Freitag, 7. Februar 2025

Keine Kirche,

sondern den Festsaal der Universität Tübingen in der "Neuen Aula" in der Wilhelmstraße zeigt dieses Foto aus der Sammlung von Friedrich Fingerle. Wohl wegen der Orgelpfeifen im Hintergrund bezeichnete RV das Foto beim Einscannen als "Kirchenfoto". JR verbindet mit dem Bild viele Erinnerungen an tolle Konzerte in den 1960er Jahren - von der "Dutch Swing College Band" bis zum Meistergeiger Jehudi Menuhin traten damals weltklasse Musiker aller Genres auf. Oft gab es vom Veranstalter - JRs Musiklehrer Helmut Calgeér , der zugleich Dirigent des renomierten Studenteorchesters war - gratis Eintrittskarten kurz vor Beginn der Konzerte, wenn sie nicht ausverkauft waren oder aus sonst einem Grund Plätze frei blieben.
Bildertanz-Quelle:Sammlung  Friedrich Fingerle


Bei Konzerten war andersherum bestuhlt. Die Bühne war also unter der Orgel. JR saß oft in einer der "Logen", die links sichtbar sind. 
Anders als bei der neuen Halle in Reutlingen gab es - meiner Erinnerung nach - keine Diskussionen um die beste Akustik. Die Künstler zu erleben stand im Vordergrund.
Lang ist es her! Wie der Festsaal heute wohl aussieht?  

Bildertanz-Quelle:Jürgen Reich

Dienstag, 4. Februar 2025

Reutlingen: Der Krieg, die Zerstörung, der Wiederaufbau (1)


Ein Zeitdokument aus dem Jahre 1953: Auf dem mittleren Bild (links) kann man übrigens noch sehen, dass die Straßenbahn bis vor den Hauptbahnhof fuhr. Das hatte etwas Großstädtischeres an sich als heute. Gibt es dazu noch andere Fotos? (RV)
Bildertanz-Quelle: Geschichts- und Heimatverein Lichtenstein
(Erstmals im Bildertanz-Blog erschienen am 22. Januar 2011)

LESEPROBE
1050 Wohnungen zerstört
»Das war die Bilanz des totalen Krieges: 1050 Wohnungen in der Stadt Reutlingen zerstört, viele hundert schwer beschäfigt. Allein beim ersten Luftangriff wurden 6000 Bürger obdachlos. 16 Fabriken sanken in Schutt und Asche. Evakuierte und Vertriebene verstärkten die Wohnungsnot. Es gab kein Telefon, kein Wasser, kein Gas, keinen Strom. Trümmer bedeckten meterhoch die Straßen. Bomebentrichter reihte sich an Bombentrichter. Der Reutlinger Bahnhof war zerstört, die Brücken gesprengt. Die Verwaltung verfügte nur über zwei fahrbereite Lkw. Die notwendigen Lebensmittel konnten nicht herbeigeschafft werden; Reutlingen war von der Umwelt abgeschnitten. Maschinendemontagen, Wohnungsbeschlagnahmungen, Requisitionen am laufenden Band vergrößerten die Not der Bevlkerung. Hinzu kamen Plünderungen, Vergewaltigungen, Verhaftungen. Die Lebensmittelrationen wurden kleiner und kleiner, das Geld immer wertloser. Der 'schwarze Markt' blühte. In Scharen zogen die Reutlinger auf die Alb und zum Oberland, um sich wieder einmal satt essen zu können. Gab es überhaupt einen Ausweg aus der Not, konnte Reutlingen je wieder aufgebaut werden? Hoffnungslosigkeit hatte die Menschen erfasst, die Verzweiflung griff mehr und mehr um sich. Und doch war der Leistungswille den Reutlingern verblieben.«

