Von Raimund Vollmer
Time-Titelbild August 1981
(Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich es mir als Journalist nicht verkneifen kann, ebenfalls meinen Senf zur Wahl 2016 in unserem Land dazuzugeben.)
Nachdem nun aus vollen Rohren auf allen öffentlich-rechtlichen
Sendern und solchen, die sich daran messen, über die Wahl der Wahl gesprochen
wurde, fragt man sich vor dem vor sich hin plapperndem Fernsehschirm: Und jetzt?
Was kommt jetzt?
Die Parteien beschäftigen sich wieder mit sich selbst -
etwas, das sie schon immer am besten konnten. Die Politiker taktieren und
traktieren. Sie nähern sich und distanzieren sich, lecken ihre Wunden oder
streuen Salz auf die der anderen. Sie genießen noch einmal das Rampenlicht,
bevor sie sich wieder hinter ihren Aktenberge verschanzen. Denn das Büroleben eines
Abgeordneten geht weiter. Die Arbeit, so wie sie die Beamten in Stadt und Land dickleibig
aufbereitet haben, ruft. Sie ruft vor allem dann, wenn man sie braucht, um sich hinter ihr zu verstecken.
Und die Wähler, also wir, wir sind wieder unter uns. Allein
mit unseren Ängsten. Allein mit unseren Forderungen und Wünschen. Allein mit
unseren Stammtischen. Allein mit unserer eigenen Meinung und mit unserer
Meinung über die Meinung der anderen. Wir wissen es vielleicht nicht besser,
aber wir meinen es besser.
So war es immer. Und so wird es auch immer sein. Trotzdem -
irgendetwas hat sich fundamental geändert mit dieser Wahl. Uns, den Wählern,
ist das sofort aufgefallen, nur den Politikern nicht. Auch den Journalisten
nicht, die so gefangen sind von der gemeinsamen Sache, die sie mit den
Politikern teilen, dass sie nicht merken, dass dieses Mal etwas ganz, ganz
anders läuft, etwas, was den Politikern und den Journalisten völlig fremd ist,
sie auch nicht verstehen werden, weil sie dazu uns zuerst einmal zuhören
müssten: Wir, die Wähler, haben uns vollkommen von den Politikern entfernt. Wir
sind inzwischen ein komplett unbekanntes Wesen. Eigentlich ist dies erstaunlich
angesichts der Vielzahl an Meinungsumfragen, mit denen wir ausgeforscht werden.
Wir sind doch vollkommen durchleuchtet. Jeder wusste oder ahnte, dass die
Grünen siegen werden, dass die AfD einen triumphalen Sie davontragen würde,
dass die SPD im Nilsmandsland untergehen würde. Selbst die Wiederauferstehung
der FDP kam nicht überraschend. Nein, es kam, wie es kommen musste. Weil alles
so klar war, entging und entgeht der Politik und der ihr nachtrottelnden
Mediengemeinde das eigentliche Ereignis.
Die Politiker der Ämter und der Würden haben nicht
verstanden, dass wir nicht sie gewählt haben, sondern uns selbst. "Wir
sind Kretschmann", rufen die einen und meinen über alle bürgerlichen
Parteigrenzen hinweg sich selbst in ihrem Anstand, in ihrer Glaubwürdigkeit, in
ihrer Authentizität. "Wir sind auch wer", sagen die anderen, die in
sich eine Alternative für Deutschland sehen und entsprechend ihr Kreuzchen gemacht
haben. Bei dieser Wahl hat sich die Mehrheit selbst gewählt.
"Alle Gewalt geht vom Volke aus", sagen die
Verfassungen. Und wem wir diese Gewalt anvertrauen, das bestimmen wir fortan
selbst - und nicht irgendwelche Parteiprogramme oder Koalitionsverhandlungen,
nicht irgendwelche Meinungsonkels, nicht die Sende-Medien, nicht diese ganzen
Künstlichkeiten aus Fakten, die doch nur Akten sind.
Wir wollen das Original. Und die Politiker sitzen dort - und
verstehen die Welt nicht mehr, die sie deshalb zu ignorieren suchen.
In Kretschmann - sagen die einen - sehen wir helle Magie,
jemand, der bereit ist, bis zur Selbstaufgabe für eine gute Sache, für das
Merkelsche Asylrecht zu kämpfen - und damit über die dunkelste Macht, über den
Opportunismus und Populismus, siegt. Wir sind Weltbürger sagen die, die mit
Kretschmann sich selbst gewählt haben. Sie setzen dort an, wohin sich die Menschen
deutscher Sprache bereits mit der Revolution von 1848 hinbewegen wollten, womit
sie möglicherweise damals den Nachbarländern weit voraus war.
