Von Raimund Vollmer
Ist Architektur Kunst? Wenn man durch Reutlingen geht, wird
man feststellen, dass sie auf keinen Fall Avantgarde ist - weder die Kunst,
noch die Architektur. Das gilt auch für den Katharinenhof, der - wie wir letzte
Woche erfahren durften - den Entwurf namens K8 ersetzen soll. Giebelig wird's,
angepasst an die mittelalterlich motivierte Umgebung und an den Zeitgeist der
Architektur. Nicht auffällig, nicht spektakulär, aber auch nicht scheußlich,
eben angepasst und ordentlich. Kunst wird es nicht.
BILDTEXT: Hier - auf der rechten Seite - soll in der Katharinenstraße der Katharinenhof entstehen...
Die Einzelhändler werden eher erleichtert sein über das, was
da entstehen wird. Die Presse berichtet - wie z.B. das Schwäbische
Tagblatt - eher nüchtern über das Projekt, das noch im vergangenen Jahr die
Gemüter stark erregte. Auch der Reutlinger
General Anzeiger behandelt das Thema nachrichtentechnisch, die Reutlinger
Nachrichten halten sich ebenfalls nur mit den Fakten auf. Emotional geht's
nirgendwo zu. Alles brav. Von Kunst spricht keiner. Es wird ein Zweckbau, der
weniger der Einzelhandelswelt dienen wird als vielmehr den Menschen, die in der
Stadt wohnen wollen. Ganz urban und doch banal.
Der Philosoph Theodor W. Adorno meinte einmal, dass es die
Aufgabe der Kunst sei, Chaos in die Ordnung zu bringen. Der Katharinenhof steht
nicht im Verdacht, diesem Anspruch auch nur annähernd zu genügen.
Vor 40 Jahren schrieb Thomas Bernhard den Roman
"Korrektur". Da heißt es: "Insofern, als wir alles, was in
Betracht zu ziehen ist, in Betracht gezogen haben, müssen wir sagen, dass die
Baukunst eine höchst philosophische Kunst ist, aber die Baufachleute haben das
nicht begriffen". Und so - meint jedenfalls der Schriftsteller - entsteht
nie "Baukunst, sondern Baugemeinheit". Der neue Katharinenhof wird zu
letzterem bestimmt nicht gehören, aber philosophisch wird er auch nicht. Er ist
praktische Vernunft.
Hinter Architektur steht der Anspruch, den Raum zu
beherrschen. Was immer man von den einzelnen Bauten denken mag, die in der
Nachkriegszeit bis heute in Reutlingen entstanden sind, sie versuchen schon,
diesem inneren Antrieb gerecht zu werden.
BILDTEXT: Sucht die Distanz zu dem Raum, den sie zugleich zu beherrschen strebt - die Stadthalle
Dazu gehört allen voran das Rathaus,
das mit seinem aufgestelztem Ratssaal sogar über dem Raum stand, bevor dann das
Alexandre diesen Platz gastronomisch unter Beschlag nahm. Und mit der
Stadthalle, die - wie kein anderer Bau - jede Menge freien Raum beherrscht, ist
es nicht anders. Auch die Obere Wässere sind mit ihren Quadern und Symmetrien alles
andere als "Chaos", als Kunst, sondern sind vor allem Ordnung. Diese
Bauten sind nicht nur Ordnung, sie schufen sie auch.
BILDTEXT: Stelzt sich über das Chaos hinweg...
Dem Rathaus musste in den 60er Jahren ein Barackenviertel,
ein Nachkriegs-Provisorium weichen. Die Stadthalle entstand auf dem Bruderhausgelände,
das alles andere als klar gegliedert war, sondern ein über mehr als ein
Jahrhundert kreiertes Konglomerat der Industrie- und Wirtschaftsgeschichte
darstellte. Bei der Oberen Wässere war es nicht anders.
Wer aber den Raum zu stark zu beherrschen sucht und in eine
gnadenlose Ordnung presst, muss damit rechnen, dass er so etwas wie Banlieues schafft,
die -vollends pauperisiert - heute mehr denn je als Brutstätten von Gewalt und
Terror gelten. Die Wilhelmstraße wirkt mit ihrem Wechsel aus historischen
Bauten, nagelneuen Fassaden und Galerien weitaus weniger steril, ebenso die
Metzgerstraße - und ganz besonders bislang die Katharinenstraße.
BILDTEXT: Die untere Wilhelmstraße - Fassaden des Konsums
BILDTEXT: Die Rathausstraße wirkt nicht nur auf ihrer linken Seite "chaotisch", auch dort, wo seit bald 50 Jahren das Rathaus steht...
Überall blitzt trotzdem die Unordnung durch. Keine Stadt
kann und darf sie völlig eliminieren. Deswegen ist es gut, dass das
"Krankenhäusle" gerettet wurde und die Skater den Kontrapunkt zum
Kulturbetrieb der Stadthalle bilden. Deswegen ist es gut, dass der Rathaussaal
einen gastronomischen Unterbau bekam. Und bei der Oberen Wässere sieht man
ebenfalls immer noch die Spuren der industriellen Vergangenheit.