4700 Wohnungen neu gebaut
»Bald nach dem Einmarsch der französischen Truppen begann in Reutlingen der Wiederaufbau. Im Mai 1945 lief die Enttrümmerungsaktion an, die Eisenbahnbrücken wurden instand gesetzt, die Reutlinger Spende mit einem Aufkommen von rund 3,5 Millionen RM ermöglichte die unentgeltliche Abgabe von Möbeln an 972 ausgebombte Familien. Die große Holzaktion Sigmaringen brachte der Bevölkerung 7500 fm Nutzholz und 1400 rm Brennholz. Die kanalisation wurde wieder hergerichtet, Straßen wurden gebaut, die Eisenbahnbrücken konnten wieder befahren werden. 125.000 ebm Schutt wurden vor der Währungsreform beseitigt. Die beschädigten Gebäude konnten wieder hergerichtet werden. Im Jahre 1948 wurde der Wohnungsbau intensiv in Angriff genommen. 186 Neubauwohnungen wurden in dem halben Jahr nach der Währungsreform erstellt. 1950 kamen 579 neue Wohnungen hinzu. Bis heute sind in Reutlingen 4700 Neubauwohnungen geschaffen worden. Aber noch immer fehlen mehr als 2000 Wohnungen, denn die Einwohnerzahl vergrößert sich ständig. Siet dem Jahre 1946 hat die Einwohznerzahl unserer Stadt um 38 Prozent zugenommen. 6400 neue Industroearbeitsplätze wurden geschaffen. Reutlingen blüht wieder!«
Anmerkung: Brillant getextet.

Erstveröffentlichung: 20. Oktober 2015

Sonntag, 2. Februar 2025

Der Brunnen vor dem Bahnhof: 2005



Bildertanz-Quelle:Tanja Wack

DIE STADTBAHN UND DAS ENDE DER GESELLSCHAFT

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

1982: »In der Gemeinschaft sind die Menschen ihrem Wesen nach verbunden, in der Gesellschaft aber wesentlich getrennt.«

Christian Graf von Krockow (1927-2002), deutscher Politikwissenschaftler[1]

 

Als sogar ein Finanzbürgermeister die Gesellschaft einer Straßenbahn suchte: Das war 2012, als der Bildertanz - eine Privatinitiative, keine Zweckgemeinschaft, dafür sorgte, dass die Straßenbahn wieder Teil unseres gesellschaftlichen Lebens wurde. Der Sänger ist Peter Rist.

So wie vor 50 Jahren das Ende der Reutlinger Straßenbahn unaufhaltsam war, so wird auch dessen milliardenschwere Wiederkehr als Stadtbahn durch nichts und niemanden verhindert werden können. Der Reutlinger Stadtrat hat so gestimmt, alle anderen Gremien werden folgen. Denn dahinter steht eine Gemeinschaft aus lauter Zweckgemeinschaften, die alle miteinander verbunden sind und allesamt von der öffentlichen Hand getragen werden. Ein Oligopol der Nachhaltigkeit und der Klimaneutralität, das allerdings in der Bürgergesellschaft nicht unumstritten ist. In Tübingen gab es deswegen sogar einen Bürgerentscheid. Am 26. September 2021, zusammen mit der Bundestagswahl wurde dort abgestimmt - mit negativem Ausgang. Die Gesellchaft aus Individuen stellte sich gegen die Gemeinschaft aus Institutionen. Und genau das ist es, was die Politik so beunruhigt.


Es geht um die Frage, ob eine Stadtbahn auch durch die Stadt fahren darf. Die Frage ist natürlich genauso absurd, wie die, ob eine Straßenbahn auch durch Straßen fahren darf. Und doch berühren beide Fragen ein zentrales Thema unserer Zeit – nämlich das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft.

„In einer Gemeinschaft tritt man füreinander ein, in einer Gesellschaft ist der einzelne daran interessiert, seinen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen“, legte sich vor bald 40 Jahren der Politologe Christian Graf von Krockow in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ jene Erkenntnisse zu recht, mit denen einer der Urväter der Soziologie, Ferdinand Tönnis (1855-1936), diese Wissenschaft bereits im späten 19. Jahrhundert begründet hatte. Tönnies war ein kluger Mensch, der seinen Doktortitel übrigens in Tübingen erlangt hatte. Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ wurde – mit einiger Verzögerung – ein Bestseller. Heute ist es vergessen.

Schaut man zurück auf die Geschichte der Bundesrepublik, dann sind die ersten vierzig Jahre geprägt durch die Emanzipation der Gesellschaft gegenüber der Gemeinschaft. Große Körperschaften dominierten zwar das Geschehen auf allen Feldern, auf der gesellschaftlichen Ebene vollzog sich allerdings das genaue Gegenteil. „Wohl kein Gemeinwesen ist so radikal und so ohne Vorbehalt ‚Gesellschaft‘ geworden wie das bundesdeutsche“, schrieb vor vier Jahrzehnten Krockow. Das war ein großes Thema, das sich individuell mit der 68er Revolte vollendete, institutionell erst sehr spät mit der Privatisierungswelle. Da waren wir bereits in den achtziger und neunziger Jahren. Der Gegentrend setzte ein.