»Wir lernen leichter durchs Leben wandeln,Der Reutlinger6 Abgeordnete Vischer war ein großer Bismarck-Kritiker
lernten wir nur uns selbst behandeln.«
Deren Scheitern brachte ein Deutschland hervor, das Grenzen zog und Krieg, also mit fürchterlichsten Konsequenzen. "Eine erfolgreiche Revolution hätte uns Bismarck erspart und wohl auch den Ersten Weltkrieg", meinte einmal der große deutsche Historiker Wolfgang Mommsen. Somit wäre auch Hitler vermieden worden. Alles Leid. Alle Vernichtung. Alle Barbarei.
Grenzen zu ziehen scheint nun das zu sein, was sich als
zweite Kraft in uns wieder zu regen beginnt. Aber sie äußert sich nicht darin,
dass neue Grenzen gezogen werden sollen, sondern dadurch dass die, die bestehen,
nicht nur erhalten bleiben, sondern auch gestärkt werden. Die Alternative für
Deutschland heißt letzten Endes "keine Veränderung", bedeutet Restrauration
bis in alle Ewigkeit. Seltsamerweise wird dabei die deutsche Sprache, die den
Weltbürgern vor 200 Jahren als Identifikation genügte, heute benutzt, um diese
Grenze zu markieren.
Die Angst vor Veränderung ist das beherrschende Element. Lange
bevor man hierzulande von "German Mut" sprach, das einem manchmal wie
das Pfeifen im Walde vorkam, hatte das amerikanische Nachrichtenmagazin
"Time" eine Titelgeschichte über Deutschland gebracht, die lautete
"Moment of Angst". Diese Titelgeschichte erschien 1981, also vor 35
Jahren. Sie drehte sich um den Nato-Doppelbeschluss. Würde eine Aufrüstung die
Grenze zum "Reich des Bösen" (Ronald Reagan), zum Ostblock, sichern oder
nicht? Irgendwie hat man das Gefühl, dass sich diese Frage momentan wieder
stellt - mit irgendwie umgekehrten Vorzeichen. Damals scheiterte der
Bundeskanzler - und setzte erst damit seine Überzeugung durch. Diese Fähigkeit
zur Selbstaufgabe ist etwas, was wirklich große Politiker auszeichnet. Das ist
es wohl auch, was Kretschmanns Wähler in ihm zu sehen glauben - und damit in
sich selbst. An den Stammtischen sind sie immer in der Minderheit.
Aber die Angst vor der Veränderung ist das andere Momentum,
das uns den Weg in die Zukunft weist. Was die Wähler, die in dem Beharren auf
dem, was war, die Alternative für Deutschland sehen, offenbar nicht erkennen,
ist: Die Angst vor der Veränderung ist bereits die Veränderung.
Diese Veränderung zeigt uns, dass das sozialdemokratische
Jahrhundert in gewisser Weise zu Ende ist. Die soziale Frage, die übrigens in
der Paulskirche eine untergeordnete Rolle spielte, ist nicht etwas, was die
Kretschmann-Wähler berührt, lässt sogar die Sozialdemokratie verkümmern. Das
interessiert die Weltbürger nicht, nachdem sie Ökologie und Ökonomie mehr und
mehr in Einklang sehen und beides ihnen ein gutes Leben und sicheres Einkommen
verheißt.
Die soziale Frage hat sich in die Alternative für Deutschland
verflüchtigt. Damals, im 19. Jahrhundert, taten sich Adel und Bürgertum
zusammen, um den Pöbel, den sie in dem Aufkommen des Vierten Standes sahen,
abzuwehren. Die Menschen, die den Weg nach der Alternative für Deutschland wählen,
machen mehr und mehr den Eindruck, als bildeten sie heute den Vierten Stand. Sie
haben Angst, die Verlierer zu sein. So wählten sie sich selbst - und machten
sich damit zu Siegern, die die anderen am liebsten ignorieren möchten und
reflexartig in ihre alten Machtspielchen verfallen: Wer koaliert mit wem unter
welchen Bedingungen und mit welchen Pöstchen.
Bleibt zu hoffen, dass nun Politik und Medien, die sich auf
unseren Bildschirmen zu einer alles
überlagernden Meinungshoheit vereint zu haben scheinen, nicht in denselben
Fehler verfallen wie dereinst Adel und Bürgertum. Sie verschanzten sich.
Keiner hat einen Grund, nun selbstgefällig zu sein.
Bildertanz-Quelle: Bildertanz-Archiv (Time)
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