BILDTEXT: Steine des Anstoßes - das Knödler-Haus
Deswegen ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn
das Knödler-Haus noch nicht abgerissen wird. Was immer damit geschieht,
vielleicht muss Reutlingen mal darüber nachdenken, wie es seine Unordnung
erhalten kann, ohne dass sie - wie zum Beispiel der Steg über den Ledergraben -
Aggression erzeugt.
Kunst ist es, wenn man Grenzen überwindet. Ob das,
was zum Beispiel Joseph Beuys geschaffen hat, Kunst ist, wird bis heute
leidenschaftlich gestritten. Dabei ist schon der Streit an sich ein Kunstwerk,
das den Künstler im nächsten Jahr 30 Jahre überlebt hat.
So ist es mit der Architektur. Im nächsten Jahr wird das
Rathaus ein halbes Jahrhundert alt sein - und die Reutlinger fragen sich immer
noch, ob es ihnen gefällt oder nicht. Mit der Stadthalle ist es nicht viel
anders. Es sind übrigens beides städtische Bauten.
BILDTEXT: Obere Wässere - das Durcheinander bleibt
BILDTEXT: Die Ordnung ragt aus dem Chaos hervor - vorne stand einmal die Listhalle, im Hintergrund die Stadthalle
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
2 Kommentare:
Dazu gab es auf Facebook von Benjamin Prell folgenden Kommentar:
Hey! Super Artikel und bildgewaltige Beschreibung der hiesigen Verhältnisse. Gefällt mir! Vorab eines, ich habe meine Magisterarbeit an der Uni Tübingen im Deutschen Seminar in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft vor 7 Jahren über Thomas Bernhard geschrieben, und habe mich schon deshalb über den Artikel gefreut. „smile“-Emoticon Mir ist was aufgefallen, und zwar wie psychologisch wichtig die Kleinteiligkeit in der Architektur für mich ist. Ich mag ja auch das "Großteilige" wie die Stadthalle oder der neue 16-Stöcker an der Brücke Unter den Linden gegenüber vom Media-Markt, weil ich Reutlingen auch gerne modern sehen will, weil es die Bedeutung der Stadt unterstreicht. Aber was mir auch durch den Artikel klargeworden ist, es muss auch das Kleinteilige vorhanden sein, einfach um der Psyche ein Gefühl der "Vergangenheit" zurückzugeben, aus der wir, mehr oder weniger, alle kommen. Heimat bedeutet in Reutlingen wie auch überall hier in Schwaben, ja sogar in Stuttgart die Kleinteiligkeit, das Verwinkelte. Es ist wohl das Überschaubare, was wir, also ich, auch wollen. Ist etwas überschaubar, ist es gleichzeitig auch abschätzbar, also berechenbar, und das möchten viele, obwohl sie es nicht wissen. Ich mag Weite, weil ich dann den Horizont vor mir habe, wie Katzen, die mögen auch eine gewisse Weite und einen Standort, der es ihnen erlaubt, weit zu blicken, der Sicherheit willen, aber die Enge ist auch irgendwie heilsam, weil sie gewissermapen einen sicheren Überblick garantiert. Und es ist "heimelig", vor allem in einem Raum in dem kleinteilige, überschaubare Städtchen, wie in Schwaben, selbstverständlich sind. Was mir gut gefällt, ist die Obere Wässere. Dieses neue Viertel ist zwar ordentlich und strukturell, ABER auch ein wenig chaotisch und verwinkelt. Ich finde die Obere Wässere im besten Sinne gelungen, weil es beide Strömungen in sich vereint. Und so sollte Reutlingen auch in Zukunft sein. Die Hässlichkeit verbannen und großstrukturell bauen (Stadthalle, 16-Stöcker am Media-Markt) und aber AUCH das Verwinkelte, Kleinteilige behalten, ausbauen, einordnen, neu bauen. Es muss für alle geeignete Rückzugsorte geben und da Menschen verschieden sind, kann ein Rückzugsort sowohl der neue Vorplatz vor dem neu zu bauenden Stuttgarter Tor sein, wie aber auch ein verstecktes kleines Cafè in der Wilhelmstraße oder, das fällt mir gerade ein, ein kleines Thai-Restaurant in der Metzgerstraße, dessen Terasse in einem Innenhof ist, wo nur Wände zu sehen sind. Aber manchmal brauche ich auch diese Wände. Das tut mir auch gut. Ich verweise also nochmal auf den psychologischen Aspekt des Kleinteiligen in der Architektur in Städten, die aus dem Kleinen kommen, wie Reutlingen.
Die Stadt Reutlingen hat eine bürger-ferne Stadtplanung, die darauf beruht, dass Bürger in Entscheidungen kaum einbezogen werden.
Wettbewerbe, die die Stadt veranstaltet, werden zum großen Teil von fast immer denselben Personen entschieden, begleitet, beeinflusst, (siehe Zusammensetzung der Jury bei städtebaulichen Wettbewerben).
Natürlich könnte man das ändern. Aber seit den Bauernaufständen im 16 Jhd. hat sich sichtlich nicht viel getan.
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