In den Jahren vor der Jahrhundertwende konstituierte sich nicht zuletzt durch die Wiedervereinigung der Trend zurück zum Aufbau großer, übermächtiger Institutionen. Dahinter stand der neuerliche Siegeszug der Gemeinschaften. Deren Spätausläufer spüren wir jetzt – durch den notgetriebenen Wunsch, viele wirtschaftliche Aktivitäten wieder zurück in die öffentlichen Hände zu geben.

Geradezu beispielhaft sichtbar wird dies im Verkehrssektor. Dominierten nach dem Krieg noch lange Zeit Busse und Bahn, also der öffentliche Personennahverkehr, getragen von Zweckgemeinschaften, so war es spätestens seit den siebziger Jahren der Individualverkehr. Das Pulsieren einer Stadt definierte sich nicht mehr durch die Fußgängerströme zu den Haltestellen, sondern durch die Ampelsteuerungen in den Rushhours.

Wer die Geschichte der Bundesrepublik miterlebt hat, wird sich daran erinnern, wie man sich morgens auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule an der Haltestelle traf, sich im Bus, einer Gemeinschaftsleistung, zu einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft zusammenfand. Das war keine Fahrgemeinschaft, da kamen Menschen zusammen, ohne sich verabredet zu haben. Alles spontan. Nur der Fahrplan brachte die Menschen zusammen. Das Auto – überspitzt formuliert – zerstörte dann diese Gesellschaft. Jeder fuhr für sich allein, völlig isoliert voneinander, nach ureigenem Fahrplan, allenfalls noch durch Fahrgemeinschaften kärglich miteinander verbunden, getragen von wirtschaftlichen Überlegungen. Aus den täglichen Staus erwuchs weder eine Gemeinschaft noch eine Gesellschaft. Das Ergebnis sehen wir heute. Wir rudern zurück – und landen beim Fahrrad. Der Krieg aller gegen alle wird auf dem ‚Entzweirad‘ fortgesetzt. Nur die Verkehrsregeln halten uns zusammen.

Als die Stadt Reutlingen ihr neues Buskonzept endlich auf die Straße brachte, da schien es so zu sein, als könne sich nun mit der Ausweitung der Strecke und der Verkürzung der Zeittakte eine neue „Community“ bilden, sich durch den Fahrplan, die Haltestellen, die Verbindungslinien so etwas wie „eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung“, um Worte des Soziologen Tönnis zu benutzen. Doch die Pandemie durchbrach mit unglaublicher Brutalität diese sich noch im embryonalen Zustand befindliche Entwicklung. Tatsächlich hätte mit der Zweckgemeinschaft, die ja letzten Endes unser RSV darstellt, eine neue Gesellschaft entstehen können. Ich habe richtig gemerkt, wie ich mir alle möglichen Gedanken machte – von der Monatsfahrkarte bis hin zur Missionierung des neuen Konzeptes innerhalb meines Freundeskreises. Gedanken, die ich vorher nie hatte.

Nun sind wir trotz Impfpass und Mundschutzmaske mehr denn je voneinander isoliert. Und wenn es eine Form einer mystischen Stadt gibt, dann liefert es das Internet, vornehmlich natürlich die sozialen Medien. Sie gehören aber keiner Zweckgemeinschaft. Und mit der Tendenz zu Homeoffice mit all den Flexibilisierungen wird der Fahrplan nie mehr den Rhythmus einer Stadt, einer Gesellschaft bestimmen. Es gibt diese Gesellschaft nicht mehr. Das ändert auch das ganze Event-Marketing nicht mehr.

Wir werden – als Gesellschaft – ganz neu anfangen müssen. Was bleibt, ist momentan nur der Mainstream. Ob er die Stadtbahn nehmen wird, ist ungewiss. Denn die Zweckgemeinschaft plant ja noch. Sie plant sich selbst, nicht eine Gesellschaft, die entsteht zwischen Menschen.

P.S. Der ursprüngliche Text (etwas verändert) stand am 21. Juli 2021 im Netz.



[1] Die Zeit, 8. Oktober 1982, Christian Graf von Krockow „Gemeinschaft oder Gesellschaft?“

Bildertanz-Quelle:Horst Rehm/Martin Klais