Mittwoch, 11. Juni 2014

Zu den Bombenangriffen auf Reutlingen - ein Augenzeuge berichtet

Aus Kalifornien erreichte uns dieser Bericht von unserem treuen Freund R.M.. Er lebt dort seit vielen Jahren, hat aber seine Kindheit hier verbracht. Erschütternd ist sein Bericht über die Zerstörung des Bunkers am Reutlinger Hauptbahnhof. Er schreibt: 
»Die Bilder von den Luftangriffen auf Reutlingen am 1. März 1945 haben mich sehr, sehr bewegt. Das gilt besonders für die Fotos von dem zerstörten Bahnhof und dem hier errichteten Bunker. Ich vermute, dass nur sehr wenige, die Schutz in dem Bunker in der Nähe des Bahnhofs gesucht haben, diesen Angriff überlebt haben. 
Dazu gilt es mehrerlei anzumerken. Zuerst einmal hätte dieser Bunker niemals an diesem speziellen Platz gebaut werden dürfen. Ein weitaus besserer Platz wäre der Park gegenüber dem Bahnhof gewesen. Außerdem war die Konstruktion des Bunkers an sich schon höchst kriminell. Mehrere Hochdruck-Wasserleitungen und elektrische Leitungen liefen direkt unterhalb der Decke dieses Bunkers. Dass dem so war, musst Du mir ganz einfach glauben. Ich habe selbst diese Fehlkonstruktion während eines Fliegeralarms vor dem 1. März 1945 gesehen. Nachdem ich das entdeckt hatte, bin ich nicht eine Minute länger in dem Bunker geblieben. 
Während des Luftangriffs am 1. März 1945 wurde der Bunker von einer hochexplosiven Bombe getroffen. Zwei Menschen, die am Eingang des Bunkers standen, wurden lebensgefährlich verletzt. Ich glaube nicht, dass sie ihre Verwundungen überlebt haben. Wie viele Menschen sich bei der Explosion der Bombe tatsächlich in dem Bunker befanden, wurde niemals festgestellt. Sollte irgendjemand die Explosion überlebt haben, wird er anschließend ganz bestimmt in den Fluten ertrunken sein, die durch die zerstörten Wasserleitungen entstanden waren. 
Wenige Stunden nach dem Angriff gelangte ich in die Nähe des Bahnhof als Teil einer hastig zusammengestellten Rettungstruppe. Unsere Aufgabe bestand darin, die bereits anwesenden Rettungskräfte und Feuerwehrleute zu unterstützen. Der Bunker war nur noch ein einziges, riesiges Loch, gefüllt mit Wasser - mit blutrotem Wasser. Kleidungsstücke schwammen an der Oberfläche. Mit Hilfe von Pumpen versuchten wir, dieses Wasser zum Löschen der Brandherde rund um den Bahnhof einzusetzen. Immer wieder verloren die Pumpen ihre Saugkraft, weil sich Leichenteile an den Saugstellen festgesogen hatten. Wir mussten diese menschlichen Körperteile entfernen - Arme, Beine usw. Über den Platz hinweg hatte man Tücher ausgelegt, bedeckt mit Leichenteilen, die sich mehr und mehr zu einem Berg auftürmten. 
Am Abend dieses Tages verließ ich gegen 22.00 Uhr physisch und emotional völlig erschöpft den Platz und ging nach Hause. Was waren meine Gedanken? Ich versuchte, an gar nichts zu denken. 
Wenige Wochen später hatte ich Geburtstag. Ich wurde 13 Jahre alt. R.M.«
Übersetzung: Raimund Vollmer
Unseren Lesern ist R.M. unter dem Namen "Old Guy" bekannt. Er lebt in den USA. Schon 2011 schrieb er uns per Email folgenden Kommentar zu den Kriegsereignissen in Reutlingen. HIER

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