist, dass es dieser Jakob Staiger aus Pfullingen war, der dann nicht nachließ, die Rolle Kalbfells zu hinterfragen und den Oberbürgermeister ganz schön in die Bredouille brachte. In Pfullingen hatte also der Bürgermeister entschieden. Sollte es da in Reutlingen anders gewesen sein? Die Franzosen gingen übrigens bei ihrer Reutlinger Strafaktion sehr milde mit der Bevölkerung um. Die Deutschen selbst haben im Rahmen ihrer eigenen Besatzungspolitik für jeden durch Zivilisten getöteten Soldaten zehn Geiseln erschießen lassen. Es gab sogar 1941 den Sühnebefehl von General Wilhelm Keitel, dass auf jeden Soldaten, der aus dem Hinterhalt getötet wurde, zwischen 50 und 100 Zivilisten hingerichtet werden sollten. In Frankreich wurden während der deutschen Besatzung fast 30.000 Geiseln erschossen, hieß es in den Nürnberger Prozessen. Auch wegen dieses Sühnebefehls wurde Keitel schließlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Vielleicht war es sogar üblich, dass gleich zu Beginn der französischen Besatzung von den örtlichen Amtsträgern die Erstellung einer solchen Liste potentieller Geiseln gefordert wurde. Verständlich wäre es allemal. Das wäre einer Nachforschung wert.
Im Bericht der französischen Militärverwaltung vom 22. April 1945 steht über Oskar Kalbfell, der kurz nach dem Einmarsch am 20. April 1945 zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt worden war: „Macht einen guten Eindruck, hat sich bereiterklärt, uns zu helfen, hat alle Listen beschafft.“
Liest man nun einen Artikel aus dem ‚Spiegel‘ vom 14. November 1950, so gab es schon damals erhebliche Zweifel an der Integrität dieses Mannes – bei allen Verdiensten für diese Stadt. Immer wieder wurden mir bei meinen Recherchen für den Film „1945“, zu dem ich in den letzten zehn Jahren mehr als 50 Menschen aus unserer Region interviewt habe, kleine Geschichten über Begegnungen mit dem OB erzählt, die mir zumindest ein illustres Bild von diesem Mann vermittelten. In einem Fall musste ich versprechen, das Gespräch erst nach dem Tode meines Zeitzeugens zu veröffentlichen. Es hat aber nichts mit den Geiselerschießungen zu tun.
Warum schreibe ich dies?
Anlass ist die großartige Recherche-Arbeit, die der Historiker Lukas Weyell erbracht hat, indem er interne Militär-Berichte der Franzosen durchforstete, Berichte, die erst seit 2005 zugänglich sind. Sie belegen, was mir meine Zeitzeugen auch immer wieder bestätigt haben: so friedlich ging es damals beim „Umsturz“ keineswegs zu, nachdem Kalbfell genau dies, ein Einmarsch ohne Blutvergießen, bei der Übergabe der Stadt versprochen hatte. Ehrlich gesagt, das hätte niemand den Franzosen versprechen können. Dass er allerdings Schlimmeres verhindert hat, kann man durchaus annehmen. „Die Eroberung Reutlingens war überhaupt nicht friedlich“, sagt Weyell im Interview mit unser aller GEA.
Aber von höchster Stelle herab ins kollektive Gedächtnis eingebrannt wurde die Vorstellung einer friedlichen Eroberung, die es nicht gab. „Kalbfell hat die ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung durch Interviews und Veröffentlichungen maßgeblich selbst geprägt“, kommentiert Roland Deigendesch, Leiter des Stadtarchivs, das Interview mit Lucas Weyell. So ist es. Und weil nun – durch Weyells Arbeit - das ein oder andere durch schriftliche Belege auf französischer Seite dokumentiert ist, werden in seinem Kommentar nicht etwa die Aussagen der Zeitzeugen besonders gewürdigt und bestätigt, sondern der Stadtarchivart kommt zu einem ganz anderen Schluss: „Aus Sicht des Historikers wird einmal mehr deutlich, dass es nicht genügt, bloße Informationen oder erinnerte ‚Tatsachen‘ zusammenzutragen.“ Eine seltsame Folgerung, wenn Augenzeugenberichte nur dann wahr sind, als Tatsachen ohne Anführungsstriche anerkannt werden, wenn dazu amtliche Berichte vorliegen.
Namhafte Historiker wie Johannes Fried sind in letzter Zeit eher den umgekehrten Weg gegangen – beim Blick zum Beispiel auf das Mittelalter. Dokumentiert wurde dort das meiste von Kirchenleuten, die für sich die höchste Autorität beanspruchten. Es könnte auch anders gewesen sein, fragen die Historiker sich und entwickeln – ohne das Privileg zu haben, Augenzeugen befragen zu können – abweichende Szenarien. Weyell hat in seinen Recherchen eine Bestätigung dafür gefunden, was die Augenzeugen berichteten. Deshalb gilt: „Ganz neu geschrieben werden aber muss dieses Kapitel nicht“, schreibt Deigendesch. Eben. Aber das ist nicht das Verdienst von Herrn Kalbfell und seinen „Geschichtsschreibern“. Es ist das Verdienst der Augenzeugen – und mancher tapferer Bürger, die nicht alles so akzeptierten, wie es die Amtsstuben diktierten.
Die Fragezeichen bleiben. Noch ist nicht über aller Gipfel
Ruh. Wir leben in einer Demokratie.
Bildertanz-Quelle:Familie Bader