Von Raimund Vollmer
Was ist Urbanität? Es ist die wahrscheinlich bessere Frage
als die, ob zum Beispiel Reutlingen eine Großstadt ist mit Anspruch auf
Ausgliederung. Wenn die geistige Auseinandersetzung um die Entwicklung unserer Stadt
ein Zentrum hat, dann ist es genau diese Frage nach der Urbanität. Und hier
dominiert eindeutig die soziale Komponente, die ja auch ein Dorf zum Dorf und
eine Stadt zur Stadt macht. Damit sind nicht jene Leistungen gemeint, die das
Sozialamt und das Arbeitsamt mit seinen Jobcentern erbringen, auch nicht das
Jugendamt oder das Kulturamt. Das Soziale hat zuerst einmal überhaupt nichts
Amtliches, sondern meint das Zusammenleben allgemein, das in der Stadt etwas
anderes ist als auf dem Dorf. In der Stadt haben wir den sich mit der
Industriellen Revolution entwickelnden Individualismus oftmals mit Verödung und
Vereinsamung bezahlt. Sozial wurde das, was professionell erbracht wurde - von der Kultur bis hin zur Müllabfuhr. Das Dorf hat sich das
ursprünglich Soziale, die Mildtätigkeit, das Füreinander viel stärker bewahrt -
manchmal bis zur Unterdrückung jeglicher Individualität.
Der Historiker Richard Sennett hat vor 20 Jahren in seinem
Buch "Fleisch und Stein" noch einmal nachdrücklich drauf hingewiesen,
dass es im Mittelalter die Zuflucht war, die eine christliche Gemeinde den
Menschen bot und aus ihr eine Stadt werden ließ. Es war die "Imitatio Christi",
die sich an dem Leidensweg Jesu
orientierte, die zur Errichtung von Klöstern nebst Gotteshäusern, Gärten und Hospitälern
führten. Wohltätigkeit, die noch nicht
gewaltige Stadtmauern verlangte, sondern jedem Menschen zu Teil werden sollte,
war es, die erste Zentren schuf. Die Kranken und Armen, die Verfolgten und
Verfemten, sie waren die Zielgruppe dieser Gemeinschaften. Aus diesen Anfängen
im 13. Jahrhundert entstanden Weltstädte wie Paris, aber auch das Kleinod (und
nicht Kleinödnis) Reutlingen.
Der Spitalhof am Marktplatz (siehe Foto) gibt bis heute ein
stilles, aber keineswegs stummes Zeugnis dafür ab. Diese Gemeinden lebten von
Gemeinschaftlichkeit, der sich jedoch mit dem Streben nach Autonomie und
Reichsstadtherrlichkeit ein konkurrierendes Interesse der Bürger gegenüber
stellte. Besitz und dessen Wahrung wurden mehr und mehr zum Lebensimpuls einer
Stadt. Das mag man bedauern, aber Besitz und Selbstbestimmung ist nach wie vor
ein mächtiges Motiv - und findet sicherlich in der angestrebten Ausgliederung aus
der Gemeinschaft des Kreises seinen Ausdruck. Es ist dabei bezeichnend, dass es
wiederum ein Hospital, ein Krankenhaus, also das Klinikum am Steinenberg, ist,
das einen mächtigen Streitpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Stadt und
Kreis darstellt. (Wenn ich mich recht entsinne, ist es die mangelnde
Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entwicklung des Klinikums, die für die
Stadt ein Begründung für den Ausgliederungsantrag liefert.) Die Stadt
Reutlingen, der in Sachen Mildtätigkeit gleichsam bis in die
Flüchtlingsunterbringung hinein Land und Kreis vorgeschaltet sind, ist hier
ihrer Autonomie beraubt und damit ihres Ursprungs. Dass sie da auf Rechte pocht, ist ihr gutes
Recht - egal, wie man nun zur Ausgliederung steht.
Aber die Stadt wird sich im Gefolge einer Ausgliederung ihr
Selbstverständnis von Grund auf erneuern müssen. Es ist mehr als fraglich, ob
sie und vor allem ihre Bürger dazu bereit sind. Denn diese Stadt hat sich nach dem
Verlust ihrer Bedeutung als Reichsstadt vor allem durch Wohlstand und nicht
durch Wohlfahrt definiert. Dies ist das Ergebnis der Industrialisierung. "Im
XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten
auf die große Crisis zu: die moderne Cultur", erkannte der große Schweizer
Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und
Verkehr ausgerichtet sei. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch
der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen
Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz. Die
"moderne Cultur" hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit
Bildung, mit Erbauung. Jetzt siegt das Profane. Alles werde "zum bloßen
business", meint Burckhardt, "wie in America". Die Wirtschaft,
also die neue auf Konsum gerichtete millionenfach entfesselte Kultur, übernimmt
mehr und mehr den Staat. Und mit dieser Entwicklung rückt das Individuum in den
Vordergrund. Der Historiker Wilhelm Mommsen erinnert in seiner Schrift
"Größe und Versagen des deutschen Bürgertums", in der er die
Revolution von 1848/49 rekapituliert, daran, dass es damals in Deutschland noch
so gut wie keinen vierten Stand, also eine Arbeiterklasse, gab. Es war dann der
Konflikt zwischen den Besitzenden, an Vermögen und Bildung, und den Besitzlosen,
eben den Habenichtsen (zu denen Reutlingen jüngst feinstichelig von einem
Ausgliederungsgegengutachter zugeordnet wurde), die letztlich die Revolution
scheitern ließ. Die soziale Frage wurde ignoriert. Der Vierte Stand war Pöbel,
aber nicht Bürger. Bürgertum und Adel, die doch eigentlich Antipoden
darstellten, taten sich zusammen. Das änderte aber nichts daran, dass die Stadt
zu einer Massenveranstaltung wurde.
Urbanität ist das einzige, was das Besitzbürgertum mit
seinen Villen und imposanten Bauten, mit seinen Bildungstempeln und Museen,
zusammenbringt mit den "Habenichtsen", für die die Stadt vor allem
eine soziale Einrichtung ist - mit ihren Möglichkeiten der Arbeit und der Zerstreuung,
aber auch der Bewegung (Bahn, Bus. Auto), mit seinen Einrichtungen wie
Krankenhäusern, Sporthallen und Stadien, Parks und Einkaufsmeilen. Vielleicht
hat Reutlingen von letzterem zu viel, selbst die Stadthalle dient mehr der
Zerstreuung als der Bildung. Vielleicht ist dies sogar die Reaktion darauf,
dass sie ihres Ursprungs, der klösterlichen Mildtätigkeit, beraubt wurde. Vielleicht
ist all das, was uns geboten wird, nur eine Ersatzhandlung für den Verlust der
Autonomie. Vielleicht heißt Bildung zu sehr Ausbildung. Vielleicht ist Kultur
zu sehr Erwerb - mit dem Ergebnis, dass diejenigen, die tatsächlich kulturell
tätig sein wollen, kein Auskommen haben. Vielleicht muss man endlich über die Stadt
nicht technisch und planerisch, sondern emotional, künstlerisch und
gestalterisch reden - bis in uns selbst hinein.
Urbanität ist ein Thema, das in
uns selbst entwickelt werden muss.
Bildertanz-Quelle: RV
1 Kommentar:
Sehr schöner Aufsatz, Respekt.
C.F.
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