Dienstag, 1. März 2016

Reutlingen und die Urbanität: Es begann alles mit Mildtätigkeit





Von Raimund Vollmer
Was ist Urbanität? Es ist die wahrscheinlich bessere Frage als die, ob zum Beispiel Reutlingen eine Großstadt ist mit Anspruch auf Ausgliederung. Wenn die geistige Auseinandersetzung um die Entwicklung unserer Stadt ein Zentrum hat, dann ist es genau diese Frage nach der Urbanität. Und hier dominiert eindeutig die soziale Komponente, die ja auch ein Dorf zum Dorf und eine Stadt zur Stadt macht. Damit sind nicht jene Leistungen gemeint, die das Sozialamt und das Arbeitsamt mit seinen Jobcentern erbringen, auch nicht das Jugendamt oder das Kulturamt. Das Soziale hat zuerst einmal überhaupt nichts Amtliches, sondern meint das Zusammenleben allgemein, das in der Stadt etwas anderes ist als auf dem Dorf. In der Stadt haben wir den sich mit der Industriellen Revolution entwickelnden Individualismus oftmals mit Verödung und Vereinsamung bezahlt. Sozial wurde das, was professionell erbracht wurde - von der Kultur bis hin zur Müllabfuhr. Das Dorf hat sich das ursprünglich Soziale, die Mildtätigkeit, das Füreinander viel stärker bewahrt - manchmal bis zur Unterdrückung jeglicher Individualität.
Der Historiker Richard Sennett hat vor 20 Jahren in seinem Buch "Fleisch und Stein" noch einmal nachdrücklich drauf hingewiesen, dass es im Mittelalter die Zuflucht war, die eine christliche Gemeinde den Menschen bot und aus ihr eine Stadt werden ließ. Es war die "Imitatio Christi", die sich an dem Leidensweg Jesu orientierte, die zur Errichtung von Klöstern nebst Gotteshäusern, Gärten und Hospitälern  führten. Wohltätigkeit, die noch nicht gewaltige Stadtmauern verlangte, sondern jedem Menschen zu Teil werden sollte, war es, die erste Zentren schuf. Die Kranken und Armen, die Verfolgten und Verfemten, sie waren die Zielgruppe dieser Gemeinschaften. Aus diesen Anfängen im 13. Jahrhundert entstanden Weltstädte wie Paris, aber auch das Kleinod (und nicht Kleinödnis) Reutlingen. 
Der Spitalhof am Marktplatz (siehe Foto) gibt bis heute ein stilles, aber keineswegs stummes Zeugnis dafür ab. Diese Gemeinden lebten von Gemeinschaftlichkeit, der sich jedoch mit dem Streben nach Autonomie und Reichsstadtherrlichkeit ein konkurrierendes Interesse der Bürger gegenüber stellte. Besitz und dessen Wahrung wurden mehr und mehr zum Lebensimpuls einer Stadt. Das mag man bedauern, aber Besitz und Selbstbestimmung ist nach wie vor ein mächtiges Motiv - und findet sicherlich in der angestrebten Ausgliederung aus der Gemeinschaft des Kreises seinen Ausdruck. Es ist dabei bezeichnend, dass es wiederum ein Hospital, ein Krankenhaus, also das Klinikum am Steinenberg, ist, das einen mächtigen Streitpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Stadt und Kreis darstellt. (Wenn ich mich recht entsinne, ist es die mangelnde Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entwicklung des Klinikums, die für die Stadt ein Begründung für den Ausgliederungsantrag liefert.) Die Stadt Reutlingen, der in Sachen Mildtätigkeit gleichsam bis in die Flüchtlingsunterbringung hinein Land und Kreis vorgeschaltet sind, ist hier ihrer Autonomie beraubt und damit ihres Ursprungs.  Dass sie da auf Rechte pocht, ist ihr gutes Recht - egal, wie man nun zur Ausgliederung steht.
Aber die Stadt wird sich im Gefolge einer Ausgliederung ihr Selbstverständnis von Grund auf erneuern müssen. Es ist mehr als fraglich, ob sie und vor allem ihre Bürger dazu bereit sind. Denn diese Stadt hat sich nach dem Verlust ihrer Bedeutung als Reichsstadt vor allem durch Wohlstand und nicht durch Wohlfahrt definiert. Dies ist das Ergebnis der Industrialisierung. "Im XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die große Crisis zu: die moderne Cultur", erkannte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr ausgerichtet sei. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz. Die "moderne Cultur" hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung. Jetzt siegt das Profane. Alles werde "zum bloßen business", meint Burckhardt, "wie in America". Die Wirtschaft, also die neue auf Konsum gerichtete millionenfach entfesselte Kultur, übernimmt mehr und mehr den Staat. Und mit dieser Entwicklung rückt das Individuum in den Vordergrund. Der Historiker Wilhelm Mommsen erinnert in seiner Schrift "Größe und Versagen des deutschen Bürgertums", in der er die Revolution von 1848/49 rekapituliert, daran, dass es damals in Deutschland noch so gut wie keinen vierten Stand, also eine Arbeiterklasse, gab. Es war dann der Konflikt zwischen den Besitzenden, an Vermögen und Bildung, und den Besitzlosen, eben den Habenichtsen (zu denen Reutlingen jüngst feinstichelig von einem Ausgliederungsgegengutachter zugeordnet wurde), die letztlich die Revolution scheitern ließ. Die soziale Frage wurde ignoriert. Der Vierte Stand war Pöbel, aber nicht Bürger. Bürgertum und Adel, die doch eigentlich Antipoden darstellten, taten sich zusammen. Das änderte aber nichts daran, dass die Stadt zu einer Massenveranstaltung wurde.
Urbanität ist das einzige, was das Besitzbürgertum mit seinen Villen und imposanten Bauten, mit seinen Bildungstempeln und Museen, zusammenbringt mit den "Habenichtsen", für die die Stadt vor allem eine soziale Einrichtung ist - mit ihren Möglichkeiten der Arbeit und der Zerstreuung, aber auch der Bewegung (Bahn, Bus. Auto), mit seinen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Sporthallen und Stadien, Parks und Einkaufsmeilen. Vielleicht hat Reutlingen von letzterem zu viel, selbst die Stadthalle dient mehr der Zerstreuung als der Bildung. Vielleicht ist dies sogar die Reaktion darauf, dass sie ihres Ursprungs, der klösterlichen Mildtätigkeit, beraubt wurde. Vielleicht ist all das, was uns geboten wird, nur eine Ersatzhandlung für den Verlust der Autonomie. Vielleicht heißt Bildung zu sehr Ausbildung. Vielleicht ist Kultur zu sehr Erwerb - mit dem Ergebnis, dass diejenigen, die tatsächlich kulturell tätig sein wollen, kein Auskommen haben. Vielleicht muss man endlich über die Stadt nicht technisch und planerisch, sondern emotional, künstlerisch und gestalterisch reden - bis in uns selbst hinein. 
Urbanität ist ein Thema, das in uns selbst entwickelt werden muss.
Bildertanz-Quelle: RV

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Sehr schöner Aufsatz, Respekt.

C.